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Harsch Pit

Der Tag an dem Wilhelm verstummte



Seine Frau starb jung, sie hatte Krebs und weinte, als er sie das letzte Mal küsste. Wenn er auch ihren Tod gefasst hinnahm, zerbrach Wilhelm später an der Einsamkeit. Nach wenigen Jahren hatte er seinen Job verloren, trank täglich und sprach mit sich selbst. Seine Augen wurden glasig, sein Blick trüb; man hatte das Gefühl er schaue durch einen hindurch, wenn man mit ihm sprach, vielleicht in die verkehrte Richtung, in sich hinein. Seine Haare fielen aus, die spärlichen, grauen Faser die verblieben, lagen ungekämmt auf dem teilweise kahlen Schädel. Sein Gang verlor an Straffheit, seine Schultern fielen nach vorne, als könnten sie die Last seines Haupts nicht mehr tragen, die Beine schlurften über den Boden, als zöge er schwere Fußeisen hinter sich her.

Man kannte ihn als Sonderling im Dorf, als Außenseiter, mit dem man freundlich umging, den man jedoch nicht als Freund haben wollte. Jeden Morgen stand er als Erster vor der Bäckerei, eine Viertelstunde vor der Öffnungszeit, rauchte eine Zigarette und lief murmelnd auf und ab. Manchmal hielt er inne, betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild im Fenster und schüttelte dann verwirrt den Kopf. Wenn die Inhaberin ihn um fünf vor sieben hereinließ, trank er schweigend einen Espresso, legte 2,50€ auf den Tisch und setzte schlürfend seinen Weg fort. Murmelnd trat er dann ein paar Straßen weiter im Kiosk ein, wo man ihm bereits das Tageblatt zur Seite gelegt hatte. "Guten Morgen Herr Schreiber, zwei Euro und zwanzig Cent bitte, wie immer.", trällerte die Besitzerin dann munter und Wilhelm legte stumm ein paar Münzen auf den Tresen, wobei sein Mundwickel ein paar Mal zuckte, so als wolle er grinsen, aber hätte vergessen wie.

Wohin er danach immer verschwand, wusste niemand. In seiner Wohnung verbrachte er den Morgen jedenfalls nicht, wie seine Nachbarin berichtete. Erst zur Mittagsstunde tauchte er dann wieder auf. Während der Woche saß er mittags beim Italiener, aß das Tagesmenü für 12,50€ und trank eine Flasche Wein dazu, die er selbst mitbrachte. Man gestatte ihm diese Freiheit, denn nun ja, als Sonderling genießt man so manchen Vorteil, weil die Menschen Mitleid haben.

Nach einer halben Flasche Wein versiegte dann auch sein beständiges Gemurmel, nur noch vereinzelte, zusammenhanglose Worte befreiten sich alle paar Minuten aus seinem Mundwerk. Wilhelm aß auffällig langsam, manchmal brauchte er eine ganze Stunde um sein Menü zu verspeisen. Nach dem Essen schlurfte er nach Hause, in sein kleines Zweizimmerappartement, im ersten Stock eines alten, von der Zeit zerfressenen Gebäudes. Die Fassade war braun und abgenutzt, auf Augenhöhe fand man schwarze Graffititags, die wahrscheinlich in Eile dahingeschmiert worden waren. Die Vorhänge bei Wilhelm waren stets zugezogen, nur ein kleiner Spalt erlaubte dem Tageslicht ein begrenztes Eindringen. Es hatte ein Balkon, auf dem ein kaputter Plastikstuhl, ein kleiner, verrosteter Tisch, sowie ein leerer Pflanzentopf herumstanden. Seit letztem Winter zog sich ein breiter Riss durch die dreckigen Kacheln, wie ein schwarzer Blitz durch einen wolkigen Himmel.

Am frühen Abend schleppte Wilhelm sich langsam die Treppen runter, den Lift benutzte er nie. Er ging zu seinem Stammlokal, setzte sich hinten in die dunkelste Ecke und sprach den Rest des Abends zu seinem Bier. Je nach Abend trank er acht bis zwölf Bier, und zwischen jeder Runde einen Kurzen. Er war der beste Kunde, und manchmal der einzige. Das letzte Bier ging immer aufs Haus und gelegentlich setzte sich der Besitzer, Paulo, stillschweigend auf den Tisch daneben. Ein Gespräch anzufangen, das hatte jener schnell herausgefunden, war sinnlos, denn Wilhelm schaute ihn dann nur begriffsstutzig an, mit zuckendem Mundwinkel, und stotterte wirre Wörter vor sich hin. Trotzdem war er der einzige Mensch, der Zeit mit Wilhelm verbrachte, und somit auch der Erste, dem auffiel, dass Wilhelm schweigsamer wurde.

Es war im Herbst, und so wie die Bäume müde ihre Blätter verloren, so glitten ihm die Wörter ab. Allmählich hörte er auf mit sich selbst zu reden, und auch die wenigen Wörter, die an andere Menschen gerichtet waren, verschwanden. Hier und dort drangen noch einzelne Wörter aus seiner Welt, in die andere, die schon lange nicht mehr seine war. Aber dann verstummte er ganz.

Am kalten Morgen des 20. Dezembers, dem sechsten Todesstag von Wilhelms Frau, bemerkte ein gedankenloser Passant einen ungewöhnlichen Schatten auf dem Bürgersteig. Als er hinaufblickte, erkannte er Wilhelms toten Körper, der an einer Kordel von seinem Balkon hing. Wie eine Puppe hing er mit erschlafften Gliedern, vom Leben ermüdet in der selbstgeknoteten Schlinge.

Ein seltsamer Ausdruck lag in seinem Gesicht, etwas wie Erleichterung. Als der Passant erschrocken und ängstlich von unten in das blasse Gesicht schaute, meinte er ein leichtes Zucken des Mundwinkels wahrzunehmen, so als würde ein lang unterdrücktes Lächeln über Wilhelms Lippen huschen.

 




Envoyé: 06:49 Mon, 9 March 2020 par: Harsch Pit