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Urwald Céline

Die geheimnisvolle Begegnung

 

Kapitel 1

RUMMS! Und gleich darauf nochmal. RUMMS!

„Aufstehen Lina, aufstehen!”, plärrten die Zwillinge. Ich guckte auf den Wecker: 06:01!? Sind die wahnsinnig!?

Also ich habe ja nichts gegen die beiden, sie können wirklich süß sein, aber jeden Morgen um sechs Uhr geweckt zu werden? Selbst in den Sommerferien? Muss nicht unbedingt sein. Während ich mich seufzend aus meinem Bett erhob, erkundeten die Zwillinge mein neues Zimmer. Es war die erste Nacht, die ich in meinem neuen Zimmer verbracht hatte. Wir waren nämlich umgezogen; und leider nicht wie in den Filmen in eine Stadt, sondern in ein verschlafenes Kaff.

Die Zwillinge waren gerade dabei, die Schubladen meines neuen Schreibtisches aufzuziehen. „Oh sieh mal Hannah, hier ist Nagellack!”, rief Lana. Hannah kam angeflitzt. „Ja, super. Lackieren wir uns die Nägel!”, rief auch Hannah ganz begeistert. Gerade noch rechtzeitig nahm ich ihnen das hellblaue Gläschen weg. Die Zwillinge bettelten: „Och bitte Lina, wir lackieren uns so gern die Nägel.” Das konnte ich mir nur allzu gut vorstellen. Und ich wusste auch, was für eine Schweinerei das werden würde. „Hhmm, wie wär’s, wenn wir stattdessen Pfannkuchen backen?”, schlug ich vor. „Oh ja”, jauchzten die Zwillinge und sausten die Treppe runter. Als ich die Tür schloss, warf ich noch einen Blick in mein neues, perfektes Zimmer.

Es war wirklich schön geworden. Die Wände waren in unter­schiedlichen Blautönen gestrichen und mein neues Bett zeigte sich in himmelblau von seiner besten Seite. In meinem Zimmer befanden sich außerdem ein riesiger meerblauer Sitzsack und ein türkisfarbener, verschnörkelter Schreibtisch; nicht zu vergessen, mein neuer Schrank. Obwohl der eigentlich gar nicht neu war, sondern nur in türkis gestrichen. Ich glaube, es war nicht zu übersehen, dass meine Lieblingsfarbe blau ist.

„Lina, bist du das?”, rief Thomas schlaftrunken aus dem Nebenzimmer, als ich die Treppe hinunterging. „Ja, ich hab’ den Zwillingen versprochen Pfann­kuchen mit ihnen zu backen”, antwortete ich ihm. „Ach so, danke. Ruf mich, wenn du mich brauchst.” „Alles klar, aber ich glaube, ich komme zurecht”, erwiderte ich. Thomas würde ab morgen mein offizieller Stiefvater sein. Ich mochte ihn wirklich gerne. Thomas und Mom sind schon seit Ewigkeiten zusammen, aber sie wussten lange nicht ob sie nur frisch verliebt waren, oder ob die Liebe für immer bleiben würde. Also, wenn ich ehrlich sein soll, finde ich das richtig bescheuert. Mom sagte das sogar noch, als beide schon ganze 5 Jahre zusammen waren.

Ich suchte mit den Zwillingen alle Zutaten zusammen, die wir zum Backen benötigten. Während Lana alles abwog, zeigte ich Hannah, wie man die Pfanne einfettete.

„So und jetzt aufgepasst”, sagte ich wie eine Dompteurin. Ich warf den Pfannkuchen hoch in die Luft, drehte mich einmal im Kreis und fing ihn elegant wieder auf. „Puh, geschafft”, dachte ich erleichtert. Die Zwillinge applaudierten begeistert. „Warum schaut ihr nicht ein bisschen fern, während ich die restlichen Pfannkuchen zubereite?”, fragte ich. Doch ich bekam gar keine Antwort mehr, denn die Zwillinge saßen schon auf dem Sofa. Sie waren gerade dabei, sich zum dritten Mal zu streiten, was sie denn jetzt schauen wollten, als ich zum Essen rief. Erstaunlicherweise war Mom heute nicht dabei. Ich fragte Thomas, ob er wüsste wo sie hin war. „Sie holt das Kleid ab. Für morgen.” Ach ja, stimmt. Die Hochzeit. Und die Torte. Ich werde sie gleich nach dem Essen dekorieren. Ich habe mich für einen fruchtigen, aber trotzdem süßen Biskuitteig entschieden. Es würde eine dreistöckige Torte werden, mit weißer Glasur, von der hellrosa Lilien purzeln. Die Torte würde ich noch am gleichen Tag mit einem Schokoladenherz verschönern.

 

Kapitel 2

Mom kam erst nach dem Mittagessen zurück. Sie erklärte, es hätte länger gedauert, weil die Kundin vor ihr, sich einfach nicht zwischen all den vielen Hochzeitskleidern entscheiden konnte. Dabei hatte sie DREI Stunden vor Mom einen Termin. Schlussendlich hatte sie dann aber GANZE FÜNF STUNDEN gebraucht!!! Mom hingegen musste nur das Kleid vom Ständer nehmen, war nach 5 Minuten fertig und konnte gehen. Bei ihr hatte es vor 8 Wochen ja auch lange gedauert, ein Kleid auszusuchen - schließlich sollte es perfekt sein - aber 5 Stunden waren schon heftig.

Und jetzt saß sie am Küchentisch und aß einen Pfannkuchen nach dem anderen. Sie erzählte mir, dass sie sofort nach dem Mittagessen wieder los müsse, um sich die neue Reithalle anzuschauen. „Hey, warum kann ich nicht mitkommen?”, fragte ich Mom. Sie antwortete: „Na, du wolltest doch heute mit Thomas deine Schulsachen besorgen. Und auch selbst ein Handy aussuchen. Denn wenn ich es kaufe, da bin ich mir ziemlich sicher, wird es dir nicht gefallen.” Ach ja, das hatte ich vollkommen vergessen! Endlich, endlich bekam ich ein eigenes Handy! Außerdem musste ich noch die Torte dekorieren. Hatte ich fast vergessen.

  • „Mom, was ich dich noch fragen wollte: Wann kommen eigentlich die Pferde?”
  • „Sie sollten eigentlich erst in einer Woche die Boxen belegen, aber alle Ställe sind schon fertig, deshalb habe ich den Verkäufern gesagt, sie könnten die Pferde auch schon eher bringen”, antwortete sie mir. „Du musst mich unbedingt zum Stall mitnehmen, wenn die Pferde da sind”, schärfte ich ihr nochmal klar und deutlich ein.

Die Torte war nun fertig und ruhte im Kühlschrank. Das Schokoherz war mir diesmal wirklich perfekt gelungen. Außerdem hatte ich mein Meisterwerk noch mit einem Schriftzug verziert:

Der Liebe zu begegnen ohne

sie zu suchen, ist der

einzige Weg sie zu finden.

Ich saß mit Thomas im Auto, um ins Kaufhaus zu fahren und war richtig aufgeregt. Keine Ahnung wieso. Eigentlich war es überhaupt nicht aufregend oder spektakulär, ein Handy auszusuchen. Aber ich war nun mal sooo aufgeregt. Es war einfach so und mir darüber den Kopf zu zerbrechen brachte auch nichts.

Nach einigem Zögern hatte ich eine Tasche und alles andere, was ich für die Schule benötigte, gekauft. Fehlte nur noch das Handy. Wir gingen zum Elektronikgeschäft und Thomas sagte zu mir, dass ich freie Wahl hätte. Ich ging durch die Reihen. Es gab so viele verschiedene Modelle. Ich probierte aus, welche Handys mir am besten in der Hand lagen. Ein bisschen erinnerte mich das an den Kauf eines Pferdes. Dort checkte man auch immer jedes noch so kleine Detail. War das Pferd irgendwann verletzt gewesen, sodass man es möglicherweise noch schonen musste? Wie viele Siege hatte es schon errungen? Wie lange war das Pferd noch in Topform? Wie lange konnte man es ohne Bedenken reiten? Entsprach es meiner Größe? Harmonierte es mit mir? War es nicht zu schreckhaft? Gab es besondere Dinge, auf die man achten musste, wie zum Beispiel Allergien, … Es gab unendlich viele Kleinigkeiten, auf die man achten musste, um das Beste zu kriegen. Nun gut, ich weiß jetzt echt nicht, ob ein Handy eine Allergie haben kann ...

Irgendwann hatte ich mein Traumhandy gefunden. Es war ein silbernes IPhone 11. Ich hatte mir eine durchsichtige Hülle gekauft. Alles, was zu sehen war, war der Umriss eines Pferdekopfes. Ich dachte an die neue Schule. Was wohl ein Fehler war, denn immer, wenn ich daran dachte, bekam ich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ich hatte zwar mittlerweile alle meine Sachen, die ich für die Schule brauchte und fühlte mich auch ein bisschen besser, doch ich hatte niemanden, den ich kannte, zu dem ich gehen konnte, wenn ich mich unwohl fühlte. Niemanden, dem ich an meinem ersten Schultag an der Peter-Baumann-Schule „Hallo“ sagen konnte. Ich hoffte immer noch, dass ich in den restlichen zwei Wochen der Sommerferien noch Freundschaften in meinem neuen Zuhause schließen würde. Normalerweise hatte ich keine Probleme damit, neue Freunde zu finden, aber in Springles ist es so, dass man ab der 4. Klasse in ein sogenanntes Pré-Gymnasium geht. Und, weil ich ja jetzt in die 6. Klasse gehen würde, kannten sich alle anderen schon zwei Jahre. Ich fand das irgendwie blöd. Warum hatte meine Mutter Thomas nicht erst nächstes Jahr kennengelernt, denn dann würden die anderen sich auch zum ersten Mal sehen, weil ich ja dann endlich auf dem Gymnasium wäre, und es wären noch keine Cliques gebildet wie jetzt. Jedenfalls stellte ich mir das so vor. An meiner alten Schule war das auch so. Ich war auch in einer Clique. Und zwar zusammen mit meinen besten Freundinnen Lena und Marie. Oh wenn ich nur an sie dachte, machte sich ein wehmütiges Gefühl in meinem Bauch breit. Wie oft waren wir durch die Straßen gebummelt, hatten das Kaufhaus gestürmt und auf unserer kleinen Lieblingsbrücke über dem Kanal, Kirschkerne ins Wasser gespuckt. Jetzt war all das vorbei.

„Lina, träumst du?”, riss Thomas mich aus meinen Gedanken. „Hier.” Er hielt mir sein Handy hin. „Mom will dich sprechen.” Ich nahm das Handy entgegen.

  • „Hi Mom.“
  • „Ah hallo Schatz. Sag mal, hast du vielleicht Lust rüber­zukommen. Die Pferde sind da.“
  • „Echt? Jetzt? Schon?“
  • „Ja. Als der Mann mir am Telefon gesagt hat ein Teil der Pferde könnte früher hergebracht werden, dachte ich auch nicht, dass sie schon am gleichen Nachmittag eintreffen würden.“
  • „Und welche Pferde sind schon da?“
  • „Tja, das verrate ich dir noch nicht, aber ich rate dir eins: Zieh dir eine Reithose an! Lina, tut mir leid, aber ich muss Schluss machen. Am besten du läufst zu Fuß von zuhause aus in den Stall. Ich kann dich leider nicht mit dem Auto abholen. Ich möchte die neuen Pferde nicht alleine in der fremden Umgebung lassen. Also bis bald. Bussi!“

Als ich mich ungefähr eine viertel Stunde später auf den Weg machte, bekam ich weiche Knie. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen musste, aber da ich ja jetzt ein Handy hatte, konnte ich einfach auf Google Maps, den Weg gucken.

Plötzlich hörte ich ein gruseliges Geräusch hinter mir. Ich drehte mich ruckartig um … und war erstaunt. Ein pechschwarzes, bildschönes Pferd stand hinter mir! Naja. Zumindest war es auf den ersten Blick bild­schön. „Na Süßer. Du hast mich ganz schön erschreckt, weißt du? Kleines Monster, du,” redete ich sanft auf ihn ein. Es hatte sich wegen meiner schnellen Bewegung nämlich zutiefst erschrocken. Das Pferd war total verstrubbelt und sein Fell hatte nicht mehr viele schwarze Flecken übrig. Fast alles war schlamm-braun und sein Fell begann sich in großen Zotteln zu lösen. Aber seine Haltung: einfach unglaublich! Ich fragte mich, ob es ausgesetzt worden war, oder von Geburt an in der Wildnis lebte, und ob es wohl eingeritten war. Ich hatte Angst, doch ich beschloss dennoch, das Aufsitzen zu wagen. Schließ­lich hatte ich schon meine Reithose und Sturm­kappe an. Ich hatte auch relativ viel Erfahrung, weil ich schon im Sattel gesessen hatte, als ich noch kaum laufen konnte. Ich lotste das Pferd zu einem umge­fallenen Baum und stieg auf. Ich war auf alles gefasst; dass es gleich losrennen würde, dass es steigen würde … Aber nichts dergleichen geschah. Es stand da, als hätte es nur darauf gewartet, dass ich aufsitzen würde. Ich wusste ja nicht, wie lange dieses Wunder von Pferd schon in Freiheit lebte, aber ich wusste sehr wohl, dass ich es unbedingt reiten wollte.

Ich überlegte, was ich jetzt machen sollte. Klar konnte ich mit dem Pferd zum Stall reiten, aber ich war mir nicht sicher, wie meine Mom das finden würde. Dieses Pferd hatte nicht mal Papiere. Also könnte es Krankheiten habe. „Du darfst nur seriösen Leuten ein Pferd abkaufen Lina”, zitierte ich meine Mom in Gedanken. „Denk nach Lina, denk nach!” Als ich meinen Namen aussprach, stupste das Pferd mich an. „Stimmt”, dachte ich. „Mein Schönling hat noch überhaupt keinen Namen.” Ich durchforstete mein Gehirn. Finden tat ich jedoch keinen passenden.

Ich fragte das Pferd, ob wir wohl einen kleinen Sprint, bis zum Hof einlegen könnten. Im Moment war es mir nämlich ziemlich egal, was Mom dazu sagen würde. Ich wollte dieses Pferd einfach mal reiten. Und, da ich jetzt schon zehn Minuten, ohne mit einem Muskel zu zucken - als wäre ich selbst ein Denkmal - auf dem Pferderücken saß, fragte sich meine Mom sicherlich, wo ich blieb. Ich drückte also dem Pferd behutsam die Fersen in die Seiten. Gemächlich ging es los. Wenn wir in dem Tempo weitergehen würden, wären wir in 100 Jahren noch nicht angekommen. „Na los, komm schon, Kleiner! Wir müssen Gas geben!”, sagte ich und gab ihm energisch die Galopphilfe. Das Pferd schien nur auf diesen Befehl gewartet zu haben und preschte wiehernd los. Plötzlich hatte ich einen Namen im Kopf: Black Arrow. Schwarzer Pfeil. Wie anmutig das klang. Das war der perfekte Name. Oh, da war ja schon der Reiterhof. Also wenn man dieses Pferd nicht für Rennen einsetzen konnte, wusste ich echt nicht, welches sonst!

 

Kapitel 3

Beim Reiterhof saß ich ab und gab dem Pferd einen Klaps auf den Po, damit es verschwand. Es blickte mich mit seinen großen, nachtschwarzen Augen verständnislos an. „Na los, hau ab! Du kannst mich nachher nach Hause bringen, aber jetzt möchte ich dich erstmal vor meiner Mom verstecken. Gott weiß, was sie mit dir machen würde”, erklärte ich Black Arrow. Aber der schwarze Schönling schüttelte den Kopf und wieherte laut. Ich war mir sicher, dass jedem der dieses Wiehern hörte, ein Schauer über den Rücken lief, so kraftvoll hörte es sich an.

Keine Ahnung, ob meine Mom es auch gehört hatte. Aber auf einmal sah ich sie um die Ecke laufen. Die Bassstimme meines Lieblings war also wirklich unüberhörbar gewesen. Mom holte tief Luft für ihren berüchtigten Redeschwall, als ich ihr ins Wort fiel.

  • „Mom, beruhige dich. Das ist nur ein nettes Wildpferdchen”.
  • „Wildpferd, aha”, grummelte sie und betrachtete es mit fachmännischem Blick.

Ich guckte wohl ziemlich bescheuert aus der Wäsche, denn meine Mom lachte. Sie erklärte mir, dass sie mich beobachtet hatte, als ich mit Black Arrow durch den Wald geschossen war. „Laufen kann dieses Pferd auf jeden Fall. Ich werde gleich mal probieren, wie es sich unterm Sattel anstellt. Aber es sieht so ungepflegt aus. Außerdem möchte sein Besitzer es bestimmt wieder zurück und weint sich gerade die Augen aus dem Kopf. Wir wissen nicht einmal, wie es heißt, ob es Papiere hat, ... „Na, was hab’ ich euch gesagt”.

  • „Also, wenn du mit diesem Pferd mal Turniere reiten möchtest, hast du noch eine Menge Arbeit vor dir. Es akzeptiert weder Sattel noch Trense. Und als ich es dann doch endlich auf seinen Rücken geschafft habe, hat es so übel gebuckelt, dass selbst ich hinuntergefallen bin”, redete sich meine Mom in Rage.

Und das bedeutet schon etwas. Mom ist nämlich Züchterin und reitet Jungpferde zu, die sich manchmal wie wildgewordene Stiere benehmen. Aber sie nimmt auch manchmal an Springturnieren teil, einfach, weil es ihr großen Spaß macht. Diese Springleidenschaft habe ich definitiv nicht geerbt. Ich liebe das Freizeitreiten. Das kann man zwar nicht immer machen. Zum Beispiel, wenn es stürmt. Aber ich liebe den Wind und mag auch den Regen und reite deshalb auch bei schlechtem Wetter aus. Das Pferd, das ich noch vor einigen Wochen geritten war, Ricco hieß es, hatte den Regen genauso gern gemocht wie ich, weshalb wir auch im Herbst und im Winter genug Bewegung und frische Luft bekommen hatten.

Ich fragte mich, warum Black Arrow ausgerechnet zu mir so vertrauensvoll war. Und warum er Mom nicht auf seinem Rücken akzeptierte. Aber über all diese Sachen konnte ich auch später noch nachdenken. Jetzt wollte ich erstmal die anderen Pferde begrüßen.

Ich ging mit meiner Mutter hinüber zum Stall, wo schon ein gutes Dutzend Pferde standen. Ich schaute mir alle nacheinander gründlich an.

Bei den Haflinger Zwillingen blieb ich stehen: Spencer und Spacer. Was für tolle Namen für die beiden. Dann gab es noch einen Lipizzaner mit dem Namen Luzifer, der als Voltigier­pferd vorgesehen war, die frechen Shettys, Bobby und Bob, den Holsteiner Rocky, ein Paint Horse mit dem Namen Flocke, ausgezeichnet ge­eignet zum Western Reiten, aber auch ein paar Geschwister der Rasse Islandponys. Mom hatte aber auch Pferde für etwas größere oder schwerere Leute gekauft: einen Tinker namens Tinka und zwei Friesen, die mal als Zweier­gespann vor einer Kutsche gelaufen waren. Nicht zu vergessen, das freche Kaltblut und seinen besten Freund: ein arabisches Vollblut mit feurigem Temperament, das den stolzen Namen Flammam Ignis trug. „Dieser Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt Feurige Flamme. Was definitiv zu ihm passt“, meinte Mom. „Dieses Pferd ist wahrhaftig eine Kanone: 2 A-Springen, 5 M-Springen und 8 S?Springen gewonnen. Ein Wunder­tier”, liebte Mom zu sagen. Überall erzählte sie, was ihr Fifi bis jetzt schon alles gewonnen hatte und sie nahm sich immer extra viel Zeit, um sich um ihren Liebling zu kümmern. Nun ja, wie dem auch sei, ich würde jetzt ganz gerne mal ein Pferd nach dem andern „ausprobieren”.

 

Kapitel 4

„Aufstehen, aufstehen, aufstehen!!!”, kreischten die Zwillinge. Ich war sofort aus den Federn. Heute nahm ich es ihnen keine Sekunde krumm, dass sie mich wieder um 6 Uhr 00 weckten, schließlich feierten Mom und Thomas heute ihre Hochzeit! Oh, ich freute mich ja schon so!

Als ich die Treppe zum Frühstückstisch hinunterging, bemerkte ich meinen höllischen Muskelkater. Aber kein Wunder, wenn man am vorherigen Tag vierzehn Pferde geritten war. Ach, ich war ja so aufgeregt. Obwohl es nicht mal meine eigene Hochzeit war. Mit meinen Gedanken war ich schon bei all den leckeren Kuchen, den Unmengen von Muffins und meiner selbstgebackenen und voller Liebe dekorierten Torte. Ich war niemand, der sich um sein Gewicht oder ein dreckiges Kleid kümmerte. Hauptsache leckeres Essen. Damit war mir genug gedient.

Wir fuhren schon sehr früh los, schließlich mussten wir noch alles herrichten. Das Auto fiel unter den vielen Desserts fast zusammen. Mom hatte noch ein paar andere Kuchen von einem legendären Bäcker bestellt, damit sich jeder mindestens zwei Mal bedienen konnte. Sie meinte, dass mein Kuchen das „Dessert-Highlight” sei und mir wurde ganz warm ums Herz. Um 11 Uhr 45 Uhr erreichten wir das Restaurant „Obelix”. (Ein lustiger Name. Ich fragte mich, woher er stammte.) Um 13:00 Uhr sollten die Gäste eintreffen. Bis dahin musste jeder Stuhl stehen. Die Männer vom Hochzeitsservice „Ja, ich will” hatten gute Arbeit geleistet. Überall wuselten Männer mit weißen Schürzen herum.

„Bonjourrno, Bounjourrno. Ich bin Brruno, der Koch. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein klein Kostprrobe geben”, wandte sich der Koch an uns. Seinem Akzent nach zu urteilen, war er Italiener. Bruno rollte das R ganz lustig auf der Zunge. „Ich wollte nurr frragen”, fuhr Bruno fort, „was ist mit die Pferrd hinterr dirr Signorina. Ist die Pferrd fürr eine besonderre Spectacle oder wieso ist da?” Ich drehte mich um. „Ach verdammt”, entfuhr es mir. „Lina”, warnte mich Mom sofort. „Keine solche Ausdrücke bitte! Nimm dir ein Beispiel an den Kleinen. Haben bisher noch keinen Mucks gesagt und sind absolut brav, nicht wahr meine Engelchen?” Lana und Hannah nickten siegesgewiss. Heute konnten sie alles tun und lassen wozu sie Lust hatten; Mom würde bei allem Ja sagen.

Jetzt drehte auch Mom sich um und blickte in die riesigen, schwarzen Augen Black Arrows. „Ach du Scheiße”, entfuhr es ihr. „Ist das nicht dieses Rennpferd, mit dem du gestern unerlaubterweise durch den Wald geprescht bist? „Ähm, das ist kein Rennpferd, sondern ein Wildpferd”, gab ich eine Spur zu bissig zurück. Und Mom bedachte mich auch prompt mit ihrem Hör-auf-dich-wie-eine-Diva-zu-benehmen Blick. (Natürlich. Jetzt bekam ich wieder die Schuld, obwohl sie selbst vor ein paar Sekunden noch den Ausdruck „Scheiße” benutzt hatte.) Okay, heute konnte ich mir definitiv keine Extrawurst erlauben. „Lina, wenn du so nett wärst und dieses Pferd verschwinden lässt”, zischte meine Mom und an Bruno gewandt fügte sie hinzu: „Nein, nein. Dieses Pferd, wenn man es so nennen kann, ist auf keinen Fall für irgendwas eingeplant. Alles läuft so ab wie vereinbart.” Sie lachte gekünstelt. Ich drehte mich um und sagte: „Komm Blacky. Wir gehen.” Black Arrow folgte mir aufs Wort. Ich stolzierte davon und spürte die Blicke der Anderen im Rücken: Moms, der dem Motto nachkam: Wenn Blicke töten könnten; der Blick der Zwillinge: Etwas nachdenklich. Wahr­scheinlich fragten sie sich gerade, was eigentlich los war und weshalb ich so überreagierte. Ich kann’s nur so erklären; Pubertät. Thomas guckte mir ein bisschen verwundert hinterher. Und Brunos Blick war … keine Ahnung. Ich glaube Bruno war verängstigt. Aber er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. „Äh, ja. Wo warrren wirr stehengeblieben. Ach ja, bei derr Kostprrrobe.” „Ähm, also wir würden natürlich liebend gern ein bisschen naschen, nicht wahr Thomas?”, versuchte Mom die Stimmung wieder ein bisschen aufzulockern, obwohl ihr das gründlich misslang. „Und ihr beide könnt schon mal die Springburg erobern, okay?” „Natürlich Mommy”, sagten die Zwillinge mit ihrer süßesten Stimme. Bei „Mommy” wurde Mom sofort weich und auch jetzt stahl sich ein kleines Lächeln in ihr Gesicht.

Bei dem kleinen Wäldchen, das sich nicht weit vom Restaurant entfernt ausstreckte, holte ich tief Luft. Warum war nur alles so kompliziert? Und warum war Black Arrow mir bis zur Hochzeitsfeier gefolgt? Wir waren doch fast eine Stunde Auto gefahren. Dem musste die Zunge ja bis zum Boden hängen. Nun, wenn ich mir das jetzt bildlich vorstellte, dann war das wohl eher unwahrscheinlich. Aber warum nur? Weshalb nur folgte das Wildpferd mir?

Ich dachte lange darüber nach, wie es möglich sein konnte, dass ein Pferd nach nur einem Tag so anhänglich war. Ich kam zu dem Schluss, dass es mir hier, in diesem Wald, etwas zeigen wollte. Trotz meines schönen Kleides saß ich auf, wollte unbedingt wissen wer, wie, was, wo. Ich gab ihm die Galopp-Hilfestellung und genau wie beim ersten Mal schoss es los. Doch diesmal meinte ich zu spüren, dass es ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte. Es schlug, ohne zu zögern, eine ganz bestimmte Richtung ein, ohne, dass ich es leiten musste. Es war ein tolles Gefühl auf einem Rennpferd wie diesem zu sitzen. Es war fast so, als würde man fliegen. Plötzlich stoppte Black Arrow. Wir standen vor einer wunderschönen Quelle. Ein kleiner Wasserfall plätscherte vor sich hin. Eine traumhafte Stimmung. Hier hätte Mom Hochzeit feiern sollen. Blacky stieß ein tiefes Wiehern aus. Das Echo drang von allen Seiten zurück. Dann herrschte wieder Stille.

 

Kapitel 5

Black Arrow wieherte wieder und wieder. Dann spitzte er die Ohren. Ich konnte jedoch nichts hören. Doch dann sah ich eine kleine Gruppe Pferde. Sie sahen jedoch etwas seltsam aus und mir war, als wären ihre Rücken unnatürlich gebuckelt. Black Arrow wieherte noch einmal. Eins der Pferde antwortete. Sie kamen näher und plötzlich erkannte ich, dass die Buckel auf den Rücken der Pferde, Menschen waren, die sich ganz dicht an den Hals ihrer Pferde schmiegten. „Da sitzt jemand auf Black”, rief auf einmal eine Jungenstimme. Zwei Pferde schwärmten nach links aus, ein anderes nach rechts und das vierte kam geradewegs auf mich zu. Sie würden mich einkreisen. Instinktiv fasste ich in Black Arrows Mähne. Erstaunlicherweise verspürte ich gar keine Aufregung. Eigentlich hätten sich mir in dieser Situation Schweißperlen auf der Stirn bilden müssen. Aber dieses Mal blieb ich ganz gelassen. Ich konnte es mir wieder einmal nicht anders erklären; ich glaubte fest daran, dass mein neuer bester Freund etwas damit zu tun hatte. „Was hast du hier zu suchen? Wer bist du und wieso kannst du auf Black reiten? Gib’ mir sofort Antworten, sonst wirst du was erleben”, sagte ein Junge mit extrem hellen, grünen Augen. Er sah richtig gut aus, wenn man auf so etwas stand.  Bestimmt hatte er an seiner Schule jede Menge Verehrerinnen. Mich konnte er aber nicht be­eindrucken. Ich ließ mich nicht so leicht um den Finger wickeln. Also fing ich langsam an. „Die Antwort auf die erste Frage lautet: Ich bin hier, weil meine Mutter wieder einmal unausstehlich ist. Sie feiert ein paar hundert Meter weiter unten Hochzeit. Zweitens, ich bin Lina und gerade erst hierher­gezogen. Dieses Pferd ist mir zum ersten Mal begegnet, als ich auf dem Weg zum neuen Reitstall war. Drittens, ich kann es reiten, weil ich halt reiten kann. Das wolltest du doch wissen, oder?” Okay, ich hatte vielleicht etwas übertrieben, was meine Mutter anging, aber das war mir im Augenblick egal. Dieser eingebildete Schnösel konnte sagen, was er wollte. Ich würde tun und lassen, was ich wollte. „Genau, das wollte ich wissen. Und weißt du, was ich auch weiß? Dass du erst vor zwei Tagen in das Haus gezogen bist und, dass deiner Mutter der neue Reitstall gehört”, fuhr der Junge aufgeregt fort. „Lars, lass mal gut sein”, mischte sich ein Mädchen mit roten, wilden Locken ein. (Anscheinend war dieser Junge mit den außergewöhnlichen Augen Lars.) Das Mädchen war mir sofort sympathisch.

„Ich lass gar nichts gut sein. Sie soll mir wenigstens einen plausiblen Grund nennen, warum sie auf Black reiten kann und ich ihn nicht mal anfassen kann.” Ein etwas kräftiger Junge wandte sich an mich: „Black ist gestern früh einfach so verschwunden und wir haben uns große Sorgen gemacht, weil er so schnell laufen kann und wir fürchteten, dass er für Zucht oder Rennen eingesetzt werden würde, falls jemand ihn entdeckte und einfing. Das würde ihm möglicher­weise seine Freiheit rauben. Du musst wissen, dass Black ein Trauma hat. Er wurde schon im Alter von zwei Jahren für Wettrennen eingesetzt und heftig von seinem Besitzer geschlagen. Siehst du die Narbe hier unten am Bauch?” Ich nickte. Dort zierte ein lange und breite Narbe Black Arrows Bauch. Muss echt schlimm weh getan haben. Der Junge fuhr fort: „Seit Lars’ Großvater ihn gefunden hat, lässt er niemanden an sich heran. Außer Lars’ Großvater. Leider ist der Mann aber vor zwei Tagen gestorben und wir wussten bis jetzt nicht wie es mit Black weitergehen sollte. Er lässt sich nicht anfassen, also auch nicht putzen; frisst nur, wenn niemand da ist. Ab und zu begleitet er zwar seine Herde, aber ich habe das Gefühl, dass er sich sehnlichst einen Partner wünscht, mit dem er genauso glücklich ist wie mit Großvater Karl. Und da du bestimmt noch wissen willst, wie der Junge heißt, der so viel labert: Ich bin Jonas.” „Entschuldige, wie unhöflich von mir. Ich habe mich ja auch noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Sophie. Und das Mädchen auf dem weißen Pferd ist meine Kusine Lilli”, erklärte mir das Mädchen mit den roten Locken lachend. Lilli winkte mir freundlich zu.

Okay, jetzt mal eine kleine Liste mit den Namen aller Personen, die ich bis jetzt in Springels kennengelernt habe. Irgendwie kann ich mir Namen nie allzu gut merken und werde leicht durcheinander.

Deshalb:

  • Lars Ein eingebildeter Schnösel, der glaubt jeder würde ihm dienen. Er besitzt ein fuchsrotes Pferd. Name des Pferdes: Cito.
  • Sophie Lillis Kusine: freundlich, vorwitzig und einfach nur nett. Sie reitet ein braunes Warmblut, das wahrscheinlich super hoch springen kann, mit dem Namen: Prinz.
  • Jonas Ein etwas kräftiger Junge, der ein Pferd mit dem Namen „Herr Müller” besitzt. Ein solides Kaltblut.
  • Lilli Sophies Kusine. Ein etwas kleineres Mädchen mit langen blonden Haaren. Sie reitet einen Schimmel mit dem Namen Smartie.

 

Kapitel 6

„Und jetzt?”, fragte Lilli. „Jetzt reiten wir erstmal eine kleine Runde”, bestimmte Sophie. Lars zog eine Augenbraue hoch und sagte verächtlich: „Die kann doch gar nicht reiten. Ist sicher nur eine von diesen Sonntagsreitern.” (Ein Sonntagsreiter ist jemand, der sich nicht um sein Pferd kümmert und nur reitet, um damit anzugeben. Meistens stammen Sonntagsreiter aus reichem Hause.) Na, das wollen wir doch erstmal sehen. Ich guckte Lars böse an. Jonas hatte das wohl bemerkt und schlug vor: „Also gut ihr beiden Hitzköpfe; wenn ihr fertig seid mit streiten, kann ich euch von meiner Idee erzählen.” Ich guckte ihn interessiert an. „Also, jeder bekommt 2 Tage Zeit, um zu trainieren. In 2 Tagen wird dann ein Rennen stattfinden und zwar genau von hier bis zum großen See. Sophie und Lilli werden Lina den Weg zeigen. Lina darf sie NUR heute um Rat fragen. Der Weg ist aber auch gekennzeichnet. Ihr dürft eure Eltern fragen, ob die euch helfen können beim Trainieren, aber sonst niemanden. Ist das okay so?” Lars und ich nickten. „Aber lasst uns jetzt trotzdem ausreiten. Wir könnten sogar bis zum großen See reiten, wenn ihr Bock habt.”

Wir ritten also zum großen See. Ich ritt hinter Lars, um zu sehen, wie er so reitet. Oh je. Dass Lars und Cito ein eingespieltes Team waren, sah ein Blinder mit Krückstock. Mir stand noch eine Menge Arbeit bevor, um das Rennen zu gewinnen. Irgendwie konnte ich den Ausritt nicht so richtig ge­nießen, weil ich erstens auf den Weg aufpassen musste, damit ich ihn mir fürs Rennen merkte und zweitens immer Lars im Auge hatte. Außerdem musste ich auf Black Arrow achten, denn wenn der ausflippte, war der mit mir über alle Berge.

Am See, zogen sich alle bis auf die Unterwäsche aus. Mit meinen alten Freundinnen wäre mir das nicht im Traum eingefallen, aber hier schien es ganz normal zu sein. Jedenfalls bewegten sich die anderen wie in Trance ins Wasser. Ich watschelte hinterher. Die anderen waren schon bis zur Hüfte im Wasser. Als ich ins Wasser ging, spürte ich kleine Kristalle an meinen Knöcheln. Das Wasser war eisig. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Vor mir ging nach wie vor die ganze Gruppe in einer Reihe, als hätte sie das einstudiert. Es sah richtig toll aus. Wie aus einem Film. Aber irgendwie auch ein bisschen gruselig. Vor mir holte Sophie tief Luft und ließ sich mit einem Kopfsprung ins Wasser gleiten. Nach und nach waren auch Lilli, Lars und Jonas im Wasser. Fehlte nur noch ich. Das Wasser war immer noch saukalt, piekste aber jetzt wenigstens nicht mehr so doll.

Plötzlich rief Lars: „Wer zuerst auf der kleinen Insel ist, hat gewonnen!”

  • „Hä, wo ist denn da eine Insel?”, rief ich.

Eine Antwort bekam ich nicht, alle waren schon abgetaucht. Schnell ließ auch ich mich ins Wasser gleiten. Mir war immer noch kalt. Aber das musste mir jetzt egal sein! Im Schwimmen war ich mit Abstand immer die Beste gewesen, aber Sophie war wirklich schnell. Genau wie Lars, obwohl ich das nur ungerne zugab. Ich holte relativ schnell auf und schon bald schwamm ich neben Lilli. „Weißt du, wo die Insel ist, zu der wir schwimmen?”, fragte ich sie, nach Luft schnappend. Lilli deutete mit dem Kinn nach vorne. Dankend nickte ich ihr zu. Am Horizont sah man die Umrisse von Bäumen. Ich tauchte wieder unter. Nach einigem Zögern öffnete ich meine Augen. Unter mir war ein Meer aus Algen. Das Wasser war glasklar und man konnte bis zum Grund sehen.

Ich schwamm so schnell, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Ich wollte dieses Rennen auf keinen Fall verlieren. 2-3 Meter vor mir tauchte Lars auf. Die Insel kam immer näher. Ich musste nochmal alles aus mir herausholen. Rasend schnell über­holte ich Lars. Blieb nur noch Sophie. Da! Nur noch ungefähr 4 Meter bis ich auch sie überholt hatte. Jetzt sah man die Insel schon ganz. Ich tauchte wieder unter. Unter Wasser kam man viel schneller voran. Auf einmal sah ich über mir die Beine von Sophie. Ich stellte mir vor, ich wäre Blacky, wenn er galoppiert. Und ehe ich mich versah, zog ich auch an Sophie vorbei. Ich schwamm wieder zurück an die Oberfläche. Ich sah aus dem Augenwinkel Sophies Hand auf Höhe meiner linken Seite und auf meiner rechten Seite sah ich Lars blonden Schopf. Die letzten paar Meter und dann hätte ich gewonnen. Noch ein paar Mal kräftig mit den Beinen schlagen und GEWONNEN!!! „Wow, du bist ja richtig schnell!”, keuchte Sophie und gleich darauf kam ein ziemlich mürrisch drein guckender Lars. Eine halbe Minute später kamen Lilli und Jonas aus dem Wasser. „Sagt mal, hat jemand von euch zufällig eine Uhr dabei?”, fragte ich. Alle schüttelten die Köpfe. Ich ließ mich in den warmen Sand gleiten. Erschöpft von dem Rennen. Plötzlich sah ich etwas an Lars’ Arm aufblitzen. „He, Lars. Sag mir sofort wieviel Uhr es ist oder du bekommst nachher keinen Kuchen!”, rief ich. Lars guckte erstaunt. „Kuchen? Wer hat gerade Kuchen gesagt? Na los, Leute! Wer hat gerade Kuchen gesagt?!”

  • „Ich”, antwortete ich ihm seelenruhig. Ich wusste gar nicht, dass Lars so auf Kuchen abfuhr. Sophie und Lilli kicherten leise und auch ich konnte mir ein Lachen nur schwer verkneifen.
  • „Was ist denn jetzt mit dem Kuchen?”
  • „Du bekommst nur Kuchen, wenn du mir sagst, wie­viel Uhr es ist”, wiederholte ich, extra für Lars, nochmal ganz langsam.

Beschämt warf er einen Blick auf seine silberne Uhr. Hatte ich also doch Recht gehabt und mir dieses Aufblitzen nicht nur eingebildet. „11:33 Uhr. Wieso?” Ich wurde ganz hibbelig. In weniger als einer halben Stunde würden die Gäste kommen.

  • „Ja genau, wieso auf einmal so eilig?”, fragte auch Jonas.
  • „Meine Mutter feiert doch Hochzeit und um 12:00 Uhr kommen die Gäste!”, erklärte ich der Bande.
  • „Mmh, wenn das so ist, müssen wir in genau 27 Minuten auf der Hochzeit sein”, schlussfolgerte Lilli.
  • „Wieso sprichst du denn jetzt in der Wir-Form?”, fragten Jonas und Sophie wie aus einem Mund.
  • „Also, ich will unbedingt ein Stück vom Kuchen haben und Lina hat uns, was sehr nett ist, zur Hochzeit ihrer Mutter eingeladen. Und dort können wir so viel Kuchen in uns hineinstopfen wie es uns gefällt”, erwiderte Lilli mit leuchtenden Augen.
  • „Aber so können wir uns keinesfalls auf der Hochzeit blicken lassen”, wandte Lars ein.

Das stimmte. Alle sahen aus wie panierte Schnitzel und Sophies Wimpern­tusche war ganz verlaufen. „Wenn wir auf dem Rückweg einen kleinen Stop beim Hauptquartier einlegen, können wir uns sicher­lich ein bisschen auffrischen”, meinte Jonas. „Willst du ihr jetzt schon unser Hauptquartier zeigen?”, sagte Lars voller Entsetzen.

  • „He! Jetzt lass mal gut sein, Lars. Wenn wir so auf der Hochzeit auftauchen, dann wirft man uns sicher sofort wieder raus und wenn wir noch irgendwie rechtzeitig kommen wollen, dann müssen wir sofort los!”, rief Sophie und - zack! war sie im Wasser. Alle anderen sprinteten hinterher. Diesmal war ich mit von der Partie.

 

Kapitel 7

Beim Hauptquartier angekommen, (es war ein himmelblaues Häuschen mit kleinen gelben Fenster­läden und auch im Inneren sah es ganz gemütlich aus) stiegen wir von unseren Pferden ab und gingen hinein. Sophie und Lilli zogen mich in ein kleines Zimmer, ausgestattet mit allen möglichen Styling Utensilien. Sie drückten mich auf einen Stuhl und während Lilli mir die Haare flochte, bearbeitete Sophie mir ein paar Strähnen mit dem Lockenstab. Sophie war schneller fertig als Lilli, weshalb sie im Nebenzimmer verschwand und mein dreckiges Kleid so gut es ging säuberte und auffrischte. Nach 5 Minuten stand ich fertig und perfekt gestylt wieder vor der Tür. Neben mir: Black Arrow. Dieses Pferd wollte und wollte nicht von meiner Seite weichen. Deshalb beschlossen wir Mädels, den jungen Burschen auf Vordermann zu bringen. Lars und Jonas waren gerade erst fertig mit dem Haarstyling, als wir auch mit Blacky fertig waren. Black Arrow sauber zu machen, hatte gerade mal 3 Minuten gedauert, weil wir sechs Hände hatten, um ihn zu putzen, obwohl wir höllisch aufpassen mussten. „Und jetzt auf zur Hochzeit!!!”, grölten die Jungs. „Es ist 11:53 Uhr. Also schwingt die Hufe”, rief Lars und alle nickten. Wir stiegen auf unsere Pferde und schossen wie geölte Blitze durch den Wald. Ich dachte schon, das ganze Styling wäre umsonst gewesen bei diesem Tempo, aber Lilli und Sophie hatten wirklich an alles gedacht; wasserfestes Makeup, hunderte von Haarnadeln, damit Frisur und Kleid perfekt saßen, ...

Als wir angekommen, war es 11:59 Uhr. Uff! Geschafft. Gerade noch rechtzeitig. Da vorne bog schon das erste Auto um die Ecke. Es war Tante Madeleine. Schnell lief ich zu Mom. Ich musste ihr und Thomas unbedingt noch meine neuen Freunde vorstellen, bevor die anderen Gäste sie ganz in Beschlag nahmen. Ich war mir zwar ganz sicher, dass weder Mom noch Thomas etwas dagegen hatten, vier weitere Gäste zu beköstigen. Doch ganz wohl fühlte ich mich nicht, als ich mit meinen neuen Freunden durchs Zelt rannte um Mom zu suchen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Bande einfach so zur Hochzeitsfeier einzuladen. Es war ja schließlich Moms und Thomas’ großer Tag. Aber ich war eben nun mal einfach glücklich, endlich Anschluss gefunden zu haben.

Mom winkte mir schon von weitem, wie verrückt, zu.

  • „Da bist du ja endlich. Ach, mein Mäuschen. Tut mir leid, dass ich vorhin so schroff zu dir war. Die Nerven sind wohl mit mir durchgegangen. Ich bin richtig nervös wegen der Trauung und all den anderen Gästen. Was, wenn ich über mein Kleid stolpere?“
  • „Aber Mom! Du hast das Kleid doch extra anprobiert! Da kann nichts schiefgehen! Und im schlimmsten Fall fängt Thomas dich hollywood­reif auf!”, erwiderte ich und strahlte übers ganze Gesicht.

Neugierig auf meine Mutter, traten meine neuen Freunde neben mich und warteten darauf, dass sie vorgestellt wurden.

  • „Mom, das sind Lilli, Sophie, Jonas und Lars. Ich habe sie vorhin, als ich Black Arrow in den Wald gebracht habe, getroffen und wir haben uns angefreundet”, erklärte ich. „Und da sie genauso Naschkatzen sind wie ich, dachte ich, sie könnten auch ein Stück Kuchen haben. Ist das ok?”, fragte ich.
  • „Natürlich ist das in Ordnung. Es gibt genug Kuchen für jeden. Aber erst nach der Trauung“, fügte sie augenzwinkernd hinzu. „Und wie ich sehe, hast du den schwarzen Hengst auch wieder mitgebracht. Wer sind die anderen Pferde? Ach nee, sagt bloß, das sind eure Pferde.”

Unsere Blicke schweiften zu den Pferden. In diesem Augenblick wieherte Black Arrow wieder unnachahmlich und geheimnisvoll und die fünf Pferde bäumten sich auf, so als ob sie Mom grüßen wollten. Mit hoch erhobenem Haupt und wehender Mähne galoppierten die Pferde davon und Lars erklärte meiner Mutter: „Das sind unsere Freunde, nicht unsere Pferde. Sie gehören nur sich selbst. Sie leben in Freiheit und wir kümmern uns nur um sie, wenn sie zu uns kommen.”

Nach und nach kamen immer mehr Gäste. Viele kannte ich gar nicht und schon nach ein paar Minuten war das große, weiße Zelt rappelvoll. Es war eine wundervolle Trauungszeremonie. Und pünktlich zum Nachtisch waren die Pferde auch wieder da. Ich ging mit meinen neuen Freunden herum und stellte sie Tante Madeleine und Omi vor. Mittelpunkt war jedoch der liebe Black Arrow. Alle waren ganz entzückt von Blacky, der mir wieder einmal wie ein Schoßhündchen folgte. Aber dieses Mal glaubte ich eher, dass er mir hinterhergeschlichen war, um ein Stück Kuchen abzukriegen. Meine selbstgebackene Torte war ratzfatz weg. Sie war einfach unwider­stehlich gewesen. Die Pferde gingen umher und bettelten um Kuchen. Sie wurden gestreichelt und schon bald glänzte ihr Fell, weil sie von den Kindern mit kuchenbeschmierten Händen angefasst wurden. Es war ein toller Tag, was ich nicht zuletzt Black Arrow zu verdanken hatte. Ich hoffe wirklich, dass meine Mom mir erlaubt, ihn weiterhin reiten zu dürfen ...

Ende


 

Die Autorin Céline Urwald geb. 2007, lebt mit ihren drei Brüdern, ihrem Hund Chloé und ihren Eltern in Luxemburg.

Ihre Hobbys sind Basketball, Saxofon und Turnen. Zum Entspannen geht sie gerne mit ihrem sturen Hund laufen.

Céline hat dieses Buch im Rahmen eines Schul­projektes, dem „Défi personnel” des Lycée Aline Mayrisch geschrieben und wurde von Frau L. Piazza begleitet.

 

Meine Mom heiratet! Und ich soll die Hoch­zeits-

torte backen. Nach der Hochzeit mit Stiefvater Thomas

möchte Mom eine Reitschule eröffnen (wo ich nichts da-

gegen habe, denn ich bin auch ziemlich pferdeverrückt)

UND umziehen. Und zwar nach Springles! In so ein

verschlafenes Kaff! Das bedeutet für mich nicht nur

meine Freundinnen zu verlassen, nein, ich muss

auch noch die Schule wechseln. Und um das

ganze Chaos perfekt zu machen, taucht wie

aus heiterem Himmel ein pechschwarzes

Pferd auf, das nicht mehr von meiner

Seite weichen will.

Seit dieser Begegnung, läuft alles aus der Bahn ...

 

 




Envoyé: 22:04 Thu, 12 March 2020 par: Urwald Céline