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Heinz Clara-Marie

15 Minuten



Mein Handy gibt einen fast unmerklichen Laut von sich. Ich greife danach und gucke kurz auf das Display. Wieder ein neuer Like auf Instagram, meine Bilder von meinem Luxus-Skiurlaub scheinen echt gut anzukommen! Aber Vincent und ich stecken auch eine Menge Arbeit in die Bilder. Mit Photoshop und Make-Up sieht alles gut aus! Auch jetzt bin ich für das Skishooting bestens gestylt. Ich stecke mein Handy wieder ein und streiche noch ein letztes Mal über meine Jacke. Vincent stellt sich in Position und gibt mir ein Zeichen. Sachte stoße ich mich mit meinen Skistöcken ab und fahre langsam los. Ich achte darauf, mich möglichst elegant zu bewegen. Allmählich werde ich schneller. Ich spüre den kalten Wind auf meiner Haut. Hoffentlich hält das Make-Up! Trotzdem sollte ich es nach der Fahrt besser nochmal auffrischen. Man weiß ja nie.

Plötzlich verspüre ich ein seltsames Gefühl. Es ist, als würde der Schnee unter mir nachgeben. Ich reiße die Augen erschrocken auf, doch versuche meine Mimik sofort wieder unter Kontrolle zu bekommen. Was passiert hier? Schnee wirbelt um mich herum, es wird mir mal hell, mal dunkel vor Augen. Es rauscht laut und gefährlich und die Schneemassen peitschen heulend gegen mich. Ich stürze unsanft zu Boden, kurz danach ist alles wieder still. Doch gut geht es mir nicht. Alles um mich herum ist dunkel und bedrängend, ich spüre eine schwere Last auf mir. Eine Schneedecke! Langsam steigt Panik in mir hoch. Ich liege hier allein und gefangen unter einer dicken Schneeschicht! Dadurch, dass das Visier meines Helmes mir die Hälfte des Gesichts verdeckt, kann ich zum Glück noch atmen. Dennoch ist die Luft etwas knapp. Ich versuche mich aufzurichten, doch gebe schnell wieder auf. Tränen schießen mir in die Augen. Der Schnee ist wie Beton! Das Einzige, was ich bewegen kann, sind meine Zehen in meinen Skischuhen, die schon beim Kauf viel zu eng waren. Im Stillen verfluche ich meine dumme Idee, die Schönsten zu nehmen. Aber was tut man nicht alles für die Schönheit? Wie konnte das nur passieren? Die Schneemassen drücken auf mich. Es ist wie ein dumpfer Schmerz und trotz der dicken Jacke ist mir eiskalt. Was ist das hier? Was passiert mit mir? Dieser schreckliche Druck auf meinem Körper ist grausam und irgendwie ist es hier in gewisser Weise stickig. Durch den Schnee dringt nicht gerade viel Luft zu mir durch und ich muss versuchen, nicht zu hektisch zu atmen. Diese Situation macht mir schrecklich Angst.  War das gerade eine Lawine? Darüber habe ich mal was gelesen. Doch in den Texten hörte es sich irgendwie ganz anders an. Keiner dieser Leute hatte wirklich genau beschrieben, wie es ihm in dieser Situation ging. Durch den Druck bekomme ich allmählich Kopfschmerzen, als würde er gleich einfach zerspringen. Hoffentlich findet man mich bald! Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Sind nicht viele Lawinenunfälle tödlich ausgegangen? Was, wenn ich sterben würde? Mit 17 Jahren? Ich, Cara Steinhagen, zurzeit Instagram Model. Tot. Einfach tot! Ich spüre, wie mir Tränen warm über die Wangen laufen. Als ich meinen Mund leicht öffne, gelangt augenblicklich etwas Schnee hinein. Ich huste. Kann man an Schnee ersticken? Auf jeden Fall muss ich versuchen, so vorsichtig wie möglich durch die Nase zu atmen. Mein Gesicht brennt vor lauter Kälte und meine Zähne klappern. Ich würde hier langsam aber sicher erfrieren. Warum passiert das gerade mir? Warum nur? Ich habe doch noch so viel vor mir! Habe ich in meiner Lebenszeit überhaupt etwas erreicht? Das einzige, was ich erreicht habe, sind 100.000 Follower auf Instagram. Keine große Menge, wenn man auf andere Followerzahlen guckt, aber alles hatten Vincent und ich uns selbst erarbeitet. Ständig hatten wir über neue Motive nachgedacht. Ob sie realistisch genug waren. Im Prinzip hatten wir alles gefaked. Jede Pose, jeder Blick, nahezu jeder Augenaufschlag war überdacht und genauestens geplant. In meiner jetzigen Situation kommt mir das ganze nur noch lächerlich vor. So langsam spüre ich, wie die Nässe durch meine Jacke dringt. Wie hatte ich nur jemals in meinem Leben denken können, dass man nur durch Perfektion glücklich sein konnte? Obwohl, bin ich denn überhaupt glücklich gewesen? Welches Lächeln auf meinen Bildern war denn überhaupt echt? Wann hatte ich wirklich gelächelt? Beziehungsweise, wie hätte ich lächeln können, in einem viel zu engem Kleid? Ohne die anschließende Retouche hatte ich ausgesehen wie in einer Wurstpelle. Nicht mal meine Figur ist auf den Bildern echt. Klar gehe ich ab und zu ins Fitnessstudio, doch auch dann insbesondere, um Bilder zu schießen. Ich hatte mir mein Leben zurechtgeschnitten und es dann öffentlich zur Schau gestellt. Genauso war es gewesen und nicht anders. Ich fange an zu zittern und spüre die Gänsehaut auf meinen Armen.  Wenn ich jetzt gehen würde, würde niemand wissen, wer ich wirklich war. Alle kennen die makellose, glückliche, perfekte Cara. Sie kennen einfach nicht die Cara, die hinter den Bildern ist. Die, die auch manchmal weint, unausgeschlafen ist und auch dementsprechend aussieht. Die echte, unperfekte Cara. Sie ist allen verborgen geblieben. Anscheinend für immer.  Ich schluchze auf. Wie lange liege ich jetzt schon hier unten? Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Sollte ich hier jemals wieder herauskommen, würde ich damit abschließen. Ob ich wegen Vince damit angefangen habe? Wir hatten uns damals, als ich 15 Jahre alt war, das erste Mal gesehen. Das war in einem Kurs über Fotografie. Er hatte mir vorgeschwärmt, wie toll man es als Instagram Model haben müsste und, um ihm zu gefallen, hatte ich da mitgemacht. Aber es hatte mir doch auch gefallen. Oder hatte ich es mir nur schöngeredet? Ich hatte wahrscheinlich außerdem gehofft, dass ich so endlich mal beliebt sein würde. Ich war schließlich immer der Außenseiter gewesen. Instagram war für mich die Antwort auf alle Sorgen und alle Probleme. Ich hatte eine rosarote Brille aufgehabt, die mir verschleiert hatte, wie unzufrieden ich doch war. Ich huste und schnappe kurz nach Luft. Der Sauerstoff wird immer knapper. Ich atme flach. Was habe ich denn wirklich von dem, was ich mir zurechtgeträumt hatte? Eigentlich gar nichts. Und was hatte ich mir überhaupt für die Zukunft erhofft? Ruhm? Fans? Vielleicht eine Modelkarriere? Doch wäre es letztendlich nicht ewig dasselbe geblieben? Ich würde glücklich in die Kamera lächeln, obwohl die Tränen in meinen Augen ständen. So wäre es doch. Nicht anders. Ich wünschte, ich könnte noch einmal von vorne anfangen. Wie bei einem Computerspiel. Man drückt auf Neustart und egal, was in dem Spiel passiert ist, ist vergessen. Einfach so. Doch im echten Leben ist es nicht so. Man hat nur eines. Wenn man stirbt, fängt man nicht einfach wieder bei Null an und versucht es immer und immer wieder. Man hat eine Chance und wenn man die verhaut, ist es so. Es bleibt so. Wenn ich jetzt sterbe, bin ich weg. Endgültig. Die einzige Chance, die mir bleibt, ist eine Rettung. Ich kann nichts mehr machen. Entweder holt man mich hier rechtzeitig raus, oder auch nicht. Mein Handy piepst. Wut steigt in mir auf. Wie kann man ein Bild liken, wenn die Person auf dem Foto sich in einer so aussichtslosen Lage befindet? Verschüttet und allein in den Alpen! Vielleicht wird es nie wieder neue Bilder von mir geben. Aber diese Person liket nichtsahnend einfach mein Bild. Ich kann nicht einmal nachgucken, worum es sich überhaupt handelt. Die schwere Schneedecke drückt immer mehr. Vielleicht wurde ich hier gerade langsam aber sicher erdrückt! Und niemand wusste etwas davon! Wann würde es auffallen, dass ich nicht mehr da wäre? Würden mich welche kontaktieren und fragen, wo das neue Bild bleibt? Ich balle meine Hände zu Fäusten. Das würden manche wahrscheinlich sogar wirklich bringen! Doch was bringt es, sich aufzuregen? Ich würde diese Nachricht ja nicht mal selbst empfangen.  Vince würde sie – wo ist er überhaupt? Jetzt habe ich mich die ganze Zeit nur mit mir beschäftig, ohne an ihn zu denken. Zumindest nicht so richtig. Ob es ihm gut geht? Konnte er der Lawine entkommen, oder liegt er ebenfalls in einem eiskalten Grab? Wenn er sich doch nur gerettet hätte… Ach Vincent! Außerdem habe ich meine Mutter unter Tränen angefleht mich mit ihm allein verreisen zu lassen, schließlich ist Vincent schon volljährig! Ist es meine Schuld, dass das jetzt passiert ist? Wenn ich nur gewusst hätte, dass sowas passieren würde! Mit so etwas rechnet man halt einfach nicht! Trotzdem hoffe ich, dass es ihm besser ergangen ist, als mir.  Ich presse meine Lippen aufeinander und versuche mich zu entspannen. Ich sollte mich nicht mehr verrückt machen. Jetzt nicht mehr. Ich kann es sowieso nicht mehr ändern. Die Kälte ist ein mächtiger Feind. Bald wird sie mich endgültig besiegt haben.

Auf einmal höre ich Stimmen, irgendwie entfernt und doch so nahe. Hilflos liege ich hier. Stumm und schwach. Selbst meine Augen offen zu halten fällt mir immer schwerer.  Ich höre ein Hundegebell, dann ein Kratzen direkt über mir. Die eben noch so undurchdringliche Schneeschicht über mir wird immer dünner und um mich herum wird es immer heller. Ich spüre einen Schwall frischer Luft auf meiner Haut. Gierig schnappe ich danach. Die Sonne blendet mich, doch im Moment gibt es für mich nichts Schöneres, als die Wärme zu spüren. Ein paar andere Bergretter helfen dem Hund mit großen Schaufeln und ich spüre, wie der Druck langsam nachlässt. Noch nie habe ich mich so gefreut, meine Gliedmaßen langsam wieder zu spüren! Schon bald werde ich vorsichtig aus dem Loch gehoben. Ein Mann legt mir eine Decke über die Schultern und trägt mich zu einer Trage. Ich schließe meine Augen und spüre nur noch die schaukelnden Bewegungen, als die Trage auf ein Schneemobil gehievt wird. Eigentlich könnte ich mich freuen, dass die Qualen endlich ein Ende haben und dass ich mich endlich wieder bewegen kann. Doch eine Sache trübt die Erleichterung. Vincent war nicht bei den Rettungsleuten! Ist er auch verschüttet worden? Hat man ihn noch nicht gefunden? Doch noch ehe ich mir weitere Gedanken machen kann, spüre ich, dass wir unten angekommen sind.

Ich hebe langsam die Lider und blicke geradewegs in zwei wunderschöne, blaue Augen. Tränen der Erleichterung rinnen mir langsam über die Wangen. „Vince!“, wispere ich mit heiserer Stimme. Dass ich jetzt wahrscheinlich total grässlich aussehe, ist mir völlig egal. Wir haben beide überlebt, das ist die Hauptsache. „Wie geht es dir, Cara? Oh Mann, ganze 15 Minuten warst du verschüttet! Ich habe natürlich sofort die Rettungsleute gerufen, aber…“ „Kannst du mir einen Gefallen tun?“, unterbreche ich ihn mit zittriger Stimme. „Ja, natürlich!“ „Lösche alle Bilder!“, befehle ich mit einer leisen, aber bestimmten Stimme. Er reißt die Augen auf. „Alle?“ „Alle“, antworte ich und schließe meine Augen. Man kann im Leben nicht komplett neu anfangen. Aber man kann es verändern.   

 

 




Envoyé: 11:59 Sun, 3 March 2019 par: Heinz Clara-Marie