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Spedener Florence

Rescue from those eyes



Rescue from those eyes
Es gibt sie überall,
diese widerlichen Augen,
sie lassen nicht von dir ab,
und verfolgen dich.

Das Rattern des Zuges hatte sie fast völlig eingelullt. Ihr Kopf ruhte an der kühlen Fensterscheibe und ihre Augen schlossen sich immer wieder für eine Millisekunde. In ihren Händen hielt sie ihr Handy und ihre Lippen sangen stumm das Lied, das sie durch ihre Kopfhörer hörte, mit. Es war noch früh am Morgen, doch die Sonne war schon aufgegangen und es versprach ein warmer Sommertag zu werden. Dementsprechend hatte sie sich wieder für ihre heißgeliebte Hotpants und ein weißes Top entschieden. Über ihren Schultern trug sie noch eine kurze braune Jacke und vielleicht lag es an ihrer Garderobe, dass sie für viele ein Blickfang war. Im Grunde ließ sie sich durch nichts stören und hatte auch kein großes Problem jemandem die Meinung zu geigen. Sie verließ sich öfters auf ihr Piercing, einen Ring über ihrem Mundwinkel, um andere einzuschüchtern. Früher hatte es oft geklappt aber mittlerweile waren Tattoos und Piercings fast so häufig wie gefälschte Pradataschen. Das sollte schon etwas heißen.

Aber zurück zum eigentlichen Problem. Dieses saß etwas entfernt von ihr und starrte sie ohne Unterlass ungeniert an. Anfangs hatte sie es einfach ignoriert, immerhin war das nicht das erste Mal, dass jemand sie pausenlos ansah, als würde sie es nicht merken. Sie war es nicht anders gewohnt. Sie öffnete ihre Augen ein weiteres Mal und ihre Vermutung bestätigte sich. Er sah sie immer noch an. Sie knurrte leise einige Verwünschungen und schloss die Augen wieder um sich auf ihre Musik zu konzentrieren und den Gaffer damit auszublenden. Ihr altbewährtes Heilmittel.

Minuten verstrichen und sie spürte, wie die Wut langsam in ihrem Körper hochkroch und auszubrechen drohte. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie ihr Handy fester umfasste und ihre Augen versuchten sich auf die Landschaft, an der sie vorbeirasten, zu konzentrieren, nur um diesen widerlichen Augen zu entgehen. Sie hätte sich auch sofort auf einen anderen Platz gesetzt, doch der Zug war wie jeden Morgen gerammelt voll und nur durch viel Glück, oder vielleicht auch ihrer Drohung wegen hatte sie einen Platz erwischt. Ihr gegenüber saß eine ältere Dame, die in ein Kreuzworträtsel vertieft war und noch nicht einmal hochgesehen hatte. Sie hatte schon überlegt die Lady einfach zu fragen den Platz zu tauschen, doch das Hörgerät, das sie in der grauen Dauerwelle entdecken konnte, hielt sie davon ab, schließlich hatte der Schaffner selbst Probleme gehabt auf sich aufmerksam zu machen. Damit hatte er sich mehr als nur lächerlich gemacht und obwohl sie keine Probleme hatte aufzufallen, so wollte sie nicht zum Gesprächsthema Nummer eins im Zug werden. Immerhin würde sie diese Zugstrecke noch öfters nehmen.

Es gab noch eine andere Lösung. Sie könnte aufstehen und auf die Toilette gehen und dort einfach warten, bis sie an ihrer Haltestelle ankamen. Obwohl ihr dieser Plan nicht schmeckte, da er beinhaltete ihren Platz aufzugeben, wollte sie nicht länger im Blickfeld dieses Gaffers sitzen. Sie hob ihren Kopf und hätte fast laut aufgeschrien. Gerade war ein Mädchen, das kaum 15 Jahre alt sein konnte, zur Zugtoilette gegangen. Was daran so schlimm war? Sie hatte ein Täschchen gesehen und nicht irgendeins! Es war pink, hatte Glitzerpailletten und schrie förmlich nach dem Wort: Schminktäschchen! Sie würde sicher mehr als eine Stunde mit Anpinseln verschwenden, sie kannte solche Mädchen. Noch bevor sie das Mädchen aufhalten konnte, hatte dieses die Tür schon geschlossen. Die Toilette war damit wohl keine Option mehr.

Ihre Augen waren geweitet, ihr Mund stand offen und ihre Hand war leicht ausgestreckt, als könnte sie damit das Mädchen wieder aus ihrem ausgesuchten Versteck ziehen. Doch wie erwartet erreichte sie nichts, außer einen irritierten Blick von der alten Frau und ein fast zufriedenes Lächeln des Gaffers. Hatte sich denn wirklich alles gegen sie verschworen? Wie auf Befehl ertönte die Ansage und sie spürte wie ihr Herz binnen Sekunden in die Hose rutschte.

DING DING DING. Wir werden einige Minuten länger in .. verbleiben um einen technischen Defekt zu beheben. Wir bitten um Ihr Verständnis.“

Augenblicklich schloss die Alte ihr Kreuzworträtsel und innerlich fragte sie sich, ob die Lady den Schaffner vorhin nicht einfach hatte blamieren wollen. Sie hatte immerhin die Durchsage gehört oder? Ein genervtes Raunen ging durch die Reihen der Passagiere und sie konnte es ihnen noch nicht einmal verübeln. Sie selbst würde zu spät zu ihrem Kochkurs erscheinen. Was sie in einem Kochkurs wollte? Nach jahrelangem Betteln, Drohen und Schleimen hatte sie es erreicht, dass die Betreuer des Waisenheims sie auf eine Fortbildung schickten um ihrem Traum ein eigenes Restaurant zu eröffnen ein Stück näher zu kommen. Eben diese Fortbildung würde sie wohl heute um eine Stunde verpassen und sie konnte sich jetzt schon die Auseinandersetzungen mit den Betreuern vorstellen. Sie seufzte tief und wurde von einer weiteren Durchsage, die den nächsten Bahnhof ausrief, aus ihrer Gedankenwelt gerissen.

Wie auf Befehl kam auf einmal Leben in die Leute und es drückten sich einige durch die Menge um auszusteigen. Der Zug hielt noch nicht, als sie sah, wie der Gaffer sich auch regte.

Gott sei Dank. Das Ekel steigt sicher aus um den Schnellzug zu nehmen.

Sich erleichtert durch das braune Haar streichend, beobachtete sie die alte Dame, die ebenfalls aufgestanden war und sich bereit machte mit dem Strom aus dem Zug zu steigen. Die Lady schenkte ihr ein freundliches Lächeln, wobei sie ihre wenigen Zähne zeigte, doch sie wusste, dass es nur eine freundliche Geste war, woraufhin sie das Lächeln erwiderte. Sie konnte ja nicht ahnen, wie glücklich sie war, endlich ihren Platz zu bekommen. Aber es war im Grunde ja unnötig, immerhin wollte das Ekel ja auch hier aussteigen, doch so würde sie sich wohler fühlen.

Ein Ruck ging durch den Zug und die Türen öffneten sich mit einem Quietschen. Langsam stiegen die Leute aus und machten Platz für die wenigen Menschen, die noch einsteigen wollten. Sie folgte der Menschenmasse mit ihren blauen Augen und kaute zufrieden auf ihrem Kaugummi herum. Endlich Ruhe. Noch dazu musste sie noch nicht einmal den Platz wechseln und konnte endlich noch etwas schlafen.

Sie war im Begriff ihre Augen zu schließen, als schwere Schritte sie aus ihren Gedanken rissen. Dabei war sie fast in die wohltuende Traumwelt abgedriftet. Missmutig hob sie den Kopf, der immer noch an der Fensterscheibe lag und sah sich müde nach dem Grund für den Lärm um. Fast hätte sie laut geschrien. Entgegen ihrer Erwartungen und Hoffnungen war das Ekelpaket nicht ausgestiegen, sondern war nur aufgestanden um das zu tun, wovor sie sich am meisten fürchtete. Er kam auf sie zu!

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie umschloss ihre Jacke enger, als wäre es ihr Schutzschild gegen den Mann, der immer noch auf sie zukam und sie nicht aus den Augen ließ. Die Wut, die sie jetzt so gut gebrauchen könnte, war nirgends mehr zu finden und hatte aufsteigender Panik Platz gemacht. Sie drückte sich tiefer in den Sitz, wenn das überhaupt noch möglich war und obwohl ihr Hirn sie anschrie, sie solle die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen, war ihr, als hätte jegliches Gefühl ihre Beine verlassen und diese würden auch sofort bei der kleinsten Bewegung wegknicken.

Ihr Handy fester umfassend suchte sie hektisch nach einem Ausweg aus dem Albtraum, doch es war kein Platz mehr frei, außer dem ihr gegenüber. Die Toilette war immer noch besetzt und sie hoffte für das Mädchen, dass sie es nie wieder sehen würde. Ansonsten würde sie nie wieder Make-up benutzen wollen, dafür würde sie eigenhändig sorgen. Für einen Moment dachte sie sogar darüber nach einfach auszusteigen, doch sie durfte nicht noch später kommen, immerhin war es ihre einzige Chance. Die Betreuer würden ihr nicht noch einmal so einen Gefallen tun.

Der Mann war fast an ihrem Sitz angekommen und sie hielt den Atem an. Das üble Gefühl von Angst hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Die Musik in ihren Ohren war nebensächlich geworden so wie die Tatsache, dass ihr Handy wohl bald in alle Einzelteile zerspringen würde, wenn sie es nicht gleich loslassen würde. Obwohl sie keine Scheu hatte jemanden anzuschreien, so klebte ihr jetzt die Zunge am Gaumen und sie war somit unfähig den Mann davon abzuhalten näher zu kommen. Er würde sich ihr gegenüber setzen.

Ein mechanischer Gong ertönte. Das Zeichen, dass die Türen sich schließen würden. Nur noch ein Meter trennte ihn von ihr. Sie biss sich nervös auf ihre Unterlippe und blickte kurz wie ein gehetztes Tier zur Tür, als wäre es der einzige Weg aus ihrem Käfig, der sich immer enger um sie schloss und ihr die Luft zum Atmen nahm.

Der Mann stand jetzt vor ihr. Sie wagte es nicht ihm in die Augen gesehen. Sein dicker Finger deutete auf den Sitz ihr gegenüber und sie spürte, wie ihr Herz kurz aussetzte, als er sie ansprach.

„Ist dieser Platz noch frei?“

Sie konnte sich sein dreckiges Grinsen schon vorstellen und kurz war ihr, als wolle ihr Sandwich von heute Morgen aus ihrem Magen flüchten. Die Mischung aus billigem Eau-de-Toilette und Schweiß, die ihr entgegenwehte, half da auch nicht wirklich. Nur mit viel Selbstbeherrschung hielt sie sich davon ab, ihren Mageninhalt auf den Boden zu entleeren. Sie konnte nichts sagen. Ihr Gehirn schrie, sie solle „Nein“ sagen, doch nichts weiter als ein Krächzen entfloh ihren Lippen. Er nahm es als ein „Ja“ und wollte sich gerade setzen, als jemand in letzter Sekunde durch die sich schließenden Zugtüren sprang und sich schwer atmend auf dem Platz vor ihr niederließ.

Es war vollkommen still und nur das hektische Atmen des jungen Mannes durchbrach die angespannte Stille. Ein Ruck ging durch den Zug und das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung. Das Ekel hatte immer noch nichts gesagt, doch das sollte sich ändern. Er wollte nicht aufgeben und wieder bleib ihr nichts anderes übrig als die Luft anzuhalten.

„Hey, das ist mein Platz.“

Die Tatsache, dass es nicht sein Platz war und sie lieber hätte, der Zug würde ungefähr zehn Mal über ihn fahren, ließ ihr Blut hochkochen. Doch sie war immer noch nicht im Stande etwas zu sagen. Die Angst, der Fremde vor ihr würde einfach aufstehen und gehen, machte sie unfähig.

Bitte bleib einfach sitzen!

Der junge Mann hatte sich inzwischen wieder beruhigt und drehte sich vollkommen ruhig zu dem Gaffer um. Ein breites Grinsen, das in keiner Weise freundlich war, lag auf seinen Lippen, als er einfach nur seine Hand hob und ihm seinen Mittelfinger zeigte.

„Verschwinden Sie und suchen Sie sich einen anderen Platz. Und bevor Sie noch einmal den Mund aufmachen, sollte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass ich wenigstens fünf verschiedene Möglichkeiten kenne, wie man jemanden krankhausreif macht und ich die alle legal gelernt habe.“

Seine Stimme war ruhig und der tiefe Bass untermalte seine Worte. Als Beweis hob er ein Buch mit der Aufschrift: „Chirurgie für Dummies“ und sie hätte sicher darüber gelacht, wäre die Situation eine andere gewesen. Das Ekelpaket wollte nichtsdestotrotz etwas sagen, wurde jedoch vom kommenden Schaffner gebeten sich einen Platz zu suchen und die anderen Passagiere nicht zu belästigen. So trat er notgedrungen den Rücktritt zu seinem anfänglichen Platz an. Sehr zu ihrem Leidwesen, denn er würde sicher weiter mit seinem Blick an ihr kleben.

Ihren Kopf leicht schüttelnd, rückte sie sich ihre grüne Mütze wieder zurecht und versuchte ihre Augen zu schließen um den Mann endlich auszublenden. Doch wem wollte sie schon etwas vormachen?! Der Gaffer hatte sie immer noch im Visier und sie spürte, wie seine Augen sie musterten, als wäre sie ein neues Ausstellungsstück. Angewidert knurrte sie einige Verwünschungen und drehte ihre Musik lauter auf und sei es nur um ihre Wut damit etwas zu besänftigen. Natürlich war dem nicht so. Als sie einen Blick auf die Uhrzeit auf ihrem Handy warf, wusste sie, dass das Schicksal sie hassen musste. Sie musste noch eine halbe Stunde im Blickfeld dieses Ekels ausharren!

Verdammt, wieso muss dieser bescheuerte Kurs auch am Arsch der Welt stattfinden!

Sie spürte, wie sie so langsam mit ihren Nerven am Ende war und sie nicht übel Lust hatte einfach aus dem Zug zu springen, Hauptsache weit weg von diesen widerlichen Augen, da spürte sie, wie man ihr einen Ohrstöpsel aus dem Ohr zog. Erschrocken wollte sie schon um sich schlagen, hielt jedoch inne, als der junge Mann beschwichtigend beide Hände hob.

„Ganz ruhig.“

Doch sie wollte sich nicht beruhigen! Was fiel dem Idioten ein ihren Ohrstöpsel rauszuziehen? Ihre Frage artikulierte sie auch sofort, natürlich nicht ohne noch das ein oder andere Fluchwort anzuhängen.

„Verdammt noch mal, geht’s noch? Fass gefälligst nicht meine Sachen an, du Freak!“

Er wirkte wenig beleidigt durch ihre Worte und eigentlich hatte sie nicht die Absicht gehabt ihn anzuschreien, doch sie war gerade nervlich ein Wrack und er war nun einmal zur falschen Zeit am falschen Ort. Vielleicht verhielt er sich auch nur ruhig, weil sie mit ihrer Bezeichnung „Freak“ nicht allzu falsch lag. Kurz musterten ihre blauen Augen ihr Gegenüber.

Er hatte kurzes strubbeliges schwarzes Haar und Koteletten, einen schwarzen kleinen Kinnbart und an seinem linken Ohr hing ein silberner Ohrring. Seine grauen Augen musterten sie ebenfalls, doch es war anders als der Blick des Gaffers. Er war ungefähr in ihrem Alter, wenn nicht noch etwas älter. Auf seinem Kopf trug er ein Baseballkap. Seine Kleidung bestand aus einem gelben T-Shirt und einer einfachen kurzen Jeans, die über den Knien endete. Somit konnte sie auch seine Tattoos klar und deutlich sehen. Auf seinem rechten Oberarm hatte er einen Drachen tätowiert. Doch das schrägste Tattoo waren die einzelnen Buchstaben auf seinen Fingern. T-R-U-S-T. Das englische Wort für Vertrauen. Sie hätte gerne gefragt, wieso er sich diese Tattoos hatte stechen lassen, doch sie wusste nicht, wie sie fragen sollte.  Dazu kam, dass das Ekel sie immer noch ansah. Fast wäre sie wieder in ihren dunklen Gedanken versunken, hätte er sie nicht mit einem Schnippen zurück in die Realität befördert.

„Lass uns die Plätze tauschen.“

Hatte sie sich gerade verhört? Verwirrt nahm sie nun auch den anderen Kopfhörer aus dem Ohr um sich Klarheit zu verschaffen.

„Was?“

Er seufzte, als wäre er von ihrer Frage genervt, wiederholte seinen Vorschlag aber ein weiteres Mal.

„Ich sagte: Lass uns die Plätze tauschen. Ich sitze nicht gerne mit dem Rücken zur Fahrrichtung.“

Hatte man sie etwa da oben erhört? Kurz wollte sie fragen warum, doch wieso sollte sie so eine Entscheidung auch noch in Frage stellen? Sie nickte immer noch leicht überfordert und setzte sich schnell auf seinen Platz. Endlich Ruhe… Binnen Sekunden entspannten sich ihre Muskeln und sie steckte ihr Handy, das fast den Löffel abgegeben hatte, in ihre Tasche, doch nicht ohne die Kopfhörer von dem Mobiltelefon zu trennen und sicher zu verstauen. Der junge Mann hatte sich wieder seinem Buch zugewandt, doch sie sah, wie er über den Buchrand in die Richtung blickte, in der das Ekel saß.

Ihr Kopf ruhte wieder am Fenster und sie spürte, wie der ganze Stress von ihren Schultern fiel und sie endlich wieder atmen ließ. Sie seufzte erleichtert und folgte müde den vorbeiziehenden Landschaften, als ihr Retter wieder etwas sagte.

„Der Alte hat dich dauernd angestarrt, oder?“

Wieso interessierte es ihn? Es ging ihn nichts an, doch nachdem er ihr bereits geholfen hatte, wollte sie nicht unfreundlich erscheinen. Dabei ignorierte sie einfach die Tatsache, dass sie ihn noch vor 5 Minuten Freak geschimpft hatte. Sie nickte auf seine Frage hin.

„Seit ich in den Zug gestiegen bin.“

Kurz war es wieder still und obwohl das Thema nicht wirklich eine Basis für ein nettes Gespräch war, war es ihr egal. Ihn aus dem Augenwinkel musternd, fiel ihr auf, dass er das Buch auf dem Schoß liegen hatte und ebenfalls aus dem Fenster sah. Wartete er etwa auf etwas oder dachte er gerade einfach über etwas nach? Sie wusste es nicht und ohne groß nachzudenken sagte sie einfach das, was ihr auf der Zunge brannte.

„Danke.“

Überrascht sah er sie an und nickte dann mit einem freundlichen Lächeln.

„Keine Ursache.“

Wieder trat eine Stille ein, doch diese war keineswegs unangenehm. Sie beobachtete ihn, während er wieder in seinem Buch las und hin und wieder etwas auf seinen Notizblock kritzelte. Das Rattern des Zuges, das Summen der Menschen, die leise miteinander sprachen und das Kritzeln seines Bleistifts lullten sie allmählich ein und schließlich driftete sie in die wohltuende Traumwelt ab, nach der sie sich den ganzen Morgen so gesehnt hatte. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, was ihrem Gegenüber ein leichtes Kopfschütteln und ein Grinsen entlockte.

Der Frieden wurde durch ein lautes Klingeln durchbrochen. Heute lief nicht alles wie geplant. Seufzend strich sie sich durch das lange Haar und rieb sich die Augen um den Schlaf zu verbannen, der sie immer noch nicht gehen lassen wollte. Der Mann, der ihr vor wenigen Minuten noch den letzten Nerv geraubt hatte, war vergessen und sie fühlte sich großartig. Mal davon abgesehen, dass ihr Gegenüber leicht genervt aussah und sie sich nicht sicher war, ob es an ihrem Wecker oder an ihrem lauten Gähnen lag. Sich verlegen am Hinterkopf kratzend legte sie ihren Kopf leicht schief und lächelte entschuldigend.

„Sorry, ich hatte meinen Wecker total vergessen.“

Er schüttelte nur seufzend den Kopf und packte seine Sachen in seine Tasche. Kurz fragte sie sich, ob er von ihr jetzt so genervt war, dass er gehen würde und sie mit Sicherheit wieder mit dem Ekel konfrontiert werden würde. Doch er unterbrach ihre Gedanken mit einer einzigen Handbewegung.

„Reg dich wieder ab. Ich geh schon nicht.“

Er sagte es weder in einem gehässigen noch in einem spöttischen Ton, sondern vollkommen ruhig und gelassen, als wäre es das Normalste der Welt. Obwohl sie ihm dankbar war, war sie wenig angetan von dem Gedanken, dass er ihr Beschützer und sie von ihm abhängig war. Sie wollte gerade eben diesen störenden Gedanken artikulieren, als man durch die Durchsage ihre Haltestelle durchgab. Erschrocken zog sie ihre Kleidung zurecht, begutachtete ihre Erscheinung noch einmal in dem Fensterglas, als eine durchaus berechtigte Frage in ihrem Hirn für Aufregung sorgte. Sie würde den Zug noch für eine ganze Woche nehmen, würde der Gaffer morgen wieder da sein?

Sie war bei dem Gedanken unmerklich zusammengezuckt und schüttelte leicht den Kopf über ihre plötzliche Angst, die sie nun gar nicht von sich selbst kannte. Sie verhakte ihre Finger ineinander und legte sie in ihren Schoß. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass sie in wenigen Sekunden an dem Bahnhof ankommen würden, an dem sie aussteigen musste.
In ihren Kopf rasten alle möglichen Ideen und Pläne durcheinander, als wieder jemand vor ihrem Gesicht schnippte und sie somit auf den Boden der Realität brachte. Doch er schwieg dieses Mal und musterte sie einfach nur stumm, als würde er in ihrem Gesicht lesen, was sie so bedrückte. Wie sollte er?

„Ich bin morgen etwas früher da und werde vermutlich schon im Zug sitzen, wenn du kommst. Sehen wir uns dann auf diesem Platz?“

Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Mit großen Augen starrte sie den Schwarzhaarigen an, der so langsam die Geduld zu verlieren schien. Sich räuspernd nickte sie und nahm immer noch etwas verdutzt ihre Sachen, um sich den Leuten, die aufgestanden waren, anzuschließen. Sie wollte gerade einen Blick auf den Gaffer werfen, da blockierte ein Zettel ihre Sicht.

„Ruf mich an.“

Kurz musterte sie das Stück Papier auf dem eine Nummer und in undeutlichen Buchstaben: Senad standen. Sie wollte gerade noch etwas sagen, ihm danken, sich für ihr Benehmen entschuldigen oder ihm wenigstens ihren Namen nennen, da öffneten sich die Türen und sie wurde vom Menschenstrom mitgerissen. Das Einzige was sie tun konnte, war ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Sie hätte schwören können, dass er es erwidert hatte.

Bis morgen Senad.
Joy

There is no end in sight
Wie in diesen Märchen,
Ich träumte von dem Ritter in der schwarzen Rüstung,
doch der Gegner war nicht wie erwartet ein feuerspuckender Drache,
sondern ein alter König.

Laute Musik dröhnte in ihren Ohren und sie wippte im Takt ihren Kopf, als sie mit ruhigen Schritten zum Bahnhof ging. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch genügend Zeit hatte um ihren Zug zu erwischen. Sie seufzte tief, als sie an ihren bereits miesen Morgen zurückdachte. Sie war am vorigen Tag eine halbe Stunde zu spät gekommen und nur ein Anruf bei der Bahn hatte ihr Alibi bestätigt. Die Erzieher hatten sie nichtsdestotrotz ermahnt und eine Verwarnung nach der anderen runtergerattert, als hätten sie diese bereits einstudiert. Aber zurück zu den frühen Stunden an diesem Morgen. Sie hatte wegen des Gaffers schlecht geschlafen und selbst eine warme Milch mit Honig hatte da nicht geholfen. Dann hatte sie auch noch im Bad die Zeit vergessen, weswegen sie auch noch nicht gefrühstückt hatte.

Mein Glück in allen Ehren. Dabei sollte heute doch ein besserer Tag als gestern werden, aber nix da…

Sie wollte nicht weiter über die möglicherweise noch kommenden Reinfälle nachdenken, denn das Bild des alten Gaffers war kurz vor ihrem inneren Auge aufgeblitzt. Den Gedanken schnell verwerfend, versuchte sie sich mit etwas anderem abzulenken. Ihren Blick auf ihr Handy gerichtet suchte sie nach seiner Nummer. Wen sie meinte? Das war nicht wirklich schwer zu erraten. Sie meinte den jungen Mann, der ihr gestern die Haut gerettet und ihr angeboten hatte wieder mit ihr mitzufahren. Nach scheinbar endlosem Scrollen in ihrer Kontaktliste fand sie endlich den gesuchten Namen.

Senad

Wenn sie so darüber nachdachte, war es ein recht seltsamer Name. Doch sie musste das gerade noch sagen, immerhin klang Joy auch nicht besser. Kurz wusste sie nicht, was sie mit dem jetzt gefundenen Kontakt machen sollte. Anrufen wäre vielleicht nicht so gut, immerhin hatte man auf dieser Zugstrecke kaum Empfang. Also blieb nur noch eine SMS. Gesagt getan. Ihre etwas schlampig lila gefärbten Fingernägel tippten klickend eine Kurznachricht, als sie den Bahnhof endlich erreichte. Sehr weit kam sie aber nicht. Beim ersten Satz war sie sich nicht einmal sicher, ob das neutral genug war.

Hey, what’s up?

Mein Gott wie klang das denn? Sie hatte nie Probleme Nachrichten zu schreiben. Des Öfteren packte sie endlose Flüche und so winzige Abkürzungen in eine SMS, dass diese kaum dechiffrierbar waren. Sie hatte sich auch nie für ihren Style entschuldigt oder geschämt, doch jetzt in diesem Moment wollte sie nicht wie eins dieser naiven kleinen Mädchen rüberkommen und zum ersten Mal ihrem Alter entsprechend wirken, also 21. Mit einigem Tippen war der blöde englische Satz gelöscht und sie stand wieder vor demselben Problem. Was sollte sie schreiben?

Nervös strich sie sich durch die langen braunen Haare und drehte kurz an dem Piercing. Obwohl sie nach außen hin kaum eine Gefühlsregung zeigte, ärgerte sie sich gerade innerlich über sich selbst. Was war bitte schön so schwer dran eine einfache Nachricht zu verfassen? Mein Gott, sie hatte doch wohl nicht gestern ihr ganzes Selbstvertrauen im Zug vergessen, als sie ausgestiegen war oder doch?

Ihren Kopf leicht über ihre blöden Gedanken schüttelnd, ließ sie ihren Blick nachdenklich über die Menschen gleiten, die wie sie auf den Zug warteten. Sarkasmus brachte sie auch nicht weiter. Im Takt zur Musik tippte sie mit ihren Fingernägeln auf ihrem Handydisplay und kaute gedankenverloren auf ihrem Kaugummi herum.

Kurz war ihr, als würde man sie beobachten, aber sie tat es sofort als paranoide Angst ab. Seit dem gestrigen Tag wurde sie das widerliche Gefühl unschwer wieder los und diese Angst war auch der Grund, warum sie am heutigen Tag ihre Klamotten sorgfältiger ausgewählt hatte. Anstelle ihrer geliebten Hotpants trug sie eine knielange Jeanshose und ein grünes Shirt ersetzte ihr weißes Top. Wie immer hatte sie ihre braune Lederjacke mitgenommen, doch diese hatte sie sich um die Hüfte gebunden, da es sogar schon früh am Morgen zu warm für diese war.

Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken und sie setzte sich ihre Sonnenbrille auf um die Menschen, die an ihr vorbeigingen, unbemerkt zu mustern. Sie musste sich ablenken und diesen Gaffer endlich vergessen! Immerhin war ja nichts passiert.

Aber nur wegen seines Erscheinens…Genau, ich sollte mich ja noch bei ihm melden!

Aus ihren dunklen Gedanken gerissen versuchte sie sich wieder eine passende Nachricht auszudenken und brachte nach zwei scheinbar endlosen Minuten einen halben Satz zustande:

Hi Senad, ich bin’s Joy.

Zufrieden mit ihrer Einleitung wollte sie sich an den Hauptteil wagen, als ihr Handy auf einmal zu klingeln begann. Völlig erschrocken durch die plötzliche Vibration und den Klingelton in ihren Kopfhörern, glitt ihr das Handy aus den Fingern und nur in letzter Sekunde konnte sie das Mobiltelefon vor dem Zerschellen auf dem Boden retten.

„Hallo?“

Kurz war es still auf der anderen Seite der Leitung, als endlich eine dunkle Stimme sprach.

„Hey Joy.“

Als hätte er es geahnt, gewusst oder vielleicht sogar vorausgesehen. Sie konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen und obwohl es ihr schwer fiel, entspannte sie sich wieder etwas.

„Hey Senad. Und?“

Wow, etwas Besseres war ihr wirklich nicht eingefallen. Innerlich schalte sie sich selbst eine Idiotin, weil sie sich gerade wie ein kleines Mädchen aufführte, das ihrem heimlichen Schwarm gegenüberstand. Aber mit Smalltalk lag man ja nie besonders falsch. Er schien über die Frage amüsiert, oder glaubte sie nur ihn durch das Telefon grinsen zu hören?

„Mir geht es gut und selbst? Ich wollte dir nur sagen, dass ich unseren Platz bekommen habe. Wenn du willst, kannst du dich zu mir setzen.“

Kurz wusste sie nicht, was sie sagen sollte und ob sie seine, Hilfe in Anspruch nehmen sollte, immerhin wusste sie nicht, ob der Gaffer heute wieder mitfahren würde. Doch nachdem er ihr gestern geholfen hatte, war es das Mindeste, was sie tun konnte um sich zu revanchieren.

„Klar, ich seh den Zug auch schon. Bis später.“

Mit einem Klicken hatte sie auflegt und wartete nervös auf das Erscheinen des Zuges, den sie in der Ferne ausmachen konnte. Sie war so mit dem Gedanken an das kommende Gespräch mit Senad beschäftigt, dass sie den Mann hinter sich nicht bemerkte. Mit einem lauten Quietschen kam der Zug vor den Leuten zum Stehen und da war sie. Die Hand. Sie wurde augenblicklich starr vor Schreck und hielt den Atem an. Kurz glaubte sie, sie sich nur eingebildet zu haben, doch sie war real und klebte an ihrem Hintern. Ruckartig drehte sie sich um, doch die Menschen, die sich an ihr vorbeidrückten, verschluckten den Täter einfach. Der Gong ertönte und nur noch in letzter Minute konnte sie sich durch die sich schließenden Türen hindurchzwängen um kreidebleich durch den Zug zu gehen.

Verdammt, was war das…

Senad zu finden war nicht besonders schwer, da er wie gesagt auf dem gestrigen Platz saß. Auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen lag das Chirurgie-Buch und er trug dieses Mal nicht seine Mütze, weshalb sie zum ersten Mal seine kurzen, strubbeligen schwarzen Haare sah. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper und ließ sich etwas versteift auf den Platz ihm gegenüber sinken. Er hatte sie noch nicht wahrgenommen, da er in seine Lektüre vertieft war.

„Hi Senad…“

Selbst ihre Stimme klang hoch und ängstlich. Sie war nicht mehr sie selbst und obwohl sie innerlich vor Wut und Verachtung kochte, so hatte die Angst eine weitaus größere Macht. Wieso verdammt nochmal ließ man sie nicht in Ruhe?

Jemand schnippte mit seinen Fingern vor ihrer Nase und sie wusste sofort, dass er es sein musste. Ihren Blick hebend blickte sie in die dunklen Augen, die sie nachdenklich musterten. Er sagte erst kein Wort und sah sie einfach nur an.

„Ist irgendetwas passiert?“

Nein, sie probte gerade für die Rolle des Häufchen Elends! Was war das für eine bescheuerte Frage? Ihr Herz hämmerte wütend gegen ihren Brustkorb und sie spürte, wie die ersten Tränen über ihre Wangen laufen wollten, als sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe biss und aus dem Fenster sah. Sie wollte diese Schwäche nicht zugeben.

Eine unangenehme Stille war eingetreten und sie starrte ohne Unterlass aus dem Fenster um diese ganze Sache zu vergessen. Würde sie den Kochkurs nicht als Sprungbrett für ihren Job benötigen, wäre sie schon längst aus dem Zug ausgestiegen und hätte sich eine andere Beschäftigung gesucht. Aber sie brauchte diesen Kurs!

Aus dem Augenwinkel sah sie kurz zu Senad, der nicht wie erwartet wieder in seine Lektüre abgedriftet sondern mit seinem Handy beschäftigt war. Seine tätowierten Finger flogen förmlich über den Display und sie war kurz überrascht, als er seinen Blick hob und sie ansah. Mein Gott, jetzt starrte sie ihn auch noch an! Was war bloß los mit ihr?

Sie wollte sich wieder umdrehen, als ihr Handy vibrierte und sie somit in ihren Gedankengängen unterbrach. Es war eine SMS.

Ich habe keinen Plan was passiert ist und es geht mich ja auch nichts an, aber wenn dich was bedrückt, spuck es aus.

War das jetzt sein Ernst? Er schrieb ihr einfach eine Nachricht um den Grund zu erfahren? Wieso sollte sie ihm von dem widerlichen Erlebnis erzählen? Sie wollte es doch vergessen oder den Täter finden und ihm das Genick brechen. Es war mit Sicherheit das Ekel von gestern gewesen! Bei dem Gedanken wurde ihr augenblicklich schlecht. Aber immerhin wusste Senad schon von dem Ganzen Bescheid. Was hatte sie also zu verlieren?

Sie blickte ihn kurz an, ehe sie seufzend nachgab und grummelnd eine Antwort verfasste. Scham und Ekel stiegen in ihr auf, als sie ihm in knappen Worten von dem Vorfall schrieb.

Mich hat jemand beim Einstiegen begrabscht.

Mehr wollte sie nicht schreiben, es war ihr so auch so schon peinlich genug, besonders, weil sie sich nicht gewehrt hatte. Die Tatsache, dass sie den Täter weder gesehen noch identifiziert hatte, nagte an ihr. Ihre Augen schließend lehnte sie sich an das kühle Fensterglas um diesen ganzen Mist einfach nur zu vergessen. Sie konnte ihn nicht ansehen und wollte kein Mitleid, das ihren Stolz noch weiter verletzen würde. Wieder war sie kurz davor den Tränen einfach freien Lauf zu lassen, als ihr Handy abermals vibrierte und auf ihrem Display das Eingehen einer SMS anzeigte.

Ich nehme an, du hast niemanden gesehen oder hast du eine Vermutung?

Und ob sie die hatte! Ihr Blick war immer noch auf ihr Mobiltelefon gerichtet, als sie schnell eine Antwort schrieb und ihre Augen daraufhin wieder schloss. Sie spürte wieder so einen Kloß im Hals und Übelkeit durch die aufkommende Verzweiflung. Wenn sie ihn doch wenigstens gesehen hätte! Sie hätte ihn anzeigen können und vielleicht sogar noch eine Zeugenaussage gehabt! Aber anscheinend war der Typ nicht ganz so dumm und verstand sich darauf unbemerkt zu bleiben.

Der Gaffer!

Ihre Haltestelle wurde durchgesagt und sie stand mit wackeligen Beinen auf um auszusteigen, als eine Hand ihren Arm festhielt. Binnen Sekunden war sie vollkommen erstarrt und wagte sich nicht sich umzudrehen, als sie eine bekannte dunkle Stimme hinter sich vernahm. Sich um Ruhe bemühend drehte sie sich, mit einem großen Fragezeichen im Gesicht, zu ihm um.

„Kopf hoch.“

Er saß immer noch vollkommen gelassen auf seinem Platz und seine Lippen umspielte ein aufmunterndes Grinsen. Damit öffneten sich die Türen und sie wurde von der Menschenmenge gepackt und nach draußen gezogen, als ihr Handy wieder vibrierte. Und irgendwie hatte er sie wieder zum Lächeln gebracht.

Rock the day.
Senad

The good in man
Wer kennt sie nicht,
diese Vorurteile und ersten Eindrücke, die uns voneinander unterscheiden,
doch in erster Linie sind wir alle gleich,
Menschen, die einander helfend die Hand reichen.

An diesem Morgen war es schwül und aufziehende Wolken zeigten, dass ein Gewitter bevorstand. Ihr war heute nicht nach Musik und sie hatte sich entgegen ihrer Bedenken für eins ihrer rot-weißen Lieblingstops und Hotpants entschieden. Zur Hölle mit dieser Unsicherheit! Senad hatte Recht, sie sollte sich nicht so einschüchtern lassen und dieses Mal würde sie den Typen erwischen und Gnade ihm Gott! Hinter ihrer Sonnenbrille musterte sie die Leute, die an ihr vorbeigingen. Sie hatte sich dazu entschieden an einem der Stützpfeiler des Bahnhofs zu lehnen um Gefahr von hinten ausschließen zu können. Was sie suchte? Das war nicht sonderlich schwer, sie suchte den Gaffer.

Kurz schweifte ihr Blick zu ihrem Handy, doch Senad hatte ihr immer noch nicht geantwortet. Sie spürte, wie Enttäuschung an ihr nagte. Dabei kannte sie den jungen Mann nicht einmal. Sie wusste nur, dass er ein ziemlicher aufmerksamer Mensch war und stets in seinem Medizinbuch las. Zwei Tage waren nun wirklich nicht genug Zeit um jemanden kennenzulernen.

Verdammt Joy reiß dich zusammen! Du kennst ihn doch gar nicht und jetzt ziehst du schon ein Gesicht, als hätte er dich versetzt!

Ihren Kopf leicht über ihre Gedanken schüttelnd, packte sie ihr Handy in ihre Tasche und hielt Ausschau nach dem Zug, den sie schließlich auch in der Ferne ausmachen konnte.

Showdown!

Etwas unwohl sich dem Gaffer auch noch zu präsentieren fühlte sie sich schon, aber etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig und sie wollte diesen Drecksack auf jeden Fall erwischen. Die ganze aufgestaute Wut und das widerliche Gefühl der Unsicherheit gaben ihr die nötige Kraft und sie kaute etwas schneller als sonst auf ihrem Kaugummi herum.

Eine Menschenmenge hatte sich um sie herum gesammelt. Sie erblickte die alte Dame mit dem Kreuzworträtsel und andere Passagiere, die sie sich während der Zugfahrt eingeprägt hatte. Jeder wollte der Erste sein um in den nun vor ihr stehenden Zug einzusteigen um einen guten Platz zu ergattern. Lustig war nur, dass die ältere Dame mit ihrem Gehstock die Erste war, die einstieg und mit ihrer Gehhilfe auch dafür sorgte, dass niemand sich vor sie drängte. Wäre sie nicht auf der Suche nach dem Gaffer, hätte sie sicher über die alte Lady gelacht, aber sie war zu beschäftigt hinter ihrer Sonnenbrille die Menschen neben sich zu mustern.

Wo steckt er? Sie spürte, wie sie wieder Angst bekam. Doch es geschah nichts und sie konnte ohne Probleme in den Zug einsteigen. Etwas überrascht war sie schon, aber schon bald machte Erleichterung sich in ihr breit und sie lächelte nur über ihre anfängliche Befangenheit. Ihre Kopfhörer aufsetzend suchte sie in dem nun fahrenden Zug nach einem freien Sitzplatz. Senad hatte ihr immer noch nicht geschrieben und sie wusste noch nicht einmal, ob sie ihn wiedersehen würde. Ob sie das wollte?

Ihre blauen Augen fixierten den Kontakt auf ihrem Handy und innerlich rang sie mit sich selbst, ob sie ihn anrufen sollte.

Jetzt sei kein Weichei Joy! Was hast du schon zu verlieren?

Sich selbst einmal zunickend, setzte sie ihren Weg durch die vollen Sitzreihen fort und wollte gerade die Zugtoilette passieren, als die Tür sich schlagartig vor ihr öffnete und sie gewaltsam in den kleinen Raum gezogen wurde. Ihr Handy hatte sie dabei fallen gelassen. Erschrocken wollte sie aufschreien, als eine große Hand sich über ihren Mund legte und sie am Schreien hinderte. Ihre vor Schreck geweiteten Augen trafen die Augen des Mannes, von dem sie jetzt seit zwei Nächten Albträume hatte.

„Na, hast du mich vermisst?“

Sie hätte sich am liebsten in die naheliegende Kloschüssel erbrochen. Wut, Hass und Ekel vermischten sich zu einem explosiven Cocktail. Mit ihrer freien Hand holte sie aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, woraufhin er den Griff um ihren Mund lockerte. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den schwergewichtigen Mann, der sie mit seinem ganzen Gewicht unfähig hatte machen wollen.

„Du widerliches Schwein!“, schrie sie und hoffte einfach nur, dass einer der Passagiere sie hörte. Wieso kam niemand?

Das Ekel hatte sich wieder gefangen und drückte sie wieder gegen die eiskalte Wand der Toilette. Er hatte einen deutlichen roten Handabdruck in seinem Gesicht und einige blutige Kratzer durch ihre langen Fingernägel. Aber er hatte anscheinend mit Widerstand gerechnet und wirkte in keiner Weise verwundert.

„Jetzt stell dich nicht so an, du bist doch selbst Schuld mit deinen Klamotten.“

Die Stimme triefte nur so vor Spott und sie biss schmerzhaft die Zähne zusammen, als er ihre beiden Handgelenke mit einer Hand festhielt und die andere Hand die Toilettentür zusperren wollte.

„Lass mich verdammt nochmal los, du Drecksack!“

Mit ihrer ganzen Kraft schrie sie ihn an und hob ihr Knie mit einem Schwung um es in seine Weichteile zu rammen. Der Mann schrie schmerzvoll auf und ging röchelnd in die Knie, aber nicht ohne er ihr noch eine schmerzhafte Ohrfeige zu verpassen. Ihr Kopf schlug gegen die Kabinenwand und kurz war ihr schwarz vor Augen geworden, aber sie durfte jetzt nicht nachgeben. Erst wenn sie in Sicherheit war und eben diese befand sich hinter dieser Tür.

Sich wankend aufrichtend griff sie nach der Klinke um endlich in die Freiheit zu gelangen und nach Hilfe zu suchen, als er sie zurückzog und sie sich wieder Angesicht zu Angesicht mit dem fleischgewordenen Albtraum befand.

„Oh nein, du bleibst schön hier!“

Durch das Schwanken des Zuges und den Schlag auf den Kopf hatte sie Schwierigkeiten ihr Gleichgewicht zu halten, was dem Alten gerade recht war. Er zog sie mit einem eisernen Griff wieder weg von der Tür und damit auch weg von ihrer letzten Hoffnung.

Ihr Gezeter hatte immer noch niemanden auf sie aufmerksam gemacht und sie fragte sich, ob man sie nicht einfach bewusst ignorierte um sich nicht einzumischen. Verzweiflung packte sie und sie wehrte sich nach Leibeskräften, doch er war einfach zu stark und drückte sie wieder gegen die Wand. Wütende Tränen rannen ihr über die Wangen ohne, dass sie es bemerkte.

Verdammt nochmal, warum hilft mir denn niemand? Wieso kommt niemand? Wo steckst du?

„SENAD!“

Wieso sie gerade seinen Namen schrie, wusste sie nicht, aber sie wusste sich nicht mehr anders zu helfen und rief seinen Namen immer und immer wieder. Das Ekel hatte bald genug von ihrem Geschrei und verpasste ihr eine weitere Backpfeife, woraufhin sie ihm nur das Blut der aufgeplatzten Lippe ins Gesicht spuckte.

Sie hing völlig schlapp in seinem Griff und drohte jeden Moment einfach in die wohltuende Ohnmacht abzudriften, als sie glaubte, ihren Namen zu hören. Was hatte sie schon zu verlieren? Abgesehen von ihrem Leben.

„HILFE!!!“

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Mann und befreite eine Hand aus seinem schmerzhaften Griff um laut gegen die Wand zu schlagen. Ihr gesamter Körper schmerzte und alles drehte sich. Ihr Angreifer versuchte ihre Hand wieder zu packen, doch sie schlug wie wild um sich, nur um von dem Gestank und dem Schmerz wegzukommen.

„Verdammt, du kleine Hure! Jetzt hör endlich auf dich zu wehren. Es wird niemand kommen! Was glaubst du, wieso mich so lange niemand gefasst hat! Und jetzt sei brav.“

„Fass mich nicht an!“, fauchte sie und versuchte wieder nach der Klinke zu greifen. Mit ihrer letzten verbleibenden Kraft riss sie ihren Arm aus seinem Griff und rammte ihm ihren Ellbogen in die Brust. Der Alte schrie auf und musste wohl oder übel loslassen um sich vor einem ihrer Tritte zu schützen.

Schwer atmend wollte sie wieder nach der Tür langen, als eben diese plötzlich geöffnet wurde und jemand sie an eine warme Brust zog. Sie hatte sich augenblicklich wehren wollen, doch eine raue Stimme hielt sie davon ab.

„Ganz ruhig Joy.“

Er war doch gekommen. Sofort fiel jegliche Anspannung von ihr ab und sie vergrub zitternd ihr schmerzendes Gesicht in seinem T-Shirt. Ihre Beine wollten sofort nachgeben, doch er stützte sie und gab ihr den Halt, den sie jetzt dringend brauchte. Das Raunen der Zugpassagiere war wie ein lästiges Nebengeräusch, das sie schon bald ausgeblendet hatte. Ihr Flüstern wäre fast in den immer lauter werdenden Gesprächen untergegangen.

„Bitte bring mich hier weg.“

Er nickte nur und legte ihr ihre braune Jacke über die Schulter, während er ihre Tasche schulterte. Nur am Rande sah sie die vier Polizisten, die den Alten aus der Toilette zerrten und abführten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Zug hielt und sie ebenfalls im Begriff waren auszusteigen, wenn die alte Lady mit dem Kreuzworträtsel sie nicht aufgehalten hätte. Mit einem aufmunternden Lächeln reichte sie Senad ihr Handy und drückte ihre Hand. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie ihr Handy gefunden haben musste und Senad Bescheid gesagt hatte. Es gab noch gute Menschen auf dieser Welt. Ihr Gesicht schmerzte, doch sie schaffte es ein ehrliches Lächeln zustande zu bringen. Da waren sie auch schon aus dem Zug gestiegen.

************

Eine Stunde musste seit dem grässlichen Vorfall vergangen sein und sie hockte auf dem Polizeipräsidium in eine leichte Decke gewickelt und einen warmen Tee in den Händen. Sie kam sich wie eins dieser Opfer in den Krimiserien vor, nur mit dem Unterschied, dass sie zu weinen aufgehört hatte und nur müde in ihre Tasse starrte. Ihr Gesicht war verarztet worden und auch einige Prellungen waren untersucht und behandelt worden. Senad hatte die ganze Zeit stumm neben ihr gesessen und sie nur in den Arm genommen, als sie zu weinen begonnen hatte. Doch jetzt, da sie sich wieder etwas beruhigt hatte, entschied sie sich dazu endlich zu reden.

„Die Lady hat dir Bescheid gesagt oder?“

In dem kleinen Pausenraum der Polizei war es kurzzeitig still und nur das Klingeln entfernter Telefone war zu hören, als er sich zu ihr umdrehte. Seine Augen waren kurzzeitig ernst auf sie gerichtet, als er schließlich leicht zu lächeln begann, als wäre er erleichtert, dass sie wieder redete.

„Stimmt. Du hattest meine Nummer gewählt und ich hatte dich schreien gehört. Sie hatte dein Handy gefunden und hat mir gesagt, wo du bist. Ich muss dir auch nicht erzählen wer dann sofort die Polizei gerufen hat. Ein Mädchen hat dem Schaffner gesagt, er solle den Zug anhalten, weil sie Lärm und Geschrei aus der Toilette gehört hatte, auf der sie sich hatte schminken wollen.“

Sie nickte nur nachdenklich und doch mit einem Lächeln. Das Mädchen mit der Schminktasche und die alte Lady mit dem Kreuzworträtsel. Sie musste sich bei Gelegenheit bei den beiden bedanken und nicht nur bei ihnen. Sich im Sofa zurücklehnend drehte sie ihren Kopf leicht zu ihm und schenkte ihm ein Lächeln. Obwohl ihr ganzes Gesicht schmerzte und sie immer noch völlig ausgelaugt von der Anstrengung und der Angst war, so war sie glücklich, dass alles gut ausgegangen war.

„Vielen Dank.“

Er nickte nur und wuschelte ihr einmal grinsend durchs offene Haar, darauf bedacht ihr nicht wehzutun.

„Kein Problem.“

Ihr Blick schweifte zum Fenster und es überraschte sie kaum, dass es zu regnen begonnen hatte. Die Anspannung in der Luft war endlich verschwunden und sie lehnte sich seufzend gegen seine Schulter.

„Weißt du, dass du der Erste bist, bei dem ich keine Ahnung hatte, was ich in einer Nachricht schreiben sollte? Ich habe noch nie so lange bei so etwas überlegt.“

Sie wusste nicht, warum sie auf einmal anfing gerade darüber zu reden, doch seit wann kümmerte es sie, was andere von ihr hielten. Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass sie nicht über das alte Ekel reden wollte, das seine Strafe im Gefängnis absitzen würde. Das alleine gab ihr die Kraft wieder zu lächeln. Sie lachte leise über sich selbst und ihre anfängliche Unsicherheit.

„Wenn es dich tröstet, ich stand vor demselben Problem und habe dich gestern aus Versehen angerufen, als ich eine Nachricht nach der anderen geschrieben und wieder gelöscht habe.“

Stille. Kurz sahen sich beide an, bevor sie in lautes Gelächter verfielen, wobei sie sich schnell beruhigte, da ihr Gesicht wieder zu schmerzen begann. Ihre blauen Augen musterten den Schwarzhaarigen, von dem sie nur den Namen kannte und der ihr vor wenigen Stunden das Leben gerettet hatte. Ihr Herz schlug ihr schmerzhaft gegen den Brustkorb, als sie nervös wieder in ihre Tasse blickte nur um ihn nicht anstarren zu müssen.

Er grinste nur über ihre Geste, doch sie war so sehr damit beschäftigt das warme Getränk in ihren Händen zu mustern, dass sie es nicht wahrnahm. Mit einem Schnipsen vor ihrer Nase hatte er wieder ihre Aufmerksamkeit.

„Ich glaube, wir hatten einen schlechten Start. Mein Name ist Senad Law und ich studiere Medizin.“
Sie starrte kurz verwirrt auf die vor ihr ausgestreckte Hand, bevor sie diese immer noch leicht überfordert ergriff und leicht schüttelte. War das sein Ernst? Aber dieses Spielchen konnte man auch zu zweit spielen. Mit einem bestmöglichen Grinsen erwiderte sie seinen verspielten Blick.

„Schön dich kennenzulernen Senad, ich heiße Joy Summers und werde in Zukunft ein eigenes Restaurant eröffnen.“

„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“

Und wieder konnte sie nicht anders als zu lächeln, als sie sich an seine Schulter lehnte.




Envoyé: 11:06 Thu, 26 March 2015 par: Spedener Florence