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Marx Lynn

Gedankenpinsel



Ich saß mit ihr am Tisch und kam zu dem Entschluss, dass es wohl eine gute

Entscheidung gewesen war, sie hierher zu bringen. Sie wirkte ruhiger,

zufriedener.

 

Sie sah mich mit großen Augen an und ich gab ihr seufzend die neuen

Buntstifte, die ich ihr von zu Hause mitgebracht hatte. Sie hatte Farben schon

geliebt. Wir hatten uns oft stundenlang über Kunst und Künstler

unterhalten, eine Leidenschaft, die uns auf vertraute Weise verband.

 

Nun fiel es mir schwer, die Zeit und Geduld aufzubringen, die sie mir doch

immer geschenkt hatte. Manchmal schämte ich mich dafür. Ich vermisste die

früheren Zeiten mit ihr, wie sie mir unermüdlich die Farben und Perspektiven

erklärte, wie sie mit ruhiger Hand Pinselstrich für Pinselstrich auf eine große

Leinwand auftrug.

 

Heute sind es keine feinen Linien mehr. Am Anfang konnte ich es nicht

glauben. Sämtliche Vorzeichen blendete ich aus. Ich wollte es nicht wahrhaben.

Doch als ich sie darum bat, mir die Grundrisse einer Uhr zu zeichnen und sie

dazu nicht mehr in der Lage war, wusste ich, dass die Ärzte Recht hatten.

 

Ich besuchte sie regelmäßig und half ihr im Haushalt, doch ihre motorischen

Fähigkeiten und unsere Gespräche vertrockneten genauso wie die Ölfarben

in ihren Tuben.

 

Sie wedelte mit einem Blatt Papier vor meinem Gesicht herum und holte mich

aus meinen farblosen Gedanken. Stolz zeigte sie mir Gekritzel. Die Farben

liefen ineinander und vermischten sich, ohne ein deutliches Muster

hervorzubringen. Ich fragte mich, ob es in ihren Gedanken auch so aussah.




Envoyé: 13:40 Sat, 11 March 2017 par: Marx Lynn