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Roth Kiara

Horrortrip



Am Anfang ist alles schön. Die Geräusche des Waldes sind schön, die Bäume sind schön, ich bin schön und ich bin frei, fliege über den Wald und schließlich in weite Ferne, hinauf zu den Sternen. Ich strecke meine Hand nach der blassen Mondsichel aus, aber sie rutscht ab wie an einem Stück Seife. Ich falle, falle wieder herunter, doppelt so schnell, wie der Rausch mich nach oben katapultiert hat, und die Landung erfolgt hart und schmerzhaft.

Ich schlage in einem schwarzen Loch auf, orientierungslos und blind. Nach Ewigkeiten finde ich heraus, dass es nur deswegen so finster ist, weil ich meine Augen geschlossen halte. Ich reiße sie weit auf, verbiete mir zu blinzeln aus Furcht, sie nicht mehr öffnen zu können. Die Rillen der Baumrinden um mich herum verzerren sich zu grotesken Fratzen, die in den Schatten lauern und sich nach mir verzehren. Ich muss hier weg, muss ihnen entkommen, aber sie sind überall. Ich laufe schneller. In jedem Laubrascheln versteckt sich mein Name. Was wollen alle von mir?

Kurz bevor mich die Einsamkeit zu überwältigen droht, stolpere ich über etwas — nein, über jemanden. Zu meinen Füßen hockt eine in sich gekrümmte alte Frau.

„Tut mir leid!“ Ich bücke mich zu ihr, um mich zu versichern, dass ich sie bei meinem Sturz nicht verletzt habe.

„Nicht doch, nicht doch“, krächzt sie unter einem leichten Damenbart.

„Ich habe Sie übersehen“, stammle ich, von einer plötzlichen Angst befallen. „Ihnen geht es gut?“

Sie nickt nur und sieht mich aus kleinen Knopfaugen an.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Sie reagiert nicht. Ich wende mich ab und will weitergehen oder weiterfliegen, als ihre Hand hervorschnellt und meine Knöchel mit einer Kraft umschließt, die ich ihr nicht zugetraut hätte. Es gelingt mir nicht, den Fuß zu heben. Die Angst legt sich um meinen Hals und schnürt mir die Kehle zu. Dadurch, dass ich so sehr auf meinen Herzschlag achte, wird er noch lauter, viel zu laut, zu kräftig. Bum, bum.

„Lassen Sie mich gehen!“ Ich versuche, ihre eisige Hand abzuschütteln, aber ermögliche ihr damit nur, auch mein anderes Bein zu fesseln. „Warum hindert mich jeder daran, meinen Träumen hinterherzulaufen?“ Erst, als ich die salzigen Tränen auf meinen Lippen schmecke, merke ich, dass ich weine.

Die Frau schweigt, aber sie hält beharrlich an meinen Beinen fest.

„Ich kenne Sie doch gar nicht“, schluchze ich. „Was wollen Sie von mir, was wollt ihr alle? Wieso könnt ihr mich nicht einmal in Ruhe lassen?“

Je mehr Kraft ich für meine Befreiungsversuche aufwende, desto enger legen sich ihre Finger um meine Knöchel, wie Stricke aus Eis. Ich verliere die Geduld, trete nach ihr und rufe um Hilfe, aber mein Schrei verhallt in schwarzer Leere.

„Es gibt so vieles, was mich davon abhält, meinen Wünschen zu folgen, aber ich hätte nicht gedacht, dass eine buckelige Frau es am besten schafft.“ Ich bin mir nicht sicher, ob meine Worte Sinn ergeben, aber es ist mir egal. Ich will nur reden, mit irgendjemandem, oder weiterfliegen. „Machen Sie etwa nie Fehler? Ergötzen Sie sich an Ihrer scheinbaren Perfektion, wie alle anderen auch? Es ist so leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, vor allem, wenn sie am Boden liegen.“

Die Frau blinzelt verwirrt, dann öffnet sie den Mund und entblößt einen unendlichen Abgrund. Ein falscher Schritt und ich falle hinein. Die Angst kriecht mein Mark hinauf bis zu meinen Gedanken, in die sie sich einnistet wie ein Parasit, und an mir zu nagen beginnt. Wie konnte ich so unvorsichtig sein?

„Ich bereue es doch! Es tut mir leid!“ Ich weiß nicht, was mir leidtut, aber Auswahl habe ich genug. Jedes Wort, jeder meiner fürchterlichen Gedanken. „Was muss ich tun, damit es aufhört?“

Sie sagt immer noch kein Wort. Ich schreie auf, kanalisiere sämtliche Emotionen in mir zu einer unsichtbaren Kraft, die ich in meine Beine lenke. Endlich gelingt es mir, mich ihrem Griff zu entziehen. Ich stolpere nach vorne auf den feuchten Waldboden, rolle mich ab und drehe mich zu meiner wortkargen Gesprächspartnerin um.

Sie ist weg. War nie da. Ich habe die ganze Zeit mit einer Baumwurzel gesprochen. Und dennoch hat sie mir die Lösung meines Rätsels offenbart: Damit es aufhört, muss ich weitermachen.


 




Envoyé: 02:42 Thu, 21 February 2019 par: Roth Kiara