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Elsa Hengel

Mama, mein Freund ist ein Flüchtling


   „Und die Arme strecken!“, sagte die Stimme im Fernsehen. Keuchend gehorchte ich, obwohl ich schon völlig außer Atem war. Aber alle sagten ja immer, Fitness wäre so gut für den Körper. Wohl eher gut, um einen Muskelkater zu bekommen.
   Ich entschloss, für heute aufzuhören, und schaltete den Fernseher aus. Als ich in die Küche ging und auf die Uhr sah, war es bereits Viertel nach zwei. In ungefähr zwanzig Minuten wird Mina hier sein. Ich bereitete mir ein kaltes Getränk zu und sprang schnell unter die Dusche.
   Meine Rechnung ging fast auf, denn als ich mit nassen Haaren das Badezimmer verließ, kam meine Tochter gerade zur Tür herein.
   „Mina, mein Schatz! Na, wie war dein Tag?“, empfing ich sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
   „Ja… die Deutsch-Klausur ist wohl nicht so gut gelaufen“, erwiderte diese leise. Bedrückt blickte sie zu Boden.
   Ich tätschelte ihr die Schulter und meinte: „Schwamm drüber. Komm, trink doch erst einmal was. Ich war am Morgen einkaufen.“
   Nickend betrat Mina die Küche, während ich die Haustür schloss. Als ich zu ihr kam, nippte sie an einem Glas Limonade. Sie war heute so ruhig. Sonst erzählte sie immer von ihren nervigen Lehrern und was sie mit ihren Freunden erlebt hatte, aber an diesem Tag schweig sie. Ich setzte mich ihr gegenüber und suchte ihren Blick.
   „Ist es denn so schlecht gelaufen bei der Klausur?“
   „Es geht nicht um die Klausur“, erklärte Mina und stupste nervös mit ihrem Finger gegen das Glas. „Ich muss dir etwas erzählen.“

   „Ich höre dir aufmerksam zu.“
   „Mama, es ist so… Ich habe einen festen Freund“, berichtete sie.
   Mir klappte die Kinnlade runter und mein Herz machte einen Satz.
   „Mina, das ist ja wunderbar! Ich freue mich ja so für dich!“
   Doch Mina schaute weiter bedrückt in die Tiefen ihrer Limonade.

   „Mama, mein Freund ist ein Flüchtling.“
   Wieder starrte ich meine Tochter mit offenem Mund an, aber dieses Mal mit Furcht.
   „Mina, ist er ein Krimineller? Ein Terrorist? Hast du denn vergessen, wie dein Vater damals bei dem Attentat gestorben ist?“
   „Aber Mama, Halid ist kein Terrorist!“
   „Halid! Wenn ich diesen Namen schon höre!“
   „Er ist nett und klug, Mama! Und er bringt mich zum Lachen, wenn es unmöglich scheint“, schwärmte Mina, jedoch mit Tränen in den Augen.

   „Wie lange seid ihr denn schon zusammen?“, fragte ich mit misstrauischem Unterton.
   „Drei Monate“, flüsterte Mina beinahe tonlos.
   „Drei Monate?!“, schrie ich außer mir. „Hör mal, mein Liebes, ist dir die Gefahr nicht klar? Sag, er weiß aber nicht, wo wir wohnen?“

   „Mama!“, schrie meine Tochter zurück. „Er ist ein Flüchtling aus Syrien, der sich nach Frieden und Liebe sehnt, so wie ich!“
   Mit diesen Worten verließ sie die Küche und rannte in ihr Zimmer. Ich schüttelte den Kopf. Das würde nicht gut ausgehen. Ich überlegte, wie ich ihr die Gefahr noch besser klarmachen konnte und klopfte dann an ihre Zimmertür.
   „Mina, Mäuschen, lass uns reden.“
   Aber ich hörte keine Antwort, nicht mal ein Schluchzen. Besorgt öffnete ich die Tür und fand ein leeres Zimmer. Mir stockte der Atem. In Pantoffeln und Jogginghose rannte ich zur Haustür hinaus und sprang ins Auto. Dann fuhr ich zum Flüchtlingslager im Zentrum der Stadt. Voller Angst betrat ich das Gebäude. Lauter fremde Menschen. Niemand hatte weiße Haut. Mein Herz raste, als ich zu den Schlafräumen ging. Die Bewohner nickten mir freundlich zu, was mich überraschte. Aber gleichzeitig schüchterte mich ihre komplett fremde Sprache wieder ein.
   Nach unzähligen Versuchen fand ich schlussendlich eine kleine Kammer ohne Tür. Ich blickte unauffällig hinein und sah zuerst nur zerrissene Kissen und Bücher mit seltsamen Zeichen. Dann aber sah ich den jungen Mann mit hellbrauner Haut und schwarzen Haaren in der Mitte des Raumes sitzen. In seinen Armen hielt er meine geliebte Tochter. Sie weinte.
   „Ich liebe meine Mutter, Halid. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Und dich auch. Was mache ich denn nun? Ich will mich nicht zwischen einem von euch entscheiden müssen.“
   Die Worte meiner Tochter rührten mich. Ich nahm tief Luft und dachte fieberhaft nach. So kam ich zu dem Entschluss, dass ich vielleicht nicht so rassistisch denken sollte. Nur weil ein ausländischer Terrorist einen geliebten Menschen getötet hatte, bedeutete das nicht, dass alle anderen auch solche Taten vollführen. Lächelnd überwand ich meine Ängste und betrat die Kammer…




Envoyé: 09:20 Mon, 23 March 2015 par: Elsa Hengel