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Wurzer Katharina

Endstation Erwartungen



„Man hört auf, an einen Menschen zu denken, sobald jemand Neues kommt“, meinte Mona, als wir gestern Abend in der Küche saßen. Das Geschirr vor uns, das Gemüsemoussaka am Rand des Tisches; dazwischen Linda, die nicht glauben wollte, dass Vergessen so einfach ist. Weil wir Stimmungen mitnehmen, an die uns Alltagsgegenstände wieder erinnern können; weil wir auf Erfahrungen aufbauen, auch auf denen, die gescheitert oder gar nicht erst zustande gekommen sind. „Aber hat das noch etwas mit dem Menschen selbst zu tun oder ist das eine Illusion, eine Traumfigur?“, erwiderte ich.

„Und was ist, wenn jemand gar nicht erst kommen muss, sondern schon da ist? Oder wenn man sich verliebt, obwohl man noch an jemand anderen denkt?“, würde ich heute ergänzen. Vielleicht sollte ich die Unterhaltung später erneut aufnehmen, fürs Fotoalbum, geknipst mit meiner silbern- grauen Digitalkamera, deren… „Kannst du dich noch an Simon erinnern, mit dem wir mal durch die Gegend gelaufen sind für seine Bilder?“, beginnt Emil schließlich, eine Erwartung in seinem Blick liegend, nachdem er mich ohnehin bereits aus meinen Gedanken gerissen hat. „Was ist mit ihm?“ – „Er hält nächste Woche einen Workshop zu Landschaftsfotografie“ – „Wie passend“ – „Schauen wir hin?“ – „Mal sehen. Hast du noch Kontakt zu ihm?“  - „Nein, nicht mehr“, Emil nimmt einen Schluck von seinem Tee und streckt seine Füße unter der Bank aus, während ich mir eine Strähne meines schulterlangen, blonden Haares aus dem Gesicht streiche. Spätestens als ich Emil gesagt hatte, dass er sich ganz wie zu Hause fühlen soll, schien alles zu einem Sofa zu werden. Der Teppichboden, die Küchentheke und eben auch jede tatsächliche Sitzgelegenheit. Emil hat etwas Beruhigendes und Gelassenes an sich, obwohl er dazu vorher Sport braucht.  Ob beim Rad fahren oder Gespräche führen, beim Blickkontakt oder unangenehme Dinge auf den Punkt bringen, wenn bei mir noch Fragezeichen bleiben – manchmal hätte ich gerne seine Ausdauer.

„Hast du gewusst, dass zu meiner neuen Wohnung alle fünf Minuten eine Bim fährt, die quasi vor der Tür hält?“ – Ich schüttle den Kopf und gieße Milch in meinen Kaffee, der langsam kalt wird, weil ich vergessen hatte, das Küchenfenster rechtzeitig zuzumachen. „Du musst mich unbedingt mal besuchen kommen. Außerdem müssen wir den Balkon einweihen…“ – „Was?“- „Wenn es wärmer wird, mit einem Kartenspiel und Rotwein oder so“ – „Mach‘ doch gleich eine Einweihungsparty“, mir gefällt Emils Blick nicht, der für meinen Geschmack zu lange auf mir ruht. Eine Mischung aus Verträumtheit, absoluter Fokussierung auf ein Objekt der Begierde, Sehnsucht, ein wenig Wehmut und geistigem Irrsinn. Damit fangen jedes Mal Probleme an. Wenn ich den Blick nicht erwidere, wird es kompliziert. Wenn ich dem Blick dieselbe Emotion entgegenbringe, erst recht. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiche Emils Gesichtsausdruck so gut wie möglich aus: „Hör‘ mal, du könntest auch Liane einladen und ich könnte Mona und Linda mitnehmen…“. Warum ist es nur so dermaßen schwer, über Gefühle zu sprechen, über diese unsichtbaren Einflüsse unseres Verhaltens? Die ungefragt da sind und sich nur zur Zwischenstation aufhalten, wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben, landen sie am Frachtenbahnhof, in einer Ecke abgestellt und vergessen, irgendwann einmal zu schnell vorbeigezogen, um ihre Bedeutung noch einreihen zu können. Gedachtes wird in Schubladen gepackt, Gefühltes bleibt auf der Strecke.

„Hör‘ mal“, beginne ich wieder und drehe an meinem Ohrring, dessen Silber langsam verblasst: „wie läuft der Umzug?“.  „Gut, nächste Woche sollte ich fertig sein. Es fehlen nur mehr die Küche und das Badezimmer“- „Die wichtigsten Dinge also“  - „Nein, die Toilette habe ich bereits“, Emil grinst und steckt mich kurz damit an. „Depp“, höre ich mich antworten, bevor ich mit „Hast du auch Hunger?“ anschließe und zum Kühlschrank gehe. Keine gute Überleitung. Aber was ist in dieser Situation schon angenehm? „Lass uns Freunde bleiben“. „Du wirst mich wieder vergessen. Soll ich dir bis dahin aus dem Weg gehen oder willst du mich noch sehen, alle zwei Monate vielleicht?“. Eine Phrase schlimmer als die andere, eine Glasscherbe spitzer als die darunter liegende. Wenn ich nicht aufpasse, schneide ich mich selbst an meinen Worten, an den gemeinsamen Spielkarten und dem Gras, das Mona und Linda manchmal rauchen.

„Ich kann dir ein Pilzrisotto anbieten oder einen Pizzastrudel. Muss allerdings beides erst gekocht werden“ – „Kein Problem. Ich helf‘ dir“, Emil steht auf, umarmt mich kurz und schnappt sich ein Schneidebrett und ein Messer. „Du kennst dich beinahe besser in meiner Küche aus als ich“, bemerke ich und hoffe zugleich, dass er in das gemeinsame Kochen nicht zu viel hineininterpretiert. Andernfalls muss ich das von der Liste gemeinsamer Aktivitäten streichen, genauso wie Filmabende, Schwimmen und alles, was sonst noch sexuell konnotiert sein könnte. Dabei ist die aufgeladene Bedeutung weniger das Problem, vielmehr sind es die Menschen, die alles umfunktionieren müssen und nichts ohne Erwartung sein lassen können. Schon wieder dieser Blick, der verzweifelt nach Anzeichen meinerseits sucht, diese unsichere Haltung, die er durch die ruhige Hand beim Zwiebel schneiden zu übertauchen versucht. Ich setze Wasser auf und mache mich ans Pilze putzen.

„Wie geht es Jan eigentlich? Schreibt ihr noch miteinander?“, will Emil plötzlich wissen, als er die Zwiebel ins Öl gibt und zum Gewürzschrank greift. „Er hat jetzt eine Freundin“ – „Das beantwortet meine Frage nicht“- „Ich höre kaum etwas von ihm, aber ich glaube, es geht ihm gut. Jedenfalls ist er mein Exfreund und wird es auch bleiben. Wenn Dinge nicht funktionieren, haben sie einen Grund“ – „Verstehe. Was war der Grund bei Jan oder bei euch?“ – „Habe ich das nie erzählt?“ – „Ich kann mich nicht erinnern“, Emil klingt ehrlich interessiert, während ich mir bereits wünsche, dass er diese Frage nicht gestellt hätte. Was sind wohl Gründe, dass Beziehungen scheitern und warum liegen sie bei jedem Beteiligten woanders? Weil die Kommunikation schief läuft, weil der eine noch Liebesbriefe mit der Hand schreibt, während der andere Sprachnachrichten auf Facebook verschickt? Weil Vorstellungen zu weit auseinanderklaffen und Kompromisse im Laufe der Zeit keine Lücken mehr füllen können? „Zu unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen. Ich will keine fixen Tage in der Woche, an denen man sich trifft, keine vorgefertigten Pläne für jedes Treffen und schon gar keine täglichen Gespräche über mein Befinden“ – „Da bist du nicht der Einzige“, Emil setzt seinen freundlich-aufmunternden Blick auf, als er uns Teller, Besteck und Gläser holt: „für besonders spontan habe ich Jan noch nie gehalten“. Ich stelle den Topf vom Herd und seufze: „Bitte keine weiteren Gespräche mehr über Exfreunde oder ihre neuen Partner. Erzähl‘ mir lieber etwas Lustiges“ – „Was willst du hören?“ – „Egal was, eine Anekdote aus der Redaktion, vom Sport….“. Emil überlegt, während er Essen auf seinen und meinen Teller lädt und ich die Wand vor mir anstarre, die in diesen Momenten genauso gut zwischen uns sein könnte. „Die Risse tragen dazu bei, dass ich mich hier zu Hause fühle“, widersprach Linda vor kurzem, als Mona feststellte, dass wir das richten sollten. Ich gab ihr Recht. Wenn ich nach einer langen Nacht in die Küche komme oder ein psychisch Kranker einen schlechten Tag hatte, geht es mir besser, sobald ich das zerbröckelnde Etwas vor mir sehe. Die Wand ist dann noch kaputter als ich es bin, kalt und rau, nicht mehr weiß und doch nicht richtig schmutzig.

„Mist und Mahlzeit“, murmelt mir nun Emil zu, der ein Pilzstück von seiner Hose fischt und sich wieder in den Mund steckt. „Typisch“, kommentiere ich und erinnere ihn an eine Anekdote, mir Wasser nachfüllend und zur Serviette greifend. „Ich wollte dir eigentlich etwas ganz Anderes sagen. Der Moment war nur nie günstig. Beim Karten spielen waren ja Liane und Moritz dabei“, beginnt Emil auf einmal, während ich sofort die Panik in mir hochsteigen spüre. Ausreden lassen oder doch lieber gleich stoppen? Keine Floskeln, keine Phrasen, kein Bemitleiden, kein Verkupplungsversuch. Was noch? Gegenfragen, ehrlich bleiben, keine falschen Hoffnungen wecken, die Hoffnung auf Liebe aber auch nicht gleich begraben. Irgendwann wird die richtige Person schon noch kommen. Aber woher weiß ich das eigentlich und wie überzeuge ich ihn, dass ich die falsche bin? Man hört auf, an einen Menschen zu denken, sobald jemand Neues kommt. Ist Vergessen tatsächlich so einfach und wie kann man am besten nachhelfen? Warum wird man zum wichtigsten Menschen im Leben von jemandem, ohne je sein Einverständnis gegeben zu haben, ohne Vorbereitungszeit zu bekommen und ohne das Ablaufdatum zu kennen?

„Jetzt haben wir ja Zeit. Meine Mitbewohnerinnen kommen frühestens in einer Stunde“, höre ich mich stammeln. Mein nachfolgendes „Worum geht es?“ klingt fast schon gefasst. Ich bemühe mich, Emil anzusehen und mir unsere gemeinsamen Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen. Vielleicht ist es einfacher, wenn sich Menschen in einen verlieben, die einem egal sind, die man kaum kennt und bei denen man sich fragt, ob sie überhaupt nicht wählerisch sind. Die am Ende nur eine Beziehung wollen, damit sie eben eine haben, weil der Zug bei der Erstwahl abgefahren ist. Oder schlimmer, nicht vom Fleck kommt und die von Fernweh Geplagten umsonst bei der Endstation warten.

„Vielleicht fange ich besser mit einer Frage an“, setzt Emil schließlich fort und sieht dabei nicht mehr nur nervös, sondern auch eine Spur fertig und traurig aus: „warst du schon mal in zwei Menschen gleichzeitig verliebt, Jonas?“

Man hört auf, an einen Menschen zu denken, sobald jemand Neues kommt. Wenn der bereits da ist, geht es vielleicht schneller oder man braucht weniger Alkohol. Der uns jetzt beiden gut tun würde, beschließe ich, bevor meine Nerven aufs Abstellgleis geraten.
 




Envoyé: 14:48 Tue, 21 March 2017 par: Wurzer Katharina