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Wurzer Katharina

Großes Fragezeichen



Ich sitze in der Straßenbahn, wie immer alleine auf einem Platz, da ich lieber stehe als mich irgendwo dazuzusetzen. Meine Tasche steht auf dem Boden, ein Text liegt auf dem Schoß. Bildung und Migration, Indikatoren für den Bildungsstand, Indikatoren für Bildungsabbrüche, Quoten für nachgeholte Formalitäten.

Mit Textmarker und Kugelschreiber sollte ich für die nächste halbe Stunde gewappnet sein. Mitsamt der Rückfahrt vielleicht für die komplette Zusammenfassung des Textes. Drei Tage noch bis zur Abgabe einschließlich Reflexion.

Ich ziehe den Textmarker nach rechts, die Verschlusskappe fällt hinunter. Rollt leise auf den Boden, bis sie unter dem Sitz stehen bleibt. Ich bücke mich, um sie aufzuheben. Hier unten klebt schon wieder ein Kaugummi. Fast hätte ich in ihn hineingegriffen, ihn auf den Händen gehabt und mich mit einem Taschentuch plagen müssen. Wie das immer klebt. Aber warum es wohl so schwer ist, Kaugummis und anderen Müll wegzuwerfen? An ziemlich jeder Haltestelle steht ein Mülleimer.

Ich blicke aus dem Fenster, sehe ein Van der Bellen Wahlplakat und amüsiere mich kurz über die Platzierung. „Glauben wir an unsere Kraft“ ist da auf der einen Seite zu lesen, „Das Bierkracherl“ heißt es auf der anderen. Wohlgemerkt: Van der Bellen steht in einem Getreidefeld. Wie war das nochmal mit Hofer? „Unser Spitzenkandidat ist eine Flasche“ lautete die Innocent- Smoothie- Werbung. Aber was war der Wahlplakatspruch daneben? „Die Macht geht vom Volk aus“ kam erst später, vielleicht war es „Flagge zeigen“ oder „Deine Heimat braucht dich jetzt“. Schade, dass dieser Begriff so oft verwendet wird im Wahlkampf. Ich würde „Herkunft“ bevorzugen, aber mich fragen Politiker_innen bekanntlich nie.

„Österreich muss aufhören, Asylanten aufzunehmen. Wir können uns das nicht mehr leisten. Von den Folgekosten ganz abgesehen“, ein Fahrgast reißt mich aus meinen Gedanken. „Dass es reicht, sagen sogar schon Leute, die selber mal geflohen sind. Wir können nicht jedem ein Smartphone schenken und unsere Sicherheit aufgeben“, pflichtet ihr das Gegenüber bei. Jemand lacht, hinten wird applaudiert. Ich runzle die Stirn, betrachte die beiden näher und verstecke mein Gesicht dabei möglichst unauffällig hinter meinem Text. Eine Frau, ich schätze sie auf Mitte 40, braun gelocktes Haar, braune Augen, die andere vielleicht ein paar Jahre jünger. Ein blonder Zopf ruht in ihrem Nacken. „Nirgends kann man mehr hinreisen. Wir wollten heuer eigentlich an die belgische Küste“, beginnt die eine wieder.

Besser, ich lese in meinem Text. Besser, ich denke mir nichts hierzu und versuche, nicht weiter zu verzweifeln. An Gruppen, an salonfähigen Beschimpfungen, an abwertenden Ausdrücken, die als Eindrücke, gar als Fakten wiedergegeben werden. Ich kralle mir meinen Textmarker. „Zehn Prozent aller Schüler_innen mit Migrationshintergrund…“ Zehn Prozent von wie vielen? Ich blättere eine Seite retour.

Rumps. Ich blicke auf. Zwei Gäste halten sich sicherheitshalber an einem zweiten Griff fest, vorne schreit ein Kind. Die Mutter -  zumindest nehme ich an, dass sie das ist - versucht, es zu beruhigen. Der Erfolg eher mäßig, die Lautstärke erhöht. Der Straßenbahnfahrer flucht. Erst jetzt sehe ich, was passiert ist. Wir hätten beinahe eine Kollision mit einem Radfahrer gehabt, der über die Schienen fuhr. Er hebt die Hand zum Dank und fährt munter weiter.

Auch die Straßenbahn bewegt sich vorwärts, fünf Meter bis zur nächsten Haltestelle. Ich seufze. „Drop Outs setzen sich zu drei Prozent aus….“ Drop Outs der formalen Bildung sind mir persönlich ja wesentlich lieber als Drop Outs der Menschenrechte und Freiheit, wenn diese eben mal für Sicherheit aufgegeben werden soll.

„Eineinhalb Jahre nach ihrem Ausstieg beginnen…“ Das Kind schreit erneut, die Frauen diskutieren jetzt über notwendige Asylrechtsverschärfungen, in Zusammenhang mit dem IS, der schließlich eine gefährliche Religion darstelle. Ein Pärchen, das dazu gestiegen ist, kann sich nicht entscheiden, ob sie sich einen eigenen Maibaum zulegen sollen. Einen kleinen mit bunten Bändern. Vielleicht mit Fotos daran.

Ich kann mich so nicht konzentrieren. Hätte Kopfhörer mitnehmen sollen, „Gute Menschen“ von OK-Kid im Hintergrund, die Auffassung des Textes im Vordergrund. „Jedes Jahr…“ „Ihre Fahrkarten bitte“ Ein Security – Mitarbeiter ruft gleich mal durch das gesamte Verkehrsmittel. Fahrgäste fangen hektisch zu suchen an, ich lese seelenruhig die Zeile und danach auch den Absatz weiter, bis der Mitarbeiter vor mir steht. Wir halten, die Stadtwache gesellt sich dazu. Stumm krame ich meinen Ausweis aus der Tasche. Der Security-Typ geht weiter, der von der Stadtwache kontrolliert einen Hund und setzt sich dann nieder.

Mir ist der Hund noch nicht einmal aufgefallen. Ein wuscheliger, schwarzer Terrier, leiser als das Kind, mit dem sich die Mutter gerade auf den Weg ins Freie macht.

Eine Station noch. „Die Arbeiterkammer fordert in ihrem Bildungskompass….“ Aus welchem Jahr ist der? 2014, okay, den müsste ich noch verwenden dürfen. „Bis 2020 soll….“

Ich komme nicht mehr dazu, herauszufinden, was sich bis 2020 ändern soll. Ich schnappe meine Tasche vom Boden, falte die Blätter, stecke sie ein und stelle mich zur Tür. „Bildung zum Humanismus“ schreibe ich noch auf ein Blatt. Mit großem Fragezeichen versehen.
 




Envoyé: 14:56 Tue, 21 March 2017 par: Wurzer Katharina