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Völkening Lisa

Von Schwarz und Rot



Die Schwärze der Wände im halbdunklen Zimmer schien sie zu erdrücken, engte sie immer weiter ein, sodass sie das Gefühl hatte kaum noch Luft zu bekommen. Etwas Schweres drückte von oben herab auf sie ein, unablässig ohne ihr je eine Pause zu gönnen. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer und sie kam sich darin so fremd und klein vor, obwohl sie es nun schon seit mehreren Jahren bewohnte. Schwarze Wände zu schwarzen Möbeln, so unpersönlich wie nur möglich und doch erinnerte sie jede Ecke des Zimmers an sich selbst. Eigentlich spiegelte das Zimmer sie sogar sehr genau wider, dunkel, trist, einsam. Das einzige Licht kam von dem klitzekleinen Spalt zwischen Vorhang und Fensterbank und schien so unendlich weit weg zu sein, dass es unmöglich war es zu erfassen.

Langsam ließ sie ihren Blick auf den mit roten Flecken gezierten Schreibtisch gleiten, einige waren kaum noch zu sehen, waren in das schwarze Holz eingesickert, doch die neueren waren noch mehr als deutlich zu erkennen. Die rote Farbe ließ sie schon längst nicht mehr ängstlich werden, im Gegenteil, sie fand darin eine Hoffnung, eine Pause, die sie sonst so doch nirgends finden konnte. Ihr Blick wanderte auf ihre Arme, und jeder andere wäre wahrscheinlich schockiert gewesen, aber die unzähligen großen, kleinen, tiefen und schmalen Narben und Wunden brachten ihr Genugtuung, sie betrachtete jede einzelne, aufmerksam und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, als wäre es ein Kunstwerk. Und in gewisser Weise verhielt es sich auch so, für sie verwoben sich all die Striche zu einem Kunstwerk, dass ihr Hoffnung schenkte und einen Ausweg bot.

Langsam drehte sie sich um und ihr Blick fiel auf eine Person, die sie aus tiefstem Herzen hasste. Sich selbst. Im Spiegelbild sah sie sich selbst entgegen, starrte sich hasserfüllt an. Die unzähligen Risse und kaputten Stellen ließen ihr Spiegelbild nur noch unwirklich erscheinen und doch sah sie genug, um Abscheu gegen sich selbst zu empfinden. Die Speckrollen quollen aus der Jeans, ihre Arme waren so breit wie normaler Leute Oberschenkel, das Gesicht war vor lauter Fett fast nicht mehr zu erkennen. Die Nähte der Jeans schienen beinahe unter dem Druck zu platzen. Hasserfüllt kniff sie sich in den viel zu dicken Bauch.

So sah die Welt im Spiegel aus. In Echt bekam sie nicht einmal ansatzweise genug zwischen ihre Finger, um daran ziehen zu können. Die Schulter- sowie Hüftknochen standen unnatürlich heraus. Ohne Probleme konnte man jeden einzelnen Rückenwirbel nachzeichnen, die Jeans schlabberte um die Beine und drohte jeden Moment abzurutschen. Ihr blasses Gesicht war eingefallen, dunkle Augenringe zeichneten sich unter den fahlen Augen ab, die seltsam leblos wirkten. Sie war ein lebendiges Skelett.

Beschämt zog sie einen viel zu großen Pullover an, um den Speck wenigsten etwas verhüllen zu können, wenn auch in Echt die viel zu schmale Gestalt dadurch etwas weniger ungesund aussah. Eine einzelne Träne rollte ihre eingefallene Wange hinab, als sie sich endlich abwenden konnte. Mit einem traurigen Lächeln schaute sie ein letztes Mal auf das Kunstwerk auf ihren Armen hinab, bevor sie den Pullover darüber zog. Die Wahrheit damit verhüllte. Sich vor Fragen schütze, die möglicherweise ihre Rettung bedeutet hätten.

 




Envoyé: 12:39 Tue, 3 March 2020 par: Völkening Lisa