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Elsa Hengel

Die Drachen kommen


   „Tobias, ich fahre dann jetzt!“, rief meine Mutter von unten herauf. Sie wollte Tante Rudy am Rande der Stadt besuchen gehen, während ich zu Hause blieb. Nach langweiligem Familiengeplapper war mir nämlich momentan überhaupt nicht. Als ich das meiner Mutter mitgeteilt hatte, hatte ich es natürlich etwas anders formuliert.
   „Ja, bis später!“, rief ich zurück.
   Ich hörte, wie sie die Tür schloss und wegging. Ein Grinsen formte sich auf meinem Gesicht. Meine Mutter wird glauben, dass ich Hausaufgaben mache, dachte ich mir und stieg die Stufen zum Dachboden hinauf. In Wirklichkeit aber würde ich versuchen, meine Videospiele, die sie versteckt hatte, wiederzufinden.
   Es war stockdunkel hier oben und ich tastete nach dem Lichtschalter. Als ich ihn fand und betätigte, veränderte sich fast nichts. Die mickrige Glühbirne schenkte nicht gerade viel Licht. Trotzdem versuchte ich mein Glück und begann in Kisten zu stöbern. Ich fand alles Mögliche; alte Zeitschriften, Kinderspielzeug, sogar eine tote Maus. Angeekelt schmiss ich sie in die Ecke. Leider stieß ich bei dieser Bewegung mit dem Kopf gegen die niedrige Decke. Ich kniff die Augen vor Schmerz zusammen und verlor das Gleichgewicht. Direkt darauf lag ich auf dem staubigen Dachzimmerboden und fasste mir an den schmerzenden Kopf. Fluchend stieß ich mit dem Fuß gegen ein Regal, aus dem anschließend eine pechschwarze Kugel herausfiel. Sie rollte zu mir rüber. Neugierig blickte ich sie an und als ich sie aufheben wollte, begann sie zu leuchten. Überrascht ließ ich sie wieder fallen; das Licht verschwand augenblicklich und die Kugel rollte weg.

   Aber sie näherte sich sofort danach wie von Geisterhand gesteuert wiederrum meinem Körper. Vorsichtig berührte ich sie noch einmal und das Leuchten erschien wieder. Was ist das?, fragte ich mich. Gebannt versuchte ich, die Kugel irgendwie zu öffnen, aber es gelang mir nicht.
   Plötzlich krachte es laut hinter mir und helles Licht schien auf meinen Rücken. Erschrocken drehte ich mich um und musste feststellen, dass das halbe Dach des Hauses weg war. Erst blendete mich die Sonne und ich erkannte nicht, was sich dort noch am Himmel befand. Ich blinzelte hilflos und hielt inne, als ich von sehr warmer Luft eingehüllt wurde. Gleichzeitig vernahm ich Atemgeräusche und glaubte sogar das Schlagen von Flügeln zu hören. Was zur…? Ich leistete dem Sonnenlicht Widerstand und öffnete meine Augen.

   Ich war sprachlos. Mit weit geöffnetem Mund blickte ich in die rot lodernden Augen von einem großen, Reptil ähnlichem Wesen mit breiten Flügeln. „Ein… Drache!“, stieß ich unglaubwürdig hervor.
   Dieser nahm tief Luft und… spie Feuer. Zum Glück hatte ich mir das gedacht und war schnell zur Seite gerollt. Sofort stand ich auf, steckte die Kugel in die Tasche meines Pullovers und rannte die Treppenstufen hinunter. Wieder und wieder spürte ich heißen Atem hinter mir, konnte ihm aber immer rechtzeitig ausweichen. Ich drückte mit voller Kraft gegen die Haustür und spurtete auf die Straße.
   Mir blieb fast das Herz stehen, als ich bemerkte, dass die ganzen Gebäude um unser Haus herum in Trümmern lagen. Geschockt sah ich hoch und war nicht in der Lage, all die Drachen zu zählen. Es müssen Hunderte sein. Im gleichen Moment fiel mir etwas ein. „Mutter!“ Schnell begann ich, Richtung Stadtrand zu laufen. Was, wenn ihr etwas passiert ist?, dachte ich besorgt und wollte mir nichts in der Art vorstellen.
   Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so schnell gerannt zu sein. Einerseits beeilte ich mich, um meine Mutter zu finden, und andererseits befürchtete ich, dass mich heißes Feuer treffen könnte. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, dass mich ein Drache auf Schritt und Tritt verfolgen würde und drehte mich im Laufen kurz um. Leider hatte ich Recht. Er besaß graue Schuppen und schien einer der größten Drachen zu sein. Vielleicht der Anführer? Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Anführer? Was wollte er hier? Was wollten die alle hier?
   Ich bemerkte einen dicken Stein vor mir nicht und fiel hin. Hektisch richtete ich mich wieder auf und spurtete weiter. Langsam gingen mir die Kräfte aus und ich hielt nach einem Unterschlupf Ausschau. Zweihundert Meter vor mir erblickte ich das Einkaufszentrum Shop&Fun und legte mir das riesige Gebäude als Ziel fest. Schwer atmend erreichte ich die durchschlagene Glastür und betrat den großen Raum. Ein riesiges Chaos breitete sich hier aus und ich suchte nach der Tür zum Keller. Bis dorthin würden die Drachen sicher nicht durchkommen.
   Nach dem Entdecken der Tür musste ich leider feststellen, dass sie verschlossen war. Mit einem Sprung hechtete ich aus dem Sichtfeld des Drachen um seinen heißen Flammen auszuweichen. Dank des Dampfes verlor er mich sogar aus den Augen. Knurrend versuchte er mich zu finden, während ich vorsichtig Stück für Stück von ihm wegkroch. Weiter hinten befand sich eine andere Tür zum Keller. Dort würde ich dann wieder mein Glück versuchen.

   Auch wenn alles verkohlt und beschädigt war, konnte ich manche Produkte erkennen. Ich wusste sogar in welcher Abteilung ich mich gerade befand, da ich an Teddybären und Puppenhäusern vorbeikroch. Auf einmal machte ich halt und betrachtete eine Spielfigur, die auf dem Boden lag. Es war der Protagonist aus einem meiner Lieblingsvideospielen. Begeistert hob ich sie auf, stieß aber dabei ungewollt gegen ein Regal. Bei meinem Glück befanden sich darin natürlich lauter Bälle, die nun wild umherhüpften und rollten.
   Drachenschritte näherten sich.
   Panisch ließ ich die Figur wieder fallen und kroch so schnell ich konnte weiter. Meine Ellbogen begannen zu schmerzen, da sie die ganze Zeit über den steinigen und staubigen Boden rieben. Ich keuchte vor Schmerzen.
   Der Drache beschleunigte seine Schritte.
   Es schien, als ob er noch nicht meinen genauen Standort ausfindig gemacht hätte, aber bald würde ihm das auch noch gelingen. Ich näherte mich einer Staubwolke und musste instinktiv husten.
   Nun spürte ich den heißen Atem des Geschöpfs und mein Herz setzte kurz aus. Er hat mich! Verzweifelt kroch ich noch ein Stück nach vorne und rannte mit dem Kopf gegen etwas Metallisches. Die Tür zum Keller! Sie ist offen! Blitzschnell drückte ich sie auf, betrat den Raum und schloss sie wieder hinter mir. Ich schnappte mir einen Stuhl und klemmte ihn unter die Klinke. Vielleicht würde das den Drachen ein paar Sekunden länger aufhalten.
   Mit klopfendem Herzen stieg ich die Treppen ins Dunkle hinab. Jedoch spendete die Kugel durch den Stoff der Tasche ein wenig Licht. Die Kugel! Ich holte sie hervor und betrachtete sie misstrauisch. „Hast du irgendetwas hiermit zu tun?“, fragte ich und erhielt wie erwartet keine Antwort. „Blödes Ding…“
   Es krachte laut; der Drache musste die Tür zerstört haben. Ich hörte seine Schritte, roch seinen Atem und sah, wie sich sein Schatten näherte. Aber ich war wie angewurzelt und konnte nicht einmal den kleinen Finger krümmen. Ich war einfach unfähig irgendetwas zu tun.

   Das große Geschöpf mit der Wut in den Augen war nun nur noch einige Meter von mir entfernt. Es schien zu schmunzeln, konnte aber auch sein, dass ich das mir nur einbildete. Jedenfalls konnte ich nur einen klaren Gedanken fassen: Wäre ich nur fähig dieses Vieh zu töten!
   Ein helles Licht erschien wie aus dem Nichts und formte sich zu einem silbernen Schwert, das ich plötzlich in der Hand hielt. Es war mir wieder ermöglicht, mich zu bewegen und somit stürzte ich mich schreiend auf den überraschten Drachen und stach ihm das scharfe Schwert in die Brust. Es durchbohrte die Schuppen, das Fleisch und drang schließlich in das Herz des Wesens hervor. Blut tropfte aus der Wunde und klebte am Schwert, welches ich wieder herauszog.

   Der Drache sank zu Boden und regte sich nicht mehr. Das Schwert verschwand augenblicklich und ich hielt wieder die Kugel in der Hand. Jedoch hatte sie sich geöffnet und ein großes Drachenauge starrte mich an. Statt Wut strahlte es Vertrauen und Freundlichkeit aus und flüsterte: „Tobias.“
Verdutzt blickte ich das Auge an. „Du kannst reden?“
   „Ja, Tobias.“
   „Woher weißt du wie ich heiße?“

   „Unwichtig. Mein Name lautet Reduba, falls dich das interessiert.“
   „Okay… Reduba. Kannst du mir bitte erklären, was hier gerade eben passiert ist?“
   „Deine Welt schwebt in Gefahr. Die finsteren Drachen, angeführt von Herak, wollen sie für sich gewinnen. Aber es gibt noch Hoffnung, da ich jemand Mutiges gefunden habe.“ Reduba blickte mich einige Sekunden schweigend an. „Tobias, als du mich gefunden und mitgenommen hast, habe ich deinen starken Mut gespürt. Er wird dir bei deiner Mission viel nützen.“

   „Mission?“, fragte ich.
   „Rette die Menschen! Diese Welt braucht dich! Mit meiner Hilfe und deinen Fähigkeiten wird es dir gelingen. Ich weiß, dass du vorher noch nie mit Magie konfrontierst wurdest, aber nun ist es an der Zeit. Ich werde dich belehren, damit du das Volk der dunklen Drachen bezwingen kannst. Tobias, bist du bereit für diese Herausforderung?“
   Lauter Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher. Die Welt wird von Drachen bedroht und ich soll sie nun retten? Und wo ist meine Mutter? Lebt sie noch? Bin ich dazu in der Lage, ein finsteres Drachenvolk zu bezwingen? Ich blickte den toten Drachen auf dem Boden an und schmunzelte entschlossen. Was ich bei einem geschafft habe, werde ich auch noch bei anderen schaffen.




Envoyé: 09:11 Mon, 23 March 2015 par: Elsa Hengel