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Harsch Pit

Der Plan

Der Plan

 

Bereits in Kindesjahren wusste J. dass er zu Großem bestimmt sei. Dass Kinder große Träume haben ist erst mal nichts Ungewöhnliches; manche träumen davon Astronaut, Sänger oder Prinzessin zu werden, und geben diesen Traum erst langsam und widerwillig mit dem Ende ihrer Kindheit auf. Manch einer wird seinen Kindheitswunsch auch niemals gänzlich los, sondern spürt ihn auch noch während den Jugend- und Erwachsenenjahren untätig unter der Brust schlummern, wenn auch immer schwächer und müder werdend, bis er in den späten Arbeitsjahren mit den Kräften des Körpers sich vorsichtig verabschiedet, als dass sie dann gemeinsam aus dem lebensmüden Leib heraus fließen, träge und schwer, wie eine zähe Flüssigkeit aus einer umgekippten Flasche. Erst in diesem Augenblicke, da jener naive Kinderwunsch sich dem Willen entzieht, merken die Betroffenen dann erstaunt, dass er stets da gewesen war, heimlich und unauffällig, seit er im Angesichte der wichtigen Lebensaufgaben vergessen worden war und sich seitdem nicht mehr zu rühren getraut hat. Es lässt sich nicht verhindern, dass sich an seiner Stelle eine vage Nostalgie einnistet, die die Betroffenen für einige Zeit wehmütig auf die gelebten Jahre zurückblicken lässt, aber der Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Kinderwunschs und der reuartigen Stimmung bleibt meist unerkannt, denn ein solcher Prozess spielt sich stets verborgen im Unbewussten ab, und auch ist diese Stimmung flüchtig und vergeht nach kurzer Zeit, bevor sich ein Betroffener näher damit auseinandersetzen müsste.

Bei J. jedoch, verhielt sich die Sache andersartig. Es war kein Traum oder Wunsch der ihm innewohnte, sondern eine Gewissheit, deren Ursprung in ihrer Selbstverständlichkeit unkenntlich wurde, und die auch gegen Ende der Kindheit nicht schwächer oder müder wurde, sondern im Gegenteil, erst während der Jugendjahre an Stärke gewann und zu Vollkommenheit heranreifte. Vielleicht spielte der Umstand eine Rolle, dass J. das einzige Einzelkind in dem kleinen Landdorfe gewesen war, was daran gelegen hat, dass sich die Mutter nach seiner Geburt einer Gebärmutteroperation unterziehen musste, die zu ihrer Unfruchtbarkeit führte. Vielleicht trug auch die Strenge und Härte des Vaters dazu bei, der ihn schon in Kindesjahren mit der mühseligen Arbeit eines Bauern vertraut machte, und unter Drohungen und manchmal auch Schlägen zu unzumutbarer Leistung zwang, als wenn er damit den Verlust der Fruchtbarkeit seiner Frau wettmachen wollte. Manche behaupteten aber auch J. sei bereits mit dieser Gewissheit geboren worden, es sei ihm von Gott in die Wiege gelegt worden, oder aber, je nachdem ob man es als Segen oder Fluch betrachtete, es sei unverwechselbar das Werk des Teufels gewesen.

Jedenfalls war er von keinem geringeren Gedanken heimgesucht, als den, die Welt zu verändern, und bemühte sich auch nicht darum die Gewissheit unter dem Kleid der Bescheidenheit zu tarnen, sondern rieb es den Leuten bei Gelegenheit frech unter die Nase. „Ihr werdet noch sehen!“, pflegte er voll Selbstüberzeugung zu sagen, und diesen Satz konnte nicht einmal der Vater aus ihm herausprügeln, er hatte sich ihn verinnerlicht wie Fromme das Amen und ihn zu einem Teil seines Wesens gemacht, untrennbar und unwiderruflich. Um seiner Gewissheit gerecht zu werden musste J. einen Plan schmieden, einen Plan alle Hindernisse, einschließlich der finanziellen Hürde und der Doktrin seines Vaters, aus dem Weg zu räumen, und sich um jeden Preis die nötigen Mittel und die Macht, sie uneingeschränkt nutzen zu können, zu verschaffen. Geduldig beendete er vorerst seine Schule, unterwarf sich dem Willen seines Vaters auf dem Bauernhof zu knechten und erduldete auch die bittere Armut, die seine Familie aufgrund fehlender Arbeitskraft heimsuchte.

An einem warmen Sommertag, Mitte Juli, erwachte J. mitten in der Nacht und spürte, dass die Zeit gekommen war. Jahrelang hatte er gegrübelt und geknobelt, seinen Plan in die Tat umzusetzen, sich manchmal des Nachts rausgeschlichen um nötige Beobachtungen und Überprüfungen anzustellen und viele Stunden damit zugebracht, die Tat in Gedanken durchzugehen, jedes Detail beachtend und jede Kleinigkeit bedenkend, hinarbeitend zu jenem Tage, an dem er sich bereit fühlen würde. Nun wollte er nicht länger warten, er spürte in seinem Körper ein Glühen, ein Sprühen wie von einem riesigen Feuerwerk unter dem sein Inneres zitterte und bebte, ein Verlangen, eine Ungeduld, ein Hunger der gestillt werden musste. Er schlief nicht mehr, sondern wiederholte zum tausendsten Male den Plan in seiner Phantasie, überdachte seine Vollständigkeit und Ausführbarkeit, wägte die wahrscheinlichen, möglichen und unmöglichen Vorkommnisse ab, und gelang zu der Überzeugung Alles bis zur Perfektion durchdacht zu haben.

Am Morgen stand er bereits vor dem Krähen des Hahns in seiner Arbeitskleidung im Hühnerstall und putzte und schrubbte, und arbeitete auch sonst den Rest des Tages verbissener und angestrengter als je zuvor, nicht etwa eines schlechten Gewissens wegen, sondern um sich zu zerstreuen und dem Tag seine Länge zu nehmen. Er melkte die Kühe, spannte neuen Draht um die Felder, half seinem Vater beim ausmisten, ließ sich widerspruchslos von ihm diktieren, erduldete die Missbilligungen und wehrte sich nicht gegen die Beleidigungen. Zum ersten Mal war der Vater während des Abendessens still, und beschwerte sich nicht, wie sonst, bei der Mutter über die Faulheit und Unnützlichkeit des Jungen, sondern aß schweigsam, mit gesenktem Blick, als würde er sich schämen seine Autorität nicht durch die übliche Moralpredigt unter Beweis stellen zu können. J. grinste überlegen und selbstzufrieden in sich hinein und schwelgte ein wenig in der Genugtuung, bis seine Gedanken wieder von dem Bevorstehenden ergriffen wurden und er eiliger als sonst der Mutter beim Geschirrspülen half, um sich schnellstmöglich in sein Zimmer zurückziehen zu können. In seiner Unruhe fiel ihm ein Glas zu Boden und zerbrach, worauf der Vater nun doch in den Genuss kam seine Autorität mit einer Schelle zu belegen, die J. aber wie gleichgültig über sich ergehen lies, nicht um den Vater zu provozieren, wie dieser in seinem Zorn schlussfolgerte, sondern weil ihm nichts daran gelegen war die Machtverhältnisse in dieser ärmlichen, kümmerlichen Familie in Frage zu stellen. Die Mutter hielt den Vater von einer weiteren Ohrfeige ab und schickte den Jungen in einem verärgerten Ton auf sein Zimmer, als würde sie ihn damit bestrafen, und fing daraufhin eine kurze Streiterei mit dem Vater an.

Als Ruhe einkehrte, und J. sich sicher sein konnte, dass sich beide in ihrem Schlafzimmer befanden, zog er leise einen zur Hälfte gepackten Koffer – er hatte ihn in der vergangenen Nacht aus dem Keller gestohlen - unter dem Bett hervor, öffnete seinen Kleiderschrank und tat seine restlichen Kleider und Besitztümer, es war nicht mehr viel, in den Koffer. Dann schlich er sich vorsichtig, die knarrenden Stufen überspringend, die Treppe hinunter, stopfte ein Pfund Schweinefleisch und Rattengift aus der Vorratskammer in einen Rucksack und entwendete ein langes, frisch geschliffenes Messer aus der Küche, das er vorsichtig im Innern seiner Jacke befestigte; er hatte eigens dafür eine Halterung angenäht. All dies tat er mechanisch, wie in Trance, von einem seltsamen Trieb eingenommen und ohne jede Überlegung. Auch verschwendete er keine Sekunde an Zweifel oder Reue, und blickte sich nicht einmal um, als er zur Vordertüre hinaus, den langen Feldweg entlang lief, der mit einem Schlenker zur Hauptsraße führte, den er jedoch kurz vor der Straße verließ um sich parallel dazu, hinter Gestrüpp und Gebüsch verborgen, fortzubewegen. Er kämpfte sich etwa eine Meile unter schwachem Mondlicht über Steine und Wurzeln, stolperte auch einige Male, verfluchte seinen unhandlichen Koffer, erreichte aber endlich den ersuchten Eingangsweg, welcher beidseitig von hohen, penibel gestutzten Hecken umgeben war und über eine Brücke zum eisernen Gittertor eines vornehmen Hofes führte. Majestätisch ragte im Licht des Mondes die Silhouette einer Villa hinter den Hecken hervor, die einem eigentlich Ehrfurcht oder zumindest eine Form von Würdigung entlocken müsste, J. in seinem Delirium jedoch vollständig kalt ließ und nicht annähernd seine Gefühle berührte. In diesem Anwesen hauste eine alte Witwe, allein und taub, nur von einem alten Wachhund geschützt, der hechelnd und horchend im Garten umherlief. Ihr Neffe war ein Klassenkamerad von J. gewesen, der unvorsichtigerweise mit dem Reichtum seiner Tante zu prahlen pflegte, und sein lockeres Mundwerk hatte dazu geführt dass J.’s Plan, an dem Tag, an dem der Neffe in seiner Tollheit mit glühenden Augen prahlte er habe soundso viel Geld im Heizungskeller seiner Tante gesehen, erste Grundrisse annahm.

J. machte einen Bogen um das Anwesen, nahm das Pfund Fleisch, in welches er mit dem Messer einige tiefe Schnitte getan hatte, drückte soviel Rattengift wie möglich in die Schlitze und warf das blutige Bündel mit aller Kraft über die hohen Hecken in den Garten der Witwe. Es gab einen dumpfen Aufschlag und im gleichen Augenblick sprang der Wachhund hinter dem Haus hervor, raste auf das Bündel zu und riss es auf brutale Weise auseinander, dass Stücke in hohem Bogen durch den Garten flogen, und man das Blut spritzen und das Fleisch reißen hören konnte. Trotz der großzügigen Menge, konnte es einige Stunden bis zur Wirkung des Rattengiftes dauern, weswegen J. nur langsam und vorsichtig mit der Ausführung seines Plans fortfahren konnte, der sich nun darin fortsetzte, mit dem Messer ein Loch durch die Hecken zu schneiden. Wie er damit beschäftigt war, verließ ihn doch nun dieser hitzige Trieb, der ihn von allen Gefühlen und Überlegungen frei gehalten hatte und wich einer kühlen Vernunft, die sich nun wie ein kalter Lappen auf seine Stirn legte und ihn zum ersten Mal dazu zwang sich selbst und seine Umgebung wahrzunehmen. Er war nicht unzufrieden mit dem bisherigen Fortgang seines Plans, doch schlich sich ein leichter Zweifel in seine Gedanken, fast unbemerkt, eine schwache, aber unbehagliche Vermutung, als wenn man zu einer Reise aufbricht mit dem Gefühl etwas Wichtiges vergessen zu haben. Er durchschnitt nunmehr schneller die kleinen Äste und Zweige, sammelte seine ganze Konzentration, zwang sie auf diese eine Tätigkeit, in der Hoffnung dadurch diesen triebhaften Zustand und die damit verbundene Zweifellosigkeit wieder herzustellen und durchdrang schneller als geplant die fast einen Meter breite Hecke. Das Loch war groß genug geschnitten, dass ein Mensch, aber auch ein Hund hindurch passen würde, und als J. den letzten dicken Ast aus dem Weg geräumt hatte, ließ der Wachhund, so als ob er den Eindringling spüren könnte, von seinem Fleischklumpen ab und stellte ein aggressives Bellen ein, dessen fürchterlichen Hall man bis ins Dorf hören musste. Aber diese Möglichkeit hatte J. natürlich bei der Planung einberechnet und wusste folglich instinktiv wie darauf zu reagieren war; er pfiff kurz und laut um den Wachhund anzulocken, welcher sofort mit seinem von Blut tropfenden Maul angelaufen kam, das Loch entdeckte und sich bellend darauf stürzte. Mit einer blitzschnellen Bewegung rammte J. ihm das Messer in den Schädel, das sich mit einem knirschenden Geräusch durch die Schädeldecke bohrte, unten am Halsanfang wieder raus kam, und dem sterbenden Hund dabei ein merkwürdiges, lang gezogenes Winseln entlockte. Dann verstummten das Tier und alle Geräusche mit ihm, es kam eine kühle Stille über die Umgebung, und einzig das Pochen seines eigenen Herzschlags hallte in J.’s Ohren wider, wie ein dumpfes Klopfen an einer dicken, schweren Holztür. J. wollte das Messer aus dem toten Hund ziehen, das sich jedoch widersetzte und sich erst bewegte, als J. eine Hand auf den blutverschmierten Hundekopf legte und mit der anderen kräftig am Schaft des Messers zog; mit einem schleifenden Krächzen kam es heraus, dickflüssiges Blut quoll aus der Wunde und der Kopf fiel geräuschlos in die Wiese. Von sich selbst erschrocken wich J. von der Hecke zurück, wischte das Messer im hohen Gras ab, als könne er damit sein Gewissen rein waschen und steckte es wieder in die Halterung seiner Jacke. Er blieb einen Moment reglos sitzen, wartete darauf dass das laute Pochen in seinem Kopf Beruhigung fand, und wiederholte sich in Gedanken sein Mantra: „Ihr werdet noch alle sehen!“ und „Ich bin zu Großem bestimmt.“ um die begangene Tat vor sich selbst zu rechtfertigen.

Es dauerte ein wenig bis ihn die vertraute Gewissheit wieder einholte, aber schließlich zwängte sie sich doch in den Geist, verdrängte alle Gewissensbisse und Zweifel, verbreitete sich, dem Leib neue Kraft gebend und die Sinne schärfend, durch die Adern, und stellte den tranceartigen Zustand wieder her, den J. für die Fortsetzung seines Plans bitter nötig hatte. Er ließ den Koffer und den Rucksack liegen, drückte sich durch das Loch in der Hecke, vermied es krampfhaft den toten Hundekörper anzusehen, selbst als er sich mit einer Hand versehentlich darauf stützen wollte, und landete endlich durch ein Fortstoßen der Füße auf der anderen Seite der Hecke, womit er sein erstes Hindernis erfolgreich überwunden hatte. Er rappelte sich auf, drückte den Kadaver mit einem Fuß unter die Hecke – nicht, dass es einen Unterschied machte, aber der Anblick des toten Körper störte ihn – und ging mit festem Schritt auf das Haus zu, wo er ohne weitere Überlegung mit der Rückseite seines Messers ein Fenster einschlug, die Glasreste wegmachte und mühelos hindurchkletterte. Obwohl ihm noch sehr viel Zeit bis zum Sonnenaufgang blieb, hatte J. das Gefühl sich beeilen zu müssen, und beachtete weder die schicken Möbel, noch die teuren Schmuckstücke, sondern suchte sofort nach der Kellertür, die er im vorderen Bereich der Villa vermutete, und auch nach ein paar Irrungen dort vorfand. Es war eine dicke, schwere Holztür, mit einem verrosteten Riegel davor, welcher sich nur schwer aus seiner Halterung heben ließ, und schlecht geölten Scharnieren, die bedrohlich knarrten als er mit aller Kraft an der Tür zog und sie sich widerwillig öffnete. Eine steinerne, von einer dicken Staubschicht bedeckte Treppe führte in einem Winkel hinunter und schien in der Dunkelheit zu verschwinden; ein Lichtschalter war nicht aufzufinden, und so musste sich J. eine Kerze anzünden und die Stufen unter dem schwachen, flackernden Licht hinuntersteigen, vorsichtig einen Fuß vor den nächsten setzend und sich mit einer Hand an der rauen Mauer stützend.

Es dauerte eine Ewigkeit bis er das Ende der Treppe erreichte, wo er zu seiner Erleichterung einen Lichtschalter fand, welcher beim Umlegen zwar das Geräusch einer anspringenden Lampe machte, jedoch kein Licht auszulösen vermochte, wahrscheinlich weil die Glühbirnen kaputt waren. Mit der zitternden Kerze also setzte er die Suche fort, durch einen verwinkelten Keller, der aus vielen kleinen Räumen, mit vielen verborgenen Ecken und vielen verschachtelten Durchgängen und Türen bestand. Da sich alle Räume in dem schwachen Kerzenlicht ähnlich schienen, hatte J. nach kurzer Zeit den Überblick verloren, welche davon er schon abgesucht hatte, und welche noch nicht, außerdem fragte er sich bereits besorgt ob er den Heizungskeller überhaupt finden würde, und wenn ja, ob er nachher dann auch die Treppe zum Erdgeschoss wiederfinden würde. Allmählich ging ihm auch sein Zeitgefühl verloren und er bereute es seine Taschenuhr im Koffer gelassen zu haben, statt sie sich, wie er sich eigentlich vorgenommen hatte, um den Hals gehängt zu haben. Nach einer langen Weile und etlichen gleich aussehenden Räumen fand er sich plötzlich vor einer Treppe, neben welcher er wieder einen Lichtschalter fand, der beim Betätigen jedoch weder ein Licht auslöste, noch wie vorhin ein Geräusch, das wenigstens darauf schließen lassen würde, dass der Schalter an ein Licht angeschlossen war. Erst da bemerkte J., dass er sich bei jener Treppe befand, welche er hinabgestiegen war und dass es folglich der gleiche Lichtschalter war, und das Geräusch ausblieb, weil er ja nun das Licht ausgeschaltet hatte; bei einer weiteren Betätigung des Schalters bestätigte sich sein Verdacht und das Geräusch einer anspringenden Lampe erklang wieder, jedoch auch dieses Mal ohne dass dabei ein Licht anging. Auf dem Boden bemerkte er nun seine eigene Fußspuren in der Staubschicht und auch einige Tropfen getrockneten Wachs, was in ihm eine gewisse Erleichterung auslöste, denn nun wusste er wie er sich wiederfinden und die bereits gefundenen Räume, von den noch Nichtgefundenen unterscheiden konnte.

Er setzte also seine Suche nun in Beachtung des Fußbodens fort, schlurfte weiter durch den endlos scheinenden Keller, von einem Raum in den nächsten, hinter jeder Tür mindestens zwei weitere vorfindend, einige waren mit Riegel verschlossen, andere aber standen offen oder waren nur angelehnt. Die meisten Räume waren leer, nur manchmal standen und lagen Fässer, Werkzeuge oder kaputte Möbelstücke unter dicken Spinnweben fast unkenntlich herum, und manchmal verliefen rostige Rohre an den Maueren oder der Decke entlang und J. glaubte sich im Heizungskeller zu befinden, was sich jedoch jedes Mal als Trugschluss offenbarte, denn nirgends war die Heizungsanlage zu sehen. Nun war er doch langsam der Perfektion seines Plans unsicher, die mechanische Triebhaftigkeit hatte ihn unbemerkt verlassen, die Zweifel wieder eingesetzt, ein Unbehagen sich breit gemacht und er wurde sich zum ersten Mal der Lächerlichkeit seiner Gewissheit bewusst. Plötzlich fand er hinter einer Tür einen großen Raum, mit etlichen, verworren Rohren, Stangen, eisernen und steinernen Behältern, und einem Lichtschalter, der tatsächlich eine schwache Glühbirne zum Flackern brachte, und die in der Mitte des Raums, etwas tiefer gelegene, riesige, rostbraune Heizungsanlage sichtlich machte. Das Herz hüpfte, die Gewissheit kehrte in Form von Genugtuung wieder, und alles schlechte Gewissen und Zweifel verflog mit einem Mal; nun galt es nur noch das Geld zu finden und J. könnte seinen Plan vollenden, könnte im Morgengrauen ein Zugticket kaufen und noch bevor die Eltern sein Verschwinden bemerken, die Grenze überquert haben, um am nächsten Tag und dreimaligen Umsteigen in Wien anzukommen, dort eine Wohnung zu suchen und sich sogleich an der berüchtigten Universität anzumelden, der besten Universität Europas in Geistes- und Sozialwissenschaften, an der bereits Studenten wie Theodor Meynert und Sigmund Freud ihre Größe erlangten. J. würde in ihre Fußstapfen treten, er würde Medizin und Philosophie studieren, er würde weltweit wirkende Theorien formulieren, Bücher schreiben, die die Weltgeschichte beeinflussen, eine Revolution auslösen und schließlich seinen Namen für die Menschheit unvergesslich machen. Eifrig machte er sich daran all die verstaubten und verrosteten Behälter aufzuschließen, manche Schlösser musste er mit dem Messer aufbrechen, bis er schlussendlich den einen Wandschrank fand, der neuer und sauberer als all die anderen wirkte und sich erstaunlicherweise ohne große Mühe öffnen ließ und den Blick auf riesige, gestapelte Geldbündel freigab. Es war mehr als er sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte und würde mühelos reichen um seinen Plan erfolgreich zur Vollendung zu bringen; er würde sich alle Hindernisse auf einmal aus dem Weg räumen können und endlich seiner Gewissheit gerecht werden.

Nun hatte er nur folgendes Problem: Er wusste nicht wie er das ganze Geld transportieren sollte, denn den Rucksack hatte er in seinem Eifer und Leichtsinn draußen hinter den Hecken liegen lassen, neben dem Koffer, und es würde zuviel Zeit kosten den Weg aus dem verwinkelten Keller herauszufinden, den Rucksack zu holen, den Weg in den Heizungskeller zurückzufinden, das Geld einzupacken und zum zweiten Mal den Ausweg aus dem Labyrinth zu bewältigen, denn dann würde es sicherlich hell sein, die alte Witwe wach und der tote Hund gefunden. Ein kalter Schweißtropfen lief J. den Nacken hinunter und er schüttelte sich ratlos. Da fing plötzlich die Heizungsanlage mit einem lauten Zischen zu arbeiten an und alle Rohre und Stangen schienen sich in Bewegung zu setzen und gemeinsam zu einem einzigen, lärmenden Gedränge zu werden.

 

 

[Gender-Disclaimer: Die in der Kurzgeschichte verwendete männliche Form bezieht sich immer gleichzeitig auf weibliche und männliche Personen.]

 




Envoyé: 15:37 Sun, 3 October 2021 par: Harsch Pit