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Gira Tina

Die Mutprobe



Endlich, endlich war es so weit. Schon seit Wochen hatte ich mich auf diesen Tag gefreut. Den Tag, an dem die ganze Klasse einen Kletterpark besuchte. Das waren nicht meine Worte. In Wahrheit hatte ich eine Heidenangst vor dem Kletterpark. Aber das durfte ich nicht zeigen, nicht wenn ich dazugehören wollte. Weiter hinten im Bus ertönte Gekicher und Gequieke. Das waren sie, unverkennbar. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um das herauszufinden. Das waren Chiara, Rosalynn und Alicia. Gemeinsam bildeten die drei die beliebteste Clique der Schule. Und vielleicht gehörte ich auch bald dazu. Vor drei Tagen hatte ich meinen ganzen Mut zusammen genommen und ihnen gestanden, dass ich auch gerne zu ihrer Clique gehören wollte, dass ich nicht länger das kleine, unscheinbare Mädchen sein wollte. Erstaunlicherweise hatten sie mich nicht ausgelacht, sondern mir versichert, im Kletterpark würde ich die Möglichkeit dazu bekommen. Meine Angst vor dieser ,,Möglichkeit“ hatte ich bis jetzt gekonnt ignoriert, doch nun, als der Bus mit quietschenden Reifen stehen blieb, beschleunigte sich mein Herzschlag und meine Knie wurden weich. Es war so weit. Der Moment war gekommen.

,,Hey! Amalia! Amalia!“ Beim Klang meines Namens zuckte ich zusammen. Nein. Das war Chiaras Stimme. Dabei hatte ich nach einer geschlagenen Stunde gedacht, sie hätten mich vergessen. Aber nein… Die drei Mädchen hatten sich in einem Gebüsch zusammengekauert und winkten mich heran. Ich fügte mich meinem Schicksal und schlich zu ihnen. „Was ist?“, zischte ich nervös. Wenn unsere Lehrerin uns hier entdecken würde… „Deine Mutprobe!“, flüsterte Rosalynn verheißungsvoll und zauberte einen dicken Schal aus der Tasche ihres Sweatshirts. Wie auf ein geheimes Kommando hin hielt Alicia mich fest, während Rosalynn mir die Augen verband. Die plötzliche Finsternis ließ mich aufkeuchen. „Komm mit!“, sagten die drei wie aus einem Munde und nahmen mich an den Händen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste ihnen folgen.

Mit der Augenbinde kam mir jede Sekunde wie eine Stunde vor. Blind stolperte ich durch das Unterholz des Waldes, in dem der Kletterpark stand, bis mit einem Mal der Schal vor meinen Augen verschwand. Wegen des unerwarteten Sonnenlichts musste ich blinzeln und brauchte eine Weile, um mich zu orientieren. Wir standen vor dem allerhöchsten und schwierigsten Parcours. Von da oben bis zum Boden mussten es allermindestens zehn Meter sein. Chiara, Rosalynn und Alicia standen schon bei der Leiter, weshalb auch ich schnell dorthin huschte. „Eigentlich solltest du diesen Parcours absolvieren. Als Mutprobe, versteht sich“, begann Chiara  „Aber wir haben von deiner Höhenangst gehört und deshalb genügt auch der zweithöchste“, erklärte Rosalynn mir gönnerhaft. Ich schluckte. So viel kleiner war der nun auch wieder nicht. Aber das hier war meine einzige Chance. Ich musste meine Angst überspielen. Tief holte ich Luft: „Na, wenn’s weiter nichts ist…“

„Oh doch!“ Zeitgleich fingen die drei an, an meiner Hüfte herumzufummeln und klirrend fiel etwas auf den Boden. Meine Sicherung. Als sie meinen entsetzten Blick bemerkte, grinste Chiara fies. „Sonst wär’s dann aber doch zu leicht“, raunte sie. Meine Atmung beschleunigte sich, mein Magen krampfte sich zusammen. Das konnte doch wohl nicht ihr Ernst? Sie schickten mich in den sicheren Tod! Immer näher kamen sie auf mich zu, drängten mich nach hinten, bis ich mit dem Rücken an der Leiter stand, die zum Parcours hinaufführte. Ich hätte ihr Shampoo riechen können, so nah waren sie mir. „Also?“, grinste Chiara. Sie sah mir genau an, dass ich das nicht machen wollte. „Denk daran, wem wird die Klasse wohl glauben, wenn plötzlich sehr schlimme Dinge geschehen, mit denen du angeblich nichts zu tun hast?“

Meine Augen weiteten sich ungläubig. Nein, das ging zu weit. Ich konnte das hier nicht wirklich machen. Aber wenn nicht… Zögernd drehte ich mich um, berührte mit einer Hand die Leiter. Meine Gedanken wanderten zu meinen Eltern, zu meinem kleinen Bruder Jakob, zu… Nein. Ich wäre verrückt, wenn ich das jetzt wirklich machen würde. Diese Mutprobe war verrückt. Diese Mädchen waren verrückt. Ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Mein Wunsch, auch zu ihnen zu gehören, war jetzt meilenweit entfernt. Ich hatte die Menschen erlebt, die unter der beliebten, glänzenden Schale steckten. Und mit denen wollte ich nichts mehr zu tun haben.

„Nein. Schlagt euch das aus dem Kopf“, erwiderte ich mit fester Stimme, schob Rosalynn ein Stück zur Seite und rannte los. Ich wollte nur noch weg. Es gab bessere Wege, um Freunde zu finden. Ich war froh, dass ich mich geweigert hatte. Und nie, nie mehr würde ich mich überhaupt auf so etwas einlassen, das schwor ich mir. Vor Kurzem, als ich die drei Mädchen in der Stadt getroffen hatte, erzählten sie mir, sie hätten das gar nicht ernst gemeint. Ob das stimmt, bezweifele ich. Aber egal. Mit ihrem Rauswurf aus der Schule haben sie ihre rechtmäßige Strafe bekommen. Und meine beste Freundin Sofia ist eh viel besser als sie alle zusammen!


 

 




Envoyé: 18:31 Sun, 24 February 2019 par: Gira Tina