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Loes Melanie

Der Bus

Ich habe nicht mehr viel Zeit. Der Bus wird bald kommen.

Und diese verdammte Metallbank mit ihren Noppen wird immer ungemütlicher. Menschenfreundliche Bauweise ist definitiv was anderes.

Ich beuge den Oberkörper nach vorne, stützte mich an meinen Knien ab, um meinen Rücken zu entlasten. Die Rückenlehne, eine schmucklose Querstrebe, hat mir lange genug ins Fleisch geschnitten.

Aber wenigstens das Bushäuschen ist hübsch. Durch die Glaswände kann ich den Regen sehen und bleibe trocken. Als wäre das Dach ein unsichtbarer Schutzschild. Und der Lichtkegel der nahen Laterne reicht bis zu meinen Füßen.

Ich folge der Straße mit den Augen nach links. Sie reicht schnurgerade in die Dunkelheit hinein. Keine Busscheinwerfer in Sicht. Und auch keine anderen Scheinwerfer. Um diese Zeit fahren keine Autos mehr. Ich muss den Weg jetzt allein beschreiten.  

Mein Blick wandert nach rechts. Das gleiche Bild. Ich bin mir unsicher, wohin die Straße hinter dem nebligen Regenschleier führt.

Eine Weile beobachte ich die auf dem schwarzen Asphalt aufschlagenden Tropfen. Ich fülle meine Lungen mit ihrem kalten Duft und lasse die Geräuschkulisse auf mich einprasseln. Das leise Plätschern lässt mich ruhiger werden. So ist das Warten eigentlich ganz schön.

Ich schließe die Augen und versuche, den Tag in meinen Gedanken Revue passieren zu lassen.

Daran, wie ich aufgewacht bin, kann ich mich nicht erinnern. Ich war einfach plötzlich da. Ich weiß noch, dass ich hingefallen bin, und jemand hat mir aufgeholfen. Ich weiß, dass ich nicht alleine war. Bei der Erinnerung daran wird mir warm in der Brust und das Gefühl der Geborgenheit nimmt das ganze Bushäuschen ein.

Vor dem Vormittag habe ich schreckliche Angst gehabt. Das sieht man mir auf den Fotos von damals auch deutlich an. Aber so schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte, ist es dann doch nicht gewesen.  Ganz im Gegenteil, alle waren nett zu mir und ich hatte eine Menge Spaß.

Erst am Mittag hat sich das geändert. Diese Zeit war wild und anstrengend, und ich habe gelernt, dass Menschen unbarmherzig, ja mitunter grausam sein konnten. Aber ich hatte immer meine Freunde hinter mir, auf die ich mich blind verlassen konnte und die mir das Gefühl gaben, unverwundbar zu sein. Mit ihrer Hilfe habe ich auch den Mittag überstanden.

Der Nachmittag war hart und monoton. Die Minuten verschwammen so stark ineinander, dass meine Erinnerungen zum großen Teil verblasst sind. Ich habe versucht, das Beste aus dem Nachmittag zu machen und nicht immer war alles furchtbar. Doch nach und nach sind meine Familie und alle meine Freunde verschwunden. Von da an hat sich der Nachmittag in die Länge gezogen wie ein Kaugummi. Ich weiß noch, dass es mir vorkam, als würde er niemals enden. Aber er hat geendet.

Am Abend habe ich mich zurückgelehnt und über verpasste Chancen und verlebte Träume nachgesinnt. Habe ich meinen Tag sinnvoll genutzt? Ich war viel mit mir selbst beschäftigt. Manchmal war ich einsam. Ich habe dabei zugesehen, wie mein Körper schwächer wurde. Wieder bin ich hingefallen, aber anders als am Morgen hat mir diesmal niemand aufgeholfen. Ich habe mich selbst mit letzter Kraft noch mal auf die Beine gehievt. Und einen Moment lang habe mich in Selbstmitleid gesuhlt, bis ich letztlich akzeptiert habe, dass auch der Abend sich dem Ende neigt.

Nun bin ich müde. Der Tag ist um.

Und jeden Moment wird der Bus kommen.


 




Envoyé: 13:45 Mon, 13 March 2023 par: Loes Melanie