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Mahr Anouk

Under



Busfahren ist scheiße.

Es ist scheiße, angefangen damit, dass jeder jeden kennt. Geballte Fäuste knallen gegeneinander, Schultern werden geklopft, es wird laut gelacht.

Nur nicht in die Richtung schauen.

Jeder hat seinen Stammplatz. Doch die mit Mühe erhaltene Ordnung wird immer wieder durcheinandergebracht, wenn Fremde in den Bus steigen. Stammplätze verschwinden, Menschen werden obdachlos, Hektik eilt durch den Gang. Man will sich nur noch hinsetzen und lässt sich auf einen Platz fallen, der kein Fensterplatz ist, kurz bevor man merkt, dass man die Person neben sich kennt. Und dass man sie nicht ausstehen kann.

Der Bus hupt, torkelt von einer Straßenseite zur anderen, es wird gegrölt, Menschen drängen sich im Gang. Der Auspuff klingt unerträglich laut. Die Türen quietschen unerträglich schrill.

Und man kann alles hören. Die Leute, die man am meisten hört, haben sich hinten versammelt und turnen auf den Plätzen herum. Man versucht verzweifelt, die Musik lauter zu drehen, doch es geht nicht mehr.

Und man hört alles. Im Hintergrund dröhnt andere, blecherne Musik aus den Lautsprechern, zerstückelt von den Stimmen der Leute hinten im Bus. Und so werden die Noten, die eigentlich zum Wohl der Fahrgäste gedacht sind, zu einer unheilvollen Aneinanderreihung von grellen Tönen und Bestandteil der oberflächlichen Welt. Zu einem Bestandteil des Busfahrens.

Und so sitze ich mit einem dumpfen Pochen in der Brust da, auf dem richtigen und doch falschen Sitzplatz, und werde unfreiwillig Zeugin davon, wie das Unheil hinter mir seinen Lauf nimmt.

„Wie heißt das Lied?“, fragt das Mädchen. Der Tonfall klingt zu beiläufig. Sie macht es falsch. Sie weiß nicht, dass Maßnahmen, die man nimmt, um unauffällig zu sein, gerade zur Auffälligkeit beitragen.

Lachen. „Du kennst es nicht? Das ist nicht überraschend.“

Freundinnen sprechen nicht in diesem Ton miteinander.

In diesem Bus gibt es keine Freundinnen.

„Doch, ich kenne es.“   Verunsichert darf man nicht klingen. Nicht wenn man hinten im Bus sitzt. Es ist besser, überhaupt nicht zu reden. Es sei denn, man gehört zu den Leuten.

„Tja, warum fragst du dann?“ 

„Ich wollte nur den Titel wissen.“

Vielleicht gibt es bei den Einstellungen im iPod eine Option, wo man das Lied insgesamt lauter einstellen kann. Obwohl das ja schlecht für die Ohren ist. Aber ist es nicht auch schlecht für die Ohren, immer alles gleichzeitig zu hören und nichts auszublenden? Dazu soll der Mensch ja fähig sein. Nur das zu hören, was man wirklich hören will.

Es ist ein grauer Tag. Grauer Bus, grauer Tag. Die Regentropfen sind von außen an die Fensterscheiben geklebt worden.

„Aha.“

Es gibt mehrere Arten, wie man Wörter aussprechen kann. Jede Art bedeutet etwas vollkommen anderes. Es gibt das interessierte „Aha“. Es gibt das witzige „Aha“. Und es gibt ein „Aha“, das die Meinung ausdrückt, dass der Gegenüber wieder mal versucht hat, etwas zu beteuern, das überhaupt nicht stimmt. Es ist ein bösartiges „Aha“.

„Findest du es schön?“, fügt die Freundin hinzu. Die Betonung liegt auf dem letzten Wort. „Nein, nein. Ich wollte nur … nein.“

Die Leute hinter ihnen kennen die beiden Mädchen.

Die Leute hinter ihnen finden das wahnsinnig interessant.

„Du findest es schööön!“, grölen sie. „Und du weißt nicht, wie es heißt?“  Bedauern.

Nein, nein. Ein Mädchenname. Er scheint oft in diesem Tonfall ausgesprochen zu werden.

Aus welchen Grund setzt man sich zu solchen Leuten?

Ich schaue den langen Bahnen zu, die die Regentropfen ziehen. Bald werden sich zwei treffen. Wie Magneten ziehen sie sich an. Und plötzlich ist es nur noch ein Regentropfen – ohne, dass man die beiden miteinander verschmelzen sieht. Warum ist der ganz neue Tropfen nicht größer als die beiden einzelnen, aus denen er besteht? Wie kann das überhaupt möglich sein?

Draußen ist die Großstadt. Die Häuser sehen aus, als seien sie alle von derselben Baufirma errichtet worden. Die Fassaden haben es geschafft, alle auf eine andere Art verblichen auszusehen.

Hektische Menschen. Wilde Gesten. Sorgenvolle Gesichter werden im Sekundenbruchteil erhascht, der Bus fährt weiter, und trotzdem ändert sich nichts.

„Weißt du, genau das finde ich so blöd an dir. Du lügst wie gedruckt. Und das ständig.“

„Ehrlichkeit ist alles“, grölt der Chor.

„Nein, Lügen ist etwas anderes.“  Weinerlich darf man nicht klingen. Nicht, wenn man hinten im Bus sitzt. Es ist besser, überhaupt nichts zu sagen. Die Uhr tickt weiter. Mit jedem Atemzug.

Die Musik entschwindet. Stattdessen unheilvolle Töne. Eine Frauenstimme singt dramatisch, mit langgezogenen, aber voraneilenden Noten über eine unglückliche Liebe. Der Text ist nicht wichtig. In Wirklichkeit ist die Liebe in den Songs doch immer unglücklich.

Weshalb sollte man sonst ein Lied dazu schreiben?

„Weißt du eigentlich, wie nervig solche Leute sind? Die ständig behaupten, Dinge nicht gesagt zu haben, kurz nachdem sie sie ausgesprochen haben? Widerwärtig sind solche Leute.“

„Warum suchst du dir nicht eine neue Freundin?“

„Guter Tipp“, erwidert die Freundin lachend, bestimmt hat sie sich zum Sprecher umgedreht.

Sie ist keine Freundin. Nur die Sitznachbarin. Mit der man vielleicht spricht.

Das Mädchen sagt überhaupt nichts mehr. Endlich hat sie es gelernt. Nur zu spät.

Ich drücke die Kopfhörer fester in meine Ohren und starre aus dem Fenster.

Es gibt nichts zu hören in der Welt.

Die Musik der anderen spielt falsch. Sie lügt. Deshalb höre ich lieber meine eigene.

Der Auspuff klingt unerträglich laut. Die Türen quietschen unerträglich still. Ein Lachen erhebt sich im hinteren Teil des Busses. Weglaufen.

Es ist gut, wenn man keinen Sitznachbar hat. Dann fühlt man sich nicht so beengt. Und man kann leichter aussteigen.

Niemand mag sie wirklich. Die Sitznachbarinnen. Sie mögen sich nicht einmal selbst. Eigentlich sind alle Menschen Sitznachbarinnen. Man muss nichts sagen. Es ist einfach angeboren.

Und alles, was man sehen und anfassen kann, ist eine Lüge. 

Der Bus fährt davon, bläst uns seine Abgase ins Gesicht. Beklemmung hinterlässt Leere.

„Under“, sage ich.

Das Mädchen wirft einen kurzen, ausdruckslosen Blick in meine Richtung.

„Das Lied heißt Under“, sage ich.

Und gehe.




Envoyé: 14:50 Mon, 27 February 2017 par: Mahr Anouk