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Ney Noémie

Die Weide am Ende und Anfang des Weges



Wie schön sie doch war, die Weide am Ende des Weges, welcher durch den tiefen, dunklen Wald nach Hause führte. Der Weg war bedeckt mit braunem, rotem und gelbem Laub, mit den Farben des tiefsten Sonnenuntergangs. Die frischen Krokusse, welche im Frühjahr die Seiten des Pfades geziert hatten, wie die neuerkorene Fröhlichkeit und das Glück der jung Verliebten, waren längst verschwunden.

Folgte man dem Pfad weiter in Richtung Weide, so konnte man auf der rechten Seite vage den verschnörkelten, von Dornenbüschen versperrten Weg zu einer wunderschönen Lichtung erkennen. Ein stilles Wasser hatte sich zur Sommerzeit in der Mitte der Lichtung zu sonnen geschienen. Das Glitzern und Funkeln der Wasseroberfläche, nun nichts weiter als eine Schlammlandschaft, hatte Spaß und Glück versprochen und die Liebenden entzückt zusammenrücken lassen. Doch diese Schönheit hatte bei weitem nicht nur Gutes zugelassen. Die juckenden Mückenstiche, die brennende Sonne und das doch nicht so friedliche Wasser, welches durch unterirdische Quellen eine tückische, nach unten ziehende Strömung hervorrufen konnte, hatte so manchen schönen Sommer verunstaltet. Der Herbst hatte bereits nahe der Weide gelauert und der Sommer hatte der Krankheit alsbald Platz gemacht, wie eine üble Vorbereitung auf das kommende Elend.

Auch die dunklen Kronen der nun braunen und roten Bäume lichteten sich bald und ermöglichten die fast freie Sicht auf die riesige Weide. Ihre langen, lanzettförmigen Blätter waren nun von einem kränklichen Gelb, der Tod, zum Greifen nah, hatte sich eingeschlichen, wie ein unwillkommenes, giftiges Ungeziefer. Unter der kämpfenden Weide stand ein Grabstein, groß und stark und prächtig, dem Herbst scheinbar trotzend. Doch sein Schützling hatte den Kampf bereits verloren, wie sonst könnte dieser Stein hier stehen. Wie sonst hätte eine solche Liebe zerbrechen können?

Doch nein, diese Liebe wird nie zerbrechen. Denn sobald die ersten Schneeflocken zu fallen beginnen, das Weiß des Anfangs und des Endes, der Hoffnung und der Tod bringenden Kälte, wirst du erkennen, dass auch die Dunkelheit, die Krankheit und somit der Herbst das Licht und die Hoffnung auf Leben nicht erlöschen kann. Sobald die Weide zum Berühren nahe ist, wirst du ihre Größe sehen, wie sie sich so entschlossen dem Himmel emporstreckt und bis zum Anfang des Weges scheint. Wenn du erkennst, dass sie gerade in der Nachherbstzeit, in der Zeit des Winters, des eigentlichen Todes hell erstrahlt und sich zur ihrer schönsten Pracht entfaltet, den Schnee als verblüffenden Mantel verwendend, dann wirst du es sehen: das zweite Grab, kleiner und doch so viel stärker an der Seite des ersten Steines stehend. Und dann, dann wirst du erkennen, dass die Weide, auch nach all dem Übel nicht trauert, sondern diese kurze Zeit der Schwäche genutzt hat, um ein noch schöneres Kunstwerk zu errichten. Sie, die Hinterlassenschaft der Liebenden, wird über alle anderen, vom Winter erkälteten Bäume hinwegblicken und das Licht der Erinnerung und der Zukunft, der Liebe und des Lebens weiterhin verstrahlen, bis in alle Ewigkeit.

 




Envoyé: 11:16 Sat, 18 April 2020 par: Ney Noémie