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Roth Kiara

Nachtgespräche



Der Mond brennt hochoben am Himmel, als würde es ihm nichts ausmachen, dass hier unten Welten zerbrechen und Träume zerplatzen.

Ich trete vom Fenster zurück und blicke in den mondscheindurchfluteten Raum. Fast ist es, als wäre sie gar nicht da. Erst beim zweiten Hinsehen erkenne ich die zierliche Gestalt, die sich unter der viel zu dicken Bettdecke abzeichnet, sehe, wie sich ihr Brustkorb kaum merklich hebt und senkt.

Sie schläft.

Ich will sie nicht stören, aber dies ist wieder eine dieser Nächte, in denen die Welt so wehtut, dass ich es kaum aushalte. Sie hat immer Pflaster für mich. Also setze ich mich zu ihr aufs Bett und beginne eines dieser Gespräche, die man nur nachts führen kann, wenn der brennende Mond als Einziger Licht spendet.

„Rosa“, wispere ich. „Rosa.“

Ich warte vier, fünf Sekunden. So lange dauert es immer, bis sie sich murrend zu mir umdreht. Einen Herzschlag lang überlegt sie, ob sie einfach weiterschlafen soll, das erkenne ich an dem leichten Zucken ihrer Unterlippe und ihrer gerunzelten Stirn. Sie entscheidet sich dagegen, murrt erneut, lauter diesmal.

„Ich bin es, Rosa.“

„Wer auch sonst?“ Sie stemmt sich hoch, sitzt nun aufrecht im Bett. Wachsam. Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Mauer und murmelt weitere Worte vor sich hin, die nicht für mich bestimmt sind.

Rosa ist 82, oder 83, wer zählt in diesem Alter schon noch die Jahre? Manche behaupten, sie sei dement, weil sie alles immer vergisst und nichts versteht, aber der Schein trügt. Rosa versteht viel mehr als wir alle, weil sie hinter unsere Gedankenreiche zu blicken vermag. Sie weiß immer sofort, was sich hinter meinem verbirgt, auch wenn sie umsichtig genug ist, um mich nicht direkt darauf anzusprechen.

„Wie geht es dir heute, Rosa?“

So fangen die Gespräche immer an. Belanglos. Anders kann ich gar keine Gespräche einleiten. Ich vertraue darauf, dass die anderen meinen unbeholfenen Einstieg in eine gehaltvolle Unterhaltung verwandeln. Rosa ist darin sehr gut.

„Sie sind zu laut.“

Ich strecke die Hand nach ihr aus, finde ihre knochige Schulter und lasse sie darauf ruhen. Sie sind immer zu laut, selbst wenn sie flüstern. Das haben die Stimmen so an sich.

„Was erzählen sie heute?“, frage ich.

Ein tiefer Seufzer. Ein Lächeln. Rosa lächelt nicht oft. Heute ist eine gute Nacht, und ich ahne, zu wem die lauteste Stimme gehört.

„Als er glaubte zu sterben, hat er so ausgelassen gelacht wie noch nie“, beginnt sie. „Die Brote der Kinder für den nächsten Tag. Der unmögliche Auftrag. Alles, worum sein Leben einst rotierte, wurde so egal. Egal ist gut. Egal ist befreiend.“

Rosa hat Schizophrenie, so lautet jedenfalls die offizielle Diagnose. In den Ohren der meisten ergeben ihre Worte keinen Sinn, deswegen hören sie ihr nicht mehr richtig zu, nicken alles ab. Am Anfang habe ich es auch so gemacht. Dann habe ich begonnen ihr genauer zu lauschen, nachts, wenn die Schlaflosigkeit meine Gedanken zu dunkel färbt. Nachts ist es anders. Wenn man nachts nach dem Sinn sucht, wird man fündig, nachts lohnt es sich hinzuhören.

Ich stelle mir oft vor, dass die Stimmen ihr nur die Wahrheiten erzählen, die andere gerne verdrängen. Wahrheiten tun weh, wie die Welt, wie das Leben. Aber manchmal sind die Stimmen in Rosas Kopf das einzig Richtige in dieser schmerzenden Welt, und es ist schön, wenn sie sie mit mir teilt.

Ich frage mich, wie weh sie ihr tun.

„Es war der letzte Moment, in dem er es empfunden hat.“ Rosas Lächeln wird breiter. „Glück. Davor so lange nicht mehr und dann so intensiv. Ein letztes Mal. Niemand versteht, wie gut letzte Male tun. Liegt vielleicht daran, dass wir nicht wissen, wann wir ein letztes Mal erleben. Aber er wusste es. Er wusste es ganz genau und hat jede Sekunde davon genossen.“

Alles in mir brennt. Nun ist es kein Geheimnis mehr, von wem sie spricht, ich weiß, wer die Stimme ist. Aber ich weiß nicht, ob sie es weiß. Ob sie es wissen soll. Ob es nicht viel einfacher ist, wenn es bei der Stimme bleibt, bei der Verrücktheit, wie es alle nennen, weil Verrücktheit weniger wehtut als die Wahrheit.

Er war glücklich. Ich hoffe, dass Rosa recht hat, aber natürlich hat sie das, sie hat immer recht. Ich hätte gern von seinem Glück gekostet, damals, aber zu dieser Zeit habe ich für ihn schon lange nicht mehr existiert, genau wie Rosa.

Auch ihn haben sie verrückt genannt. Sie haben mir diesen Begriff in den Mund gelegt, wenn sie mir von ihm erzählt haben, lange, bevor ich verstanden habe, was sich alles dahinter verbirgt. Anfangs habe ich ihnen einfach nachgeplappert. Erst später, nach den ersten Nachtgesprächen mit Rosa, hat der Begriff seinen furchteinflößenden Beiklang verloren und viele Bedeutungen hinzugewonnen.

Auch ich weiß noch, wie es sich anfühlt, das Glück auf der Zunge zu schmecken. Süß, weil es schön ist wie noch nie, und bitter, weil ich weiß, dass es nie wieder so schön werden wird. Das Glück hat meinen Welten Farbe verliehen und meine Träume gefüttert. Es ist lange her, aber ich werde es nie vergessen. War es mein letztes Mal?

„Er war 32, als er nicht mehr aufwachte“, erzählt Rosa weiter, hält nach jeder Silbe kurz inne, um der Stimme zu lauschen. Als übersetze sie die Wahrheiten in ihrem Kopf in eine für mich verständliche Sprache. „32 war schon immer seine Lieblingszahl. Vor der 33 hat er sich gefürchtet.“

„Geht es ihm gut?“, will ich wissen. Mein Magen zieht sich zu einem bleischweren Klumpen zusammen, zieht mich mit nach unten.

Sie nickt eifrig. „Sehr gut. Nicht ganz so gut wie bei seinem letzten Mal, aber es geht ihm gut.“

„Erzähl mir mehr von ihm.“

Sehnsucht zieht mich näher zu Rosa heran. Sie kann ihn nicht zurückholen, auch, wenn es sich manchmal so anfühlt. Aber die Wahrheit, diese eine schmerzende Wahrheit, gibt mir etwas, was ich lange gebraucht habe. Sie flutet meine Adern mit warmer Nostalgie. Es ist egal, was sie sagt, oder ob ich alles davon verstehe. Die Hauptsache ist, dass ihre Stimme den Raum erfüllt. Sie filtert das Rauschen aus meinem Kopf, macht meine Gedanken glasklar.

Ich sehe ihn vor mir. Ihre Erzählungen formen sein Bild, aber es verflüchtigt sich, ehe ich es vollständig fassen kann. Er geht an mir vorbei, verblasst zur Erinnerung.

Mit jedem Wort wird Rosa ruhiger. Sie fängt sie ein, die Momente des Stillstands, die so selten geworden sind. Nur so kann ich meinen Gedanken noch folgen, nur so rasen sie nicht mehr. Alltagspausen.

„Jetzt ist er müde. So müde.“

Auch Rosas Augen werden immer kleiner, bis ihre Lider friedlich zufallen. Sie wendet sich von mir ab, sinkt zurück in ihr Bett. Ihre Stimme bricht, die Stille schluckt ihre Worte, lässt mich allein mit mir und meinen Gedanken und dem brennenden Mond.

Verrückt. Rosa ist viel mehr als das. Verrückte Menschen sprechen Wahrheiten, die uns die Lippen verbrennen würden. Wir sollten alle etwas verrückter werden.

Manchmal versuche ich es auch. Suche nach den Stimmen, die sich irgendwo in mir verstecken, aber noch nicht herauswagen. Es liegt in der Familie, sagen sie, ohne zu wissen, dass es eigentlich die Familie ist, die in einem liegt. Verrückt, sagen sie, ohne zu wissen, dass es so viel mehr ist.

Ich verirre mich in meinem Gedankenreich, verheddere mich in dem klebrigen Netz. Ich muss hier raus. Krämpfe im Kopf.

Ich stehe auf, werfe einen letzten Blick aus dem Fenster, dann auf Rosa.

Sie schläft.

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages entlocken der Nacht ihren letzten Atemzug. Der Mond verblasst am Horizont, die Nachtgespräche verklingen. Die Welt tut weh, aber ein bisschen weniger.

 




Envoyé: 03:30 Sun, 15 March 2020 par: Roth Kiara