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Feltes Michèle

Böse Kinder



Mutterliebe?

Was ist schon Mutterliebe in Zeiten wie diesen?

Mutterliebe, Substantiv, feminin: Die bedingungslos aufopfernde Liebe einer Mutter zu ihrem, meist leiblichen, Kind. Solche Umschreibungen habe ich von euch gelernt, meine Kinder. Ihr mochtet es schon immer undefinierbares in Wörter, Sätze, Definitionen zu quetschen. Ich hingegen weiß nicht mehr, ob ich euch abgöttisch liebe oder abgrundtief hasse. So viel vermischt sich in meinem Geist, so viele Nebelschwaden flechten sich in sowieso schon konfuse Gedankenstränge. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich zu einem einzigen kopflosen Gewirr.

 

Damals war ich noch jung gewesen, naiv, vielleicht habe ich sogar alles überstürzt. Ich war auf der Suche nach etwas, woran ich mich beweisen konnte. Was war ich überhaupt selbst gewesen? Eine Göttin, ja, diesem Begriff kommt es in eurer Sprache am nächsten. Voller fälschlichen Enthusiasmus habe ich mich auf die azurblaue Kugel gestützt, wie ein überdrehter Jagdhund, der sich auf einen Flummi wirft. Es gab nur einen Unterschied ; ich, dieser Hund, befand mich in der Milchstraße und sein Ball waren Massen ungenutztem Potenzials. Ich ließ meine Kräfte spielen, baute mein winzig großes Ökosystem auf — Fauna, Flora, oder wie ihr das alles nennt. Simple Lebewesen entstanden, krochen tapfer aus reinem Wasser. Zufriedenheit begleitete mich jedoch immer nur kurz. Niemals genügte mir eine Errungenschaft, also stillte ich meinen Durst mit der Vision eines gottähnlichen Lebewesens. Eines, was ich stolz als meine Kinder bezeichnen könnte.

 

Unkontrollierte Blitze der Erinnerung zucken quälend durch meinen Schädel und treiben mir bittere Tränen in die Augen. Wieso war ich so voreilig gewesen? Wieso war mir das alles in diesem Ausmaße über den Kopf gewachsen ohne, dass ich es merkte? Gestochen scharfe Bilder flackern auf: Eure funkelnden Augen im Schein des ersten selbst entfachten Feuers ; der erste lernbegierige Schüler, dem man die neuartigen Schriftzeichen beibringt ; eine grölende Menschenmasse, die die Fertigstellung enormer, dreieckigen Bauwerke feiert ; ein Seefahrer der den ersten Fuß auf die neue Welt setzt … Die Kopfschmerzen werden zur unerträglichen Qual und manövrieren mich in die nahe Vergangenheit.

 

Es ist ungefähr ein paar Monate her, als ich an den drei Schluchten stand. Auch hier hatte ihr eine der lebenswichtigen Adern eifrig gestaut. Ihr hattet einige Schleusen geöffnet um das überflüssige Wasser loszuwerden. Niedergeschlagen hatte ich mich auf die Staumauer gehockt und vertiefte meine Überlegungen. Bestrafen mache ich nicht gerne, zu viel verbinde ich mit euch. Ein paar mal hatte ich es schon bereut, wie damals, als ich meinen flammenden Zorn auf euch niederfahren ließ. Pompeji war ein Fehler. Ein Schaudern jagte meinen Rücken hinunter, als ich an andere meiner Gräueltaten dachte. Auch ein Schwall meiner bitteren Tränen hatten vor neun Jahren eine fürchterliche Kettenreaktion ausgelöst. Am Anfang hatte mich nur die atomare Verseuchung gestört, dann aber trat es mir wieder in den Geist, wie viele bei der Zerstörung des Kernkraftwerks umkamen. Egal, auch wenn es mir jedes Mal ein schlechtes Gewissen bescherte, Säuberungen sind nötig. Ich bin halt erbarmungslos und brutal … Aufheiternd und paradox zugleich, dass ihr mich so unschuldig und zart darstellt. Tanzende Waldelfe mit zuckersüß zwitschernden Singvögeln im Hintergrund. Wie süß, wie falsch. Arrogant genug um euch selbst als Krone der Schöpfung zu bezeichnen seid ihr schließlich auch. Jedenfalls stand ich wieder vor einer unzumutbaren Entscheidung. Feige hatte ich mich für eins meiner Gifte entschieden oder Virus, wie ihr es nennt. Tausende töten und das Gleichgewicht wahren oder tausende am Leben lassen, um schon in der nahen Zukunft ein Desaster zu erleben?

 

 

Mein Haupt drohte unter mentalen Hammerschlägen zu zerbersten. Ihr wart so böse geworden, meine Kinder, ihr habt euch in Probleme verwandelt. Allein schon wie ihr eure Geschwister behandelt, rodet ihren Lebensraum oder pfercht sie ein, bis sie fett genug zum Schlachten sind. Da ist dieser Vorwurf wieder: Es hätte so wundervoll werden können. Die Überzahl an guten Qualitäten hätte euch weit bringen können. Ich frage mich, ob es meine Schuld ist, dass die schlechten Fähigkeiten nun die Guten überschatten. Fragen über Fragen, Möglichkeiten über Möglichkeiten, Verwirrung über Verwirrung. Alles vermischt sich zu einem unüberschaubaren, toxischen Cocktail und katapultiert mich in die weite Ferne der Zukunft.

 

Wieder eins eurer Wörter schleicht sich in mein Vokabular, Dystopie. Ob ihr euch wohl anders verhalten hättet, wenn ihr die Folgen eures Handelns gesehen hättet? Wie verzweifelt die letzten von euch sich doch ans Leben klammen. Ich hatte euch alles gegeben ; Elemente wie Feuer, Erde, Luft und Wasser, andauernde Nahrungsquellen, sogar das Leben selbst, es hätte ein ewiger Kreislauf werden können —aber jetzt? Welch ein Trauerspiel wie eure Lungen versuchen die vielen Giftstoffe herauszufiltern, eure Mägen die verseuchte Nahrung zu verdauen. Selbst eure Augen erkennen nichts durch die ewig schwarze Staubwolke. Traurig wie weit es gekommen war.

 

Die Zukunftsvision hat mir Schweißperlen auf die Stirn getrieben, es wahr zu viel, weiter kann ich einfach nicht zusehen. Die Verzweiflung schreit aus mir hinaus, dass ihr etwas tun sollt. Schwer atmend richte ich mich, gen Himmel blickend, auf. Schon komisch, wie kaputt einen Menschen machen. Schon komisch, wie viel eure Mutter Natur sich hier gefallen lässt. Wieso macht ihr mich zu einem Wrack? Ihr wisst doch, dass, wenn ich sterbe, auch ihr sterben werdet.

Ich krümme mich zusammen, wie ein welkes Blatt.

 




Envoyé: 14:08 Mon, 16 March 2020 par: Feltes Michèle