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Sherley De Deurwaerder

Briefe an dich


Völlig entkräftet ließ Cassandra sich auf das große, einladende Bett fallen. Sie hatte keine Lust mehr. Die letzte Zeit war sie immer müde...Sie vergrub das sommersprossige Gesicht in den weichen Kissen. Nach einer Weile drehte sie sich stöhnend auf den Rücken.

"Schlaf, Cassandra!", befahl die Sechszehnjährige sich selbst in Gedanken. "Durch nachdenken wird es auch nicht wieder besser...Schlaf jetzt. Es ist schon spät....Nein. Lass uns wachbleiben und über jede dumme Entscheidung, die du getroffen hast, nachdenken."

Stunde um Stunde verging und sie fand keine Ruhe. Düstere Gedanken spukten in ihrem Kopf herum, wie Geister, die sich nicht verjagen ließen. Mitternacht war längst passiert. Cassandra war so müde, und sie war es leid, so leid. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens hievte sie sich aus dem Bett und tapste zum Schreibtisch. Sie tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter und knipste schließlich die Schreibtischlampe an. Sie nahm sich ein paar Blätter Papier und einen Kulli.Dann schrieb sie.

"Ist schon komisch. Gerade dann, wenn alles perfekt ist, passiert etwas komplett Unerwartetes, das einem alles wieder zerstört. Es heißt, man sollte jeden Tag leben, als ob es der letzte Tag wäre. Aber ich weiß ja nicht mal, ob ich noch richtig lebe. Weißt du, ich habe noch nie ein perfektes Leben gebraucht. Ich wollte immer nur glücklich sein. Und für den Moment hast tatsächlich du das geschafft. Du, kein anderer. Du bist einfach so, ungefragt, in mein Leben hineingestolpert. Wir haben uns gefunden, wir waren unzertrennlich. Aber genauso schnell warst du wieder weg. Weißt du, wie das ist, wenn man die Schuld am Tod eines Freundes trägt? Des einzigen Freundes den man je hatte? Kannst du mir das erklären? Weißt du, warum ich nicht mehr kann seit du nicht mehr bist? Ich weiß ja nicht mal, warum ich das hier überhaupt schreibe. Du wirst es ja eh niemals zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich schreibe ich nur, weil es für mich fast so ist, als würde ich mit dir reden. Schräg, ich weiß...Verdammt, Mo, du fehlst mir so! Weißt du wie das ist, wenn man einen geliebten Menschen für immer verliert? Es ist zimlich scheiße, weißt du. Mann, du warst mein bester Freund! Warum hast du mich verlassen? War ich nicht immer für dich da, egal um was es ging? Hätte ich geahnt, dass du nicht mehr lange an meiner Seite sein würdest hätte ich jeden noch so kleinen Augenblick, der nur uns beiden gehörte, so richtig genossen. Ich hätte dir so vieles gesagt ,das jetzt für immer unausgesprochen sein bleiben wird...

Ich spame dich jede Nacht voll, weil du mir so sehr fehlst. Dumm, dass ich immer wieder, selbst nach genau einem Jahr, auf eine Antwort hoffe. Ich war so naiv. Ich dachte echt, wir beide, wir wären für immer. In unserer Fantasie gehörte die Welt uns. So viele Pläne, die jetzt alle nie ausgeführt sein werden. So viele Träume, die wie Seifenblasen zerplatzt sind. Die Freundschaft, die uns beiden mehr als die Welt bedeutet hat. Erinnerst du dich? Wohl kaum...

Ich bin anders, seit du nicht mehr bist. Ich bin so still. Ich habe keine Kraft mehr um zu weinen.Mo, wozu war das gut? Wozu die Überdosis? Das alles wegen mir? Ich habe dir so oft gesagt, du solltest die Finger von den scheiß Drogen lassen. Eine Zeit lang lief es ja ganz gut, oder? Bis ich dich erwischte....

Deine Mutter hatte angerufen und wollte, dass ich sofort käme. Ich bemerkte bereits an ihrer Stimme, dass etwas nicht stimmte. Als ich bei dir zu Hause ankam, waren die Sanitäter bereits da. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Deine kleinen Brüder kamen angelaufen und sagten, du würdest nicht mehr aufwachen, und Celeste, deine Mutter, umarmte mich weinend. Sie konnte nicht sprechen. Niemand musste etwas sagen, denn ich wusste genau, dass du deine Drohungen tatsächlich verwirklicht hattest. War dieser eine Streit das alles wert? Warum hast du wieder mit den Drogen angefangen? Warum? Hättest du es nicht getan, hätte ich dich nicht erwischt, hätte ich das alles nie gesagt. Ich werde mich bis ans Lebensende schuldig fühlen!

Die Ärzte haben alles versucht, um dein Leben zu hängen, das am seidenen Faden hing. Ich saß nächtelang neben dir, habe deine Hand gehalten, zum Himmel gebeten, dass du es schaffst. Nach vier Tagen ging ich das erste Mal schweres Herzens nach Hause. Wieso hast du mir das angetan? Es tut mir so leid! Könnte ich es tun, würde ich die Zeit zurückdrehen.

"Ich hasse dich!! Verschwinde aus meinem Leben! Geh und krepier an deine heiligen Drogen!!!", das letzte, das ich dir sagte. Ich werde nie deinen verletzten Gesichtsausdruck vergessen. Dann drehtest du dich um und flüstertest, wenn das so sei, dann würde er jetzt aus meinem Leben verschwinden.

Mo, ich habe gelogen. Ich hasse dich nicht. Ich könnte dich niemals hassen. Ich liebe dich, viel zu sehr. Nicht auf die Art, die die meisten Menschen mit" Liebe" meinen. Nein, das nicht, zu so Gefühlen war ich nie fähig. Aber du warst der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutete. Ich vermisse dich so sehr, bitte, vergib mir!

Ich war kaum drei Stunden lang zu Hause, als der Oberarzt anrief. Du hattest es nicht geschafft. Für mich brach eine ganze Welt zusammen. Ich war allein, ganz allein. Wenn musste ich denn noch alles verlieren?

Ich war nicht auf deinem Begräbnis. Ich wollte nicht die trauernden Mienen all der Menschen sehen, die nie für dich da waren, die dich zerstört haben, die dich überhaupt erst auf diesen Trip gebracht haben. Du hast mich gebrochen, so wie ich dich gebrochen habe. Ist es das was du wolltest?

Ich denke jeden Tag, jede Nacht, jede Sekunde nach. Ich denke nwch, über das, was war, über dich und mich. Ich hätte um die Freundschaft kämpfen sollen. Aber ich dumme Kuh habe darauf gewartet, dass du es tust. Es tut mir so leid, und es wird mir auch für immer leidtun. Ich "lebe" für dich weiter, da ich weiß, dass du es so gewollt hättest. Aber sag mir, lebe ich noch? Sag mir, wie kann ich ohne dich wieder glücklich werden?

Hoffentlich geht es dir gut da oben, Mo. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du wieder zurückkehrst, auf einmal eines Tages wieder schief grinsend, mit zerzaustem Haar, vor dem Waisenhaus stehst, in dem ich aufgewachsen bin. Mo, bitte, komm zurück.Bitte!

In Liebe, deine beste Freundin, die dich für immer vermissen wird. "

Eine Träne teopfte auf das vollgrschriebene Papier. "Bitte komm zurück...", flüsterte Cassandra kraftlos. Mit zitternden Händen nahm sie ein Feuerzeug.

"Bitte....", flehte sie.

Die Flammen, die das Papier langsam zerfraßen, spiegelten sich in den tiefschwarzen, unendlich traurigen Augen des Mädchens.




Envoyé: 09:17 Mon, 23 March 2015 par: Sherley De Deurwaerder