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Feltes Michèle

Der eisige Schlüssel

 

Verängstigt und in Schweiß gebadet wachte ich wieder einmal mitten in der Nacht auf. Mein Albtraum war grausam gewesen, so grausam, dass er mich selbst, wenn ich ihn schon zigtausendmal immer wieder aufs Neue träumte, immer wieder in Angst und Schrecken versetzte und mir das erneute Einschlafen unmöglich machte. Immer wieder flackerte das Krankenhauszimmer vor meinen Augen auf und das anfangs monotone Piepen der Geräte verwandelte sich in ein anhaltendes, schrilles Gellen. Ich beschloss einen Gang bis zum Badezimmer zu wagen und tastete mit meiner zittrigen Hand nach dem Lichtschalter, woraufhin sich die Finsternis in meinem Zimmer auflöste. Offenbar glaubte ich, dass sich hinter meiner Jugendzimmertür das erwartete, das ich von klein auf kannte, jedoch würde ich eines Besseren belehrt werden. So schritt ich weiterhin tapsig auf die Tür zu, öffnete sie und stolperte in eine ganz andere Welt.

Eisige Kälte empfing mich auf der anderen Seite der Tür, sodass sich meine Lungen nach einigen Sekunden so anfühlten, als wären sie mit winzigen Stecknadeln gefüllt. Ich vernahm ein leises Knirschen, als ich mich traute einige Zentimeter auf dem mit Raureif überzogenen Boden vorzurücken. Anstatt von Stalagmiten war das unterirdische Gewölbe mit unzähligen, kegelförmigen Kristallen ausgeschmückt, von denen sich das prachtvollste Exemplar ungefähr drei Meter von mir weg befand. Die Anziehungskraft dieses Kristalls zog mich dermaßen in ihren Bann, dass ich wie hypnotisiert auf ihn zuschritt. Alle meine Sinne waren nach ihm ausgerichtet und die Außenwelt m mich herum verschwamm immer mehr und sogar die pure Kälte die von allem in dieser Höhle ausging rückte immer mehr in den Hintergrund, ich hatte nur noch Augen für diesen mysteriösen Edelstein, der durchsichtig war und doch in allen Farben schillerte. Machtlos mich dagegen zu wehren streckte ich meine inzwischen bläulich angelaufene Hand aus um dieses Wunderwerk endlich zu berühren. Ein stechender Schmerz durchzückte meinen Körper und ließ meine vor Kälte starren Glieder zusammenzucken. Regungslos sah ich zu, wie ein Tropfen meines eigenen Blutes aus der tiefen Wunde meines Fingers sickerte und überdems er zu Boden fiel einfror. Der Tropfen zersprang am Boden und hinterließ mehrere mikroskopisch kleine Fragmente auf dem knochenhart gefrorenen Steinuntergrund. Es erschreckte mich, dass dies die einzige warme Farbe in meiner Umgebung war, jedoch gab es mir auch etwas Sicherheit und erinnerte mich daran, was ich eigentlich war. Ein qualvolles Schluchzen rief mich zurück in die Realität. Ich fragte mich im Nachhinein, ob ich blind oder taub gewesen bin. Hinter dem Kristall, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte, kniete eine Gestalt, die mit ihren feingliedrigen Händen ihr zartes Gesicht verdeckte. Es war eindeutig, dass sie bittere Tränen weinte. Sie tat mir unglaublich leid, und da war es wieder, das Gefühl, das mich schon so lange belastete, der Grund weshalb ich jeden Tag mit demselben Albtraum kämpfen muss, das Gefühl versagt zu haben. Das Geschöpf wendete mir sein blasses Gesicht zu und durchbohrte mich mit seinem Blick. Ich werde diesen Blick mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen können, diese Augen die so unbeschreiblich schön waren. Sie waren blassblau und beinhalteten goldene Sprenkel, von denen jeder ihre Trauer unterstrich. Umrundet von perfekten Wimpernfächern boten sie mir einen Anblick unter dem ich zerbrach und wieder an sie erinnert wurde. In meinem Kopf brach ein Damm hinter dem die Erinnerungen und Gefühle zum Vorschein traten, die ich versucht hatte monatelang zu verbannen. So sah ich sie wieder vor meinem inneren Auge, die Person für die ich ohne zu zögern mein eigenes Leben gegeben hätte. Meine Schwester, meine über alles geliebte Zwillingsschwester. «Geh!», schallte die Stimme des Mädchens, die so zart wie eine Schneeflocke und gleichzeitig so scharf wie die Spitze des Kristalls war.  Augenblicklich wurde die Aura um sie herum noch frostiger und eine leichte Druckwelle aus gebündeltem Wind zwang mich einige Schritte zurück zu weichen. Nein! Ich würde nicht zurückweichen, nicht noch einmal würde ich ein Lebewesen zurücklassen, nicht noch einmal würde ich mich zurückdrängen lassen! Entschlossen machte ich einen Schritt auf das Geschöpf zu. «Geh nun, du kannst nichts mehr tun, mein Leben ich verwirkt», sie wand mir ihr Gesicht zu und strich ihre tiefblaue Haarpracht zurück, die der perfekte Ausgleich zu ihrem schlanken, jedoch bestens proportionierten Körper war. Ich konnte nicht einmal daran denken nachzugeben, nicht noch einmal, nicht wie im Krankenhaus, indem ich vor der Realität geflüchtet war und es bitter bereute. «Dies soll deine letzte Warnung sein, bevor du den Frost spüren wirst», wies die zarte Stimme in der ein schwerer Unterton der Verzweiflung lag, mich zurecht. Mein Körper fing an zitternd zu protestieren, was der niedrigen Temperatur zu verdanken war. Ich ignorierte alle ihre Warnungen, denn das einzige was ich noch wollte, war diesem, in einem Käfig von Trauer gefangenem Geschöpf, das sich selbst aufgegeben hatte zu helfen.  Komme was wolle. Schlagartig wurde die Aura um mein Ziel herum noch kalter und um meine Füße herum bildeten sich wie auf Kommando riesige Eiskrusten, die mir das Laufen zusätzlich erschwerten. Der verhasste Raureif schien einen eigenen Willen entwickelt zu haben und begann über die Eiskrusten zu kriechen, über meine nackten Beine hinweg bis zu meinen Pyjamashorts. Dies war keine normale Kälte, nein dieser Frost fühlte sich um ein Vielfaches eisiger an und griff mich bewusst aggressiv an. Das Atmen war nur noch die reinste Qual, woraufhin meine Lungen nur noch das Signal zur Kapitulation gaben. Um uns herum wirbelte ein mächtiger Schneesturm, der mir die Sicht auf das Fabelwesen nahm mit Mühe konnte ich noch ihre Aura und vor allem, ihre gespenstisch schimmernden Augen erkennen. Eiskristalle prasselten gnadenlos auf mich herab und schnitten in meine Haut ein. Ich weiß nicht was mich zu diesem Zeitpunkt noch angetrieben hat, ob es wohl mein unbrechbarer Wille war, meine Vergangenheit oder einfach nur das Adrenalin war? Hätte ich diesem Wesen auch geholfen, wenn es mich nicht an meine Schwester erinnert hätte? Ich spürte, wie sich ein prickelndes Brennen in meinem Brustkorb erhob und von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Es war keine unangenehme Wärme, oder eine solche, bei der man sich verbrennt, sondern eine unbekannte, übernatürliche Wärme. Mit jedem Herzschlag wurde sie stärker, mit jeder Verzweiflungsträne, die über meine Wangen lief, breitete sie sich weiter in meinem Körper aus. Sie war es, die mich weiter antrieb und den Frost aus meinen Gliedern vertrieb. Der Raureif verdampfte mit einem Mal und die Eiskristalle trauten sich nicht mehr in meine Nähe. Meine feurige Aura war genau so stark wie die arktische Kälte die das Eismädchen umgab, mein Geist war klarer denn je, es war kein Vergleich zum Zustand, indem ich mich befand als ich die Höhle knapp betreten hatte. Meine Gedanken waren im perfekten Einklang mit meinen Instinkten und ich nahm alles feinfühlig war, analysierte jede Luftströmung und jede Bewegung genau. Die Vitalität durchfloss meinen Körper und ich schöpfte neue Energie. Nun konnte ich wieder einen Fuß vor den anderen setzen und meine Willenskraft erneut auf mein Ziel lenken. Mittlerweile war die Eismagierin damit beschäftigt einen Schutzwall aus riesigen Eiszapfen, die aus dem Erdboden heraustraten, herauf zu beschwören. Wieso machte sie sich solch eine Mühe, um meine Hilfe abzuweisen, wieso nur?  War dies hier eine Prüfung? Auf jeden Fall musste es einen sehr argen Hintergrund, da sie sogar meinen Tod in Kauf genommen hätte. Ich würde jedenfalls nicht aufgeben, meine Schwester hätte gewollt, dass ich nicht aufgebe. Dies war meine zweite Chance, die Nacht, in der ich im Krankenhaus nur kurz von der Seite meiner verstorbenen Schwester gewichen bin wieder gut zu machen. Nicht noch einmal würde ich mich von der Situation überwältigen lassen. Ich legte einen Zahn zu, um die Eismauer zu erreichen, bevor die Lücken zwischen dem Eis verschmolzen. Sie war nicht schnell genug mit ihrem Schutzwall gewesen, ich konnte mich noch geschmeidig durch dessen Lücken hindurchzwängen. Der Schrecken über meine Durchhaltevermögen und meine Macht stand dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Ihre anfangs so hypnotisierenden Augen übten nicht mehr denselben Effekt auf mich aus. Während dem Kampf waren sie glasig und glanzlos geworden. Die Magie musste sie außerordentlich viel Kraft gekostet haben. Ich hatte das Gefühl, dass sie nun unter meinem Blick zerbrach und sie begann sich  vor mir zu fürchten. Einige Sekunden später brach der dürre Körper, der vor mir stand zusammen und nahm wieder die Haltung an, in der ich das Lebewesen das erste Mal gesehen hatte: kniend und ihr Gesicht mit den Händen verdeckend. Daraufhin überwältigte mich das Mitleid wieder und ich tat etwas, was ich nur bei wenigen Personen in meinem Leben tat, ich umarmte sie. Ich hatte keine Zweifel, ob es ihr unangenehm wäre, nein ich fand einfach, dass ich das einzig Richtige in diesem Moment tat. Der Frost der sie vorhin begleitet hatte war fast ganz verflogen und sie strahlte nur noch eine angenehme Frische aus. Meine Wärme verflog auch bis ich wieder eine normale Körpertemperatur angenommen hatte. Niemand konnte uns angreifen, oder schaden solange ich dieses einzigartige Geschöpf beschützte.

Am nächsten Morgen, musste ich leider enttäuscht feststellen, dass es sich bei der Begegnung mit dem Eismädchen leider nur um einen Traum gehandelt hatte, wobei ich mir auch nicht all zu sicher bin. Es hatte sich einfach zu real angefühlt. Auf jeden Fall reichten die Folgen dieses Traumes bis in die Gegenwart hinein. Ich hatte nämlich dank dem Eismädchen mit dem Tod meiner Schwester abgeschlossen. Sie war nun nicht mehr, der traurige Unfall, sondern ein von mir geliebter Mensch, an dessen Zeit mit ihm, ich mich gerne erinnerte. Dieser Traum hatte mir klar gemacht, dass ich das Geschehene nicht mehr ändern konnte. Er erinnerte mich daran, dass ich auch noch weiterleben durfte und das Beste aus meinem Leben machen sollte. Meine Schwester hätte nicht gewollt, dass ich mich wegen ihr aufgeben würde. Ich wurde mir Zunehmens klarer darüber, welche Rolle die verschiedenen Elemente in meinem Traum gespielt haben. Die Kälte repräsentierte gewissermaßen den Hass, den ich zu diesem Zeitpunkt auf mich selbst hegte. Die Wärme, die geheimnisvolle Kraft, die meinen Körper wiederbelebte war die Liebe, die in mich zurückgekehrt war. Der Kristall war der Wendepunkt, der mich wieder in die Realität zurückrief. Doch einer Person konnte ich noch keine Rolle zuschieben. Wer war nur das Eismädchen?

 




Envoyé: 11:29 Sun, 3 March 2019 par: Feltes Michèle