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Stelmashenko Valeriia

Das Zuhause

 

   Der Herbst. Ich liebte immer dieser Zeit. Trotzdem der Himmel sehr grau ist, ohne einziges Loch in der Wolkendecke für das Sonnenlicht, und der Wind eiskalt weht, hat diese Jahreszeit etwas Heimisches. Auch wenn ich mich in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land befinde, gibt der Herbst mir das Gefühl in meiner Heimatstadt zu sein.

 

    Der Wind spielt mit meinen Haaren, macht noch mehr Chaos auf meinem Kopf. Zu meinen Füßen fallen Blätter der ganzen herbstlichen Farbpalette: sommerliches Hellgrün und saftiges Dunkelgrün, knalliges Gelb und fahles Orange, Blut- und Bordeauxrot. Ich will nicht auf sie treten, so schön sind sie. Warum ist mein Herz denn so betrübt?..

 

   Fast angekommen. Wie sehr ich meine Heimatstadt vermisst habe. Aus der Metro aussteigen, die Straße runtergehen, entlang der kleinen Läden und Bäckereien schlendern, eine Straße überqueren, dem Gebäude näher kommen. Hier ist das Haus. Das Haus, das ich einst „mein Zuhause“ genannt habe.

 

   Ich hole einen alten Schlüsselbund aus der linken Manteltasche — das ist die Gewohnheit, ihn dort und nirgendwo sonst zu haben. An einem längst kaputten Schlüsselbund hängt ein Wohnungsschlüssel und ein elektronischer Schlüssel für die Gegensprechanlage, nicht so wie am aktuellen Schlüsselbund: Schlüssel von der Wohnungstür, der Eingangspforte, dem Briefkasten, der Kellertür und andere, von denen ich nicht weiß, zu welchen Türen sie passen. Neben der Eingangstür ist die Zahl „8“ an die Wand gezeichnet, die Farbe ist ein wenig abgelöst und ausgebleicht von der Sonne. Die Gegensprechanlage piepst lange ehe die Tür sich öffnet.

 

   Ich habe Angst, den Aufzug zu betreten. Ich bin solche alte Aufzüge nicht mehr gewohnt: gnadenlos knarrend, mit rostigem Boden, als ob ich mit einen unvorsichtigen Schritt in den Schacht stürzen würde. Früher dachte ich, alles in unserem Haus sei ziemlich modern.

 

   Auf dem Flur vor dem Aufzug blinkt eine warme, orangefarbene Lampe. Von der Tür zum Balkon riecht es nach billigen Zigaretten eines Nachbarn und ein bisschen nach frischer Außenluft. Die Zahl „9“ an der Flurwand, die die Etage anzeigt, ist immer noch mattrot. Ich gehe durch den schmalen Korridor bis zum Ende. Als ich meinen Kopf nach rechts drehe, bleibt mein Blick an dem braunen lederähnlischem Schild an der Tür mit der Wohnungsnummer „372“ haften. Meine Augen beginnen schon unangenehm zu piksen.  

 

   Ich betrete die Wohnung und sofort kommt ein nostalgisches Gefühl auf. Nein, kein warmes Gefühl, wie wenn man ein Foto mit Freunden aus der Kindheit findet und sich an die alten Zeiten erinnert. Sondern ein kaltes und bitteres. Es scheint mir, als hätte ich hier nicht vor sechs Monaten oder einem Jahr gelebt, sondern in einem ganz anderen Leben. Alles ist so vertraut und doch so fremd.

 

   Ich gehe tiefer in die Wohnung, ohne meine Schuhe auszuziehen. Wozu auch, wenn schon eine fingerdicke Staubschicht auf dem Boden liegt? Ich stehe bewegungslos für einige Sekunden und überlege, in welches Zimmer ich gehen soll. Ins Wohnzimmer? Das ist gleichzeitig auch das Elternschlafzimmer. Da habe ich nichts zu suchen. In die Küche? Ich habe Angst, mir vorzustellen, was mit den Lebensmitteln passiert ist, die einmal im Kühlschrank gelassen wurden. Es ist nur seltsam, warum sich der Geruch nicht in der ganzen Wohnung verbreitet hat. Die Speisekammer und das zweite Zimmer sind auch nicht von besonderem Interesse - dort war ein Chaos, dort bleibt er. Es ist entschieden, ich gehe in mein Zimmer. Früher war das meins...

 

   Einmal drinnen, verstehe ich nicht, was los ist. Es scheint derselbe Büchergeruch zu sein, vielleicht etwas muffiger, alles scheint an seinem Platz zu sein: Links steht ein Tisch mit einem alten Stuhl auf Rädern, darüber ein Bett; Bücherregale und eine Kommode am Ende des Raumes; rechts ist ein Gitarrenverstärker, Kabel und ein leerer Gitarrenständer. Aber etwas hat sich hier verändert.

 

   Ich nehme ein paar Zettel vom Tisch. Unerledigte Hausaufgaben von der ehemaligen Schule. Ehemaliges Leben. Die deutschen Donald Duck Comics stehen noch neben der Wand. Ich habe mir damals vorgenommen, sie alle zu lesen. Etwas über dem Tisch, auf der Höhe des Bücherregals, hängt eine Girlande, in der die Batterien schon lange leer sind. Auf dem doppelseitigen Klebeband haftet verschiedener Müll: Notizen auf alten Zetteln — im Unterricht geschrieben statt neues Material zu studieren; Tasten von der Tastatur — das Geschenk eines Freundes von mir aus der Kunstschule; verlorener Kopfhörer — ein spontaner Fund auf dem Weg nach Hause; Schlüsselanhänger und Armbänder — Souvenirs von Konzerten. Für manche ist das wirklich Müll, für mich sind das Erinnerungen. Auf meinem Tisch liegen dutzende, wenn nicht hunderte solcher Dinge.

 

   Ich wende meinen Kopf und sehe die Blumen, die an Seilen zwischen den Schränken hängen: rote und gelbe Rosen; unbekannte weiße Blumen; Potpourri in allen Farben des Regenbogens… Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich jedes davon gesammelt und getrocknet habe. Darunter liegt ein altes Album. Darin ist eine Briefmarkensammlung. Nicht meine, aber ich habe es behalten und versprochen, mit neuen Exemplaren zu ergänzen. Noch tiefer befindet sich eine Kiste mit Münzen aus der Zeit der UdSSR, die ich vor langer Zeit auf dem Flohmarkt gekauft habe. Daneben ist ein Notizblock mit dem Deckel aus echten Laubblättern. Handarbeit. Auch nicht meins, aber für die Person, die mir das gegeben hat, hat dieses Notizbuch viel bedeutet. Ich habe geschworen, es zu bewahren.

 

   Für eine Sekunde schließe ich meine Augen. Jedes Detail in dieser kleinen Welt, meiner Welt, die nur in vier Wänden dieses Raumes existiert, erinnert mich an etwas aus der Vergangenheit. All diese Erinnerungen blitzen jetzt wie ein buntes Kaleidoskop vor meinen Augen. Hell und lebensvoll.

 

   Ich öffne meine Augen. Endlich verstehe ich, was falsch war, was mich gestört hat… Diese Welt, obwohl äußerlich ähnlich ist, ist nicht mehr dieselbe wie früher. Es ist dunkler. Es ist unter einer dicken Staubschicht begraben. Es ist tot, seit ich sie verlassen habe.

 

   Tränen laufen mir über die Wangen, obwohl ich mein Möglichstes mache um nicht zu weinen. Ich verstecke das Gesicht in meinen Händen. Ich verstehe, dass niemand jetzt hier ist um dieses Zeichen meiner Schwäche zu sehen, aber trotzdem verstecke ich es. Meine Beine halten mich nicht, ich lehne mich an die Wand und sinke langsam zu Boden. Der schwarze Mantel ist grau vom Schmutz geworden, aber das ist mir egal.

 

   Wie im Delirium beginne ich um Vergebung zu bitten. „Wen?“ — fragen Sie. Alle stillen Bewohner der Welt, die nicht mehr meine ist: Dem verwelkten Kaktus Voldemar auf der Fensterbank; den verlassenen Plüschtieren, die mich einst als ihren Freund bezeichnet haben; all denen, denen ich versprochen hatte zurückzukommen, aber mein Versprechen nicht gehalten habe.

 

   Wie konnte ich das nicht bemerken?.. Weil ich irgendwo versuchte, in einem fremden Land ein Zuhause zu finden, verblasste mein echtes Zuhause langsam, jedoch ohne die Hoffnung aufzugeben, dass ich wiederkomme und alles wie früher sein würde. Ich bin wiedergekommen, aber es ist schon zu spät. Mein Zuhause ist nicht mehr.

 

 

   Erläuterung zum Hintergrund des Textes (ist nicht Bestandteil des Textes): Anfang März 2022 konnte ich nach zwei Wochen Krieg aus meiner Heimatstadt Kyjiw fliehen. Die Geschichte handelt über meine alte Heimat, mein Zimmer in der Wohnung in Kyjiw. Es ist sehr persönlich für mich.

   Es war ein Aufsatz, den ich in der Internationalen Schule Lycée Michel Lucius geschrieben habe. Mein Deutschlehrer regte an, ich sollte diesen Text beim Prix Laurence einreichen.

         



Envoyé: 14:53 Sun, 22 January 2023 par: Stelmashenko Valeriia