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Klaassen Eline

Da stand ich nun



Da stand ich nun und fragte mich, wie uns das bloß passieren konnte. Es hatte leicht ausgesehen, harmlos, doch nun, wo ich hier stand, mutterseelenallein aufs Wasser blickend, wurde mir plötzlich klar, dass es von vornherein eine einzige, große Falle des Lebens gewesen war.

Vorweihnachtszeit war es gewesen. Die Zeit, in der alle so peinlich bewusst darauf bedacht sind, glücklich auszusehen, dass das Unglück unter der durchsichtigen Schicht des Scheins nur noch deutlicher hervortritt. Der Glückliche hat es nicht nötig, sein Glück zu zeigen. Wie jede Sekunde, in der es mir möglich war, verbrachte ich auch diese Zeit des Jahres bei dir, in deinem modernen Appartement, in Edinburgh, zu Besuch. Du lebtest noch nicht lange in dieser Stadt, im Grunde lebtest du nie lange irgendwo. Ich mochte das, und das war dir bewusst. Du sagtest immer, du würdest dich nicht gerne an einen Ort binden. Eigentlich würdest du dich auch nicht gerne an eine Person binden. Die sicherste Weise, durchs Leben zu gehen, sei die Unabhängige. Aber es war schwierig, und du wusstest das. Du konntest es auch gar nicht. Aber die Idee, es zu tun, gefiel dir so gut, dass du einfach so tatst, als könntest du es. Am Ende ist das ganze Leben ein einziges Theaterstück, nur dass wir nicht immer mitbekommen, welche Rolle sich gerade über uns stülpt.

Ich hatte an deinem Küchentisch gesessen. Es war ein modisches Möbelstück gewesen, aus weißem Kunststoff, unpersönlich und kalt, ganz nach deinem Geschmack. Es war ein Sonntagnachmittag, die Sonne schimmerte schwach durch einen Spalt in der grauen Wolkendecke hindurch, fiel als heller Schein durch die makellos geputzte, große Fensterscheibe. Du saßest gegenüber mir, den Kopf auf die Hände gestemmt, fuhrst dir auf deine ganz eigene Art übers stoppelige Kinn, als müsstest du angestrengt über etwas nachdenken. Auch das hatte mich immer an dir fasziniert, wie du immer wirktest, als seist du gerade mit etwas ungemein Wichtigem beschäftigt. Es verlieh dir etwas Kluges.

Eine Träne löste sich aus meinem rechten Auge, glitt sanft meine Wange hinunter, tropfte von meinem Kinn, traf auf dem dicken, gelblich getönten Papier der kleinen Karte auf, die ich in meiner Hand hielt. Eine leichte, runde Wölbung entstand, mitten in den schwarzen Buchstaben, die einen Namen bildeten. Bereits eine halbe Stunde lang stand ich hier und starrte auf das kleine Kreuz neben dem Namen, versuchte zu begreifen, was auf dieser Karte geschrieben stand. Die Zeit glitt an mir vorbei, ohne dass ich Notiz von ihr nahm. Sie spielte keine Rolle mehr, nichts spielte mehr eine Rolle. Die Zeit war unendlich wie das Wasser vor mir, sickerte gleichmäßig vor sich hin, pulsierte über Flüsse, Seee, Ozeane durch die Erde. Ich fragte mich, ob sie je gänzlich verdampft sein würde.

„Worüber denkst du nach?“, hatte ich dich gefragt, ganz ungezwungen. Mir war nie bewusst gewesen, wie glücklich ich mich schätzen sollte, dass ich dir, einem solch unergründlichen Geheimnis wie dir ohne besonderen Anlass eine belanglose Frage stellen konnte, eine Frage, auf die du eine ernsthafte Antwort gabst. Du hegtest Gedanken zu meinen Aussagen. Warum hatte ich nie den Stolz verspürt, den eine solche Tatsache verdiente?

Es hätte nie passieren dürfen, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass es geschah. Ich wusste tief in meinem Inneren, dass ich die Einzige war, die fähig gewesen wäre, es zu verhindern, ich wäre in die Wohnung gelassen worden, aus der jeder andere verbannt wurde. Ich hätte an deiner Seite weilen müssen, hätte sie erst verlassen dürfen, wenn ich dich durch und durch von jeglichem düsteren Gedanken befreit hatte, aber ich hatte es nicht getan, hatte es nicht einmal versucht. Während du die letzten und schlimmsten Qualen deines viel zu kurzen Lebens durchlebtest, war ich in dieser verfluchten Wohnung gewesen, wo ich mich unter einer Decke verschanzt hatte und hinter zahllosen Buchdeckeln vor der Welt geflüchtet war, bis ich mich endlich überzeugt hatte, dass ich mir alles nur eingebildet hatte.

Du hattest mir eine Antwort gegeben, hattest angefangen, mir von deiner Arbeit zu erzählen, in mir rätselhaften Fachtermen, die als solche in meine Ohren eindrangen und sich unmittelbar danach in Träume, in gänzlich unsinnige Geschichten verwandelten, Märchen, Abenteuer zwischen dir und mir. Der Klang deiner Stimme war Musik für mich gewesen, hatte mich rau und regelmäßig auf eine andere Ebene getragen, auf eine graue Betonfläche hoch über der Erde, von wo aus ich sie mir in den buntesten Farben ausmalen konnte und nur von oben zuzuschauen brauchte, was geschah. Deine Stimme war in meinen Ohren genauso gräulich wie deine ernsten Augen, die alles reell zu sehen pflegten, der Wirklichkeit unverblümt entgegenblickten. Wie deinen Lippen immer komplexere Worte zu entwischen begannen, vertiefte sich die allgegenwärtige Furche zwischen deinen Augenbrauen. Ich versank darin, trieb durch die endlose Farbe deiner Augen, bettete meine Gedanken in der Furche dazwischen. Niemand hatte es besser als ich verstanden, die Welt zu verlassen und zugleich zu nicken, als sei ich ganz und gar in ein Gespräch vertieft.

Ich hatte mich schließlich wieder aufgerappelt, hatte mir vorgenommen, den normalen Tagesablauf wieder anzunehmen. Doch dann war da diese Karte gewesen, diese Karte mit seinem ernsten Gesicht darauf, dieser tieftraurige Blick in den Augen. Ich verstand es nicht, und ich wollte es auch nicht verstehen. Alles, was ich wollte, war hier stehen und Augen und Ohren vor dem verschließen, was offensichtlich war.

Du hattest ein beschäftigtes Leben, schienst jede einzelne Sekunde mit etwas rätselhaft Wichtigem zu füllen, was jede Minute, die du mir widmetst, unendlich wertvoll erscheinen ließ. Du glaubtest, du kanntest mich, tatst, als kannten wir uns beide, so gut, wie es nach einer solch langen Zeit nur gewöhnlich wäre. Dass ich immer nur an deiner Oberfläche kratzte und dabei davon träumte, einst ganz kurz in dein Inneres hineinzugelangen, schienst du gar nicht zu bemerken. Mitten in deiner Antwort auf meine Frage hattest du dich aufgerichtet, die Hand entschuldigend gehoben und dein vibrierendes Handy aus der Tasche gezogen, eines von so vielen.

Ein regelmäßiges Geräusch schnitt durch die Luft, geriet knirschend in meine Ohren. Wie in einem Wahn stellte etwas in mir fest, dass ich dieses Geräusch kennen musste. Klar klang es, eindeutig, man wusste, wo es anfing und wo es aufhörte. Übersichtlich, sachlich, wie es mir gefiel. Wie betäubt kramte ich in meinen Erinnerungen, wo er es einige Male vorzufinden glaubte. Aus einem plötzlich erwachten Instinkt heraus wandte ich jählings den Kopf, löste den Blick von der beruhigenden Fläche des graublauen Seees vor mir, stellte mich der Welt. Eine leise, unglaubwürdige Hoffnung lächelte mir hinterhältig zu, flüsterte mir Bilder in den Kopf, die ich für die Wahrheit hielt.

Mein Vorbild, mein Ebenbild, der Mann, der als Junge niemals von meiner Seite wich. Endlich standst du wieder vor mir, stand vor mir auf dem Kiesweg, konzentriert einen Fuß vor den anderen setzend. Ich lachte übermütig, vergaß die Karte, schüttelte die Erleichterung darüber, dass sie nichts als ein dummer Scherz gewesen war, prustend aus mir heraus. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis der staubige Sand des sich durch die taufeuchte Grasfläche windenden Gehweges wieder verschwommen Gestalt vor mir annahm. Ich lächelte, felsenfest daran glaubend, dass mir deine wunderbare Erscheinung entgegenstrahlen würden, sobald ich die Augen davor öffnete. Bestimmt führte ich den Blick in die Höhe, blickte direkt dorthin, wo deine Augen sich befunden hätten.

Wir waren auseinandergewachsen. Nach einer langen gemeinsamen Kindheit hatte der Weg meiner Jugend eine andere Richtung angenommen, als der deine. Briefe hatte ich dir geschrieben, lange Berichte belangloser Ereignisse, dokumentierte jede Sekunde des Spaßes, die sich in meinem Leben zutrug. Zu Beginn hattest du mir Antworten gesendet, lebhafte Floskeln zu meinem Übermut, karge Zusammenfassungen der vergangenen Zeit, doch mit der Zeit war der Brieffluss immer einseitiger geworden und deine beknüpften Lichtpunkte meines eingeödeten Alltags immer seltener aufgetaucht. Es war mir natürlich erschienen, hatte keine große Enttäuschung verursacht, mein Blick hatte sich schlichtweg mit dem Einbrechen der Düsternis rundum mich immer mehr in mein Inneres gekehrt, hatte zurückgeblickt, die schwach leuchtenden Sterne der Vergangenheit wiederzubeleben versucht. Mit deinem Verschwinden aus der Außenwelt wuchs deine Gestalt, die ich in mir aus Erinnerungen angefertigt hatte, immer mehr, wurde bunter und lebendiger, wurde zu meinem ständigen Begleiter. Wann immer ich mich vor der Welt verstecken wollte, rannte ich zu dir. Bei dir war ich sicher, was immer du tatst, war immer richtig. Was hätte ich ohne dich getan?

Niederträchtiger Hass erfüllte mich, als ich das Gesicht des Straßenjungen erblickte, der mich hoffnungsvoll anschaute. Einen Moment lang lähmte es mich, konnte ich den Blick nicht von diesem so verabscheuten Gesicht abwenden. Ich hatte den Jungen schon oft gesehen, diese struppigen, drahtigen Locken, dieser wortlose, schmale Mund. Im Grundsatz war ich den Straßenkindern ja durchaus freundlich gesinnt, gegen diesen hier jedoch hegte ich seit langem schon einen unbestimmten Groll. Seine Augen waren tiefer und schwärzer als die Nacht, drohten mich zu verschlucken, wann immer ich mich in ihre Richtung verirrte. Der Junge war wie ein Schatten, tauchte immer in meiner Gegend auf, ohne je auf mich zuzugehen oder anzusprechen. Es war fast, als spioniere er mir nach, und etwas an seinem Blick gefiel mir ganz und gar nicht. Zwischen unseren Gemütern schien eine Art unausgesprochene Feindschaft zu herrschen, und etwas vermittelte mir das Gefühl, dass der Junge das genauso spürte, wie ich es tat. Ich sah zurück auf das Meer, vertrank in meinen Gedanken, die sich darin ausbreiteten, wie Wellen sanft in der Morgensonne unter den Nebelschwaden her glitten, die nach und nach verdunsteten, wie Träume unter der Gewalt der Gedanken dahinschwinden. Ich trat einen Schritt näher an das Ufer heran, tauchte ein in den Nebel.

Du hattest vor meiner Schule gestanden. Es war der letzte Schultag gewesen, die Sonne hatte den ganzen Tag über prall durch die Fenster auf meinen vor wirren Informationen überlaufenden Kopf gebrannt, der sich nach nichts als Leere sehnte. Alles lernte man in der Schule, immer neue Informationen wurden zugefügt, doch das einzige, was ich wirklich wollte, war vergessen. Erfüllt von diesem halbherzig verzweifelten Übermut war ich dem Schülerstrom also nach draußen gefolgt, in die unendliche, frische Luft, heraus aus dem Drängen der Menge, Drängen der stickigen Luft zu vieler Gedanken auf engem Raum. Und da hattest du gestanden, abwesend in den Himmel blickend, kratztest dich nachdenklich am Kinn. Die Welle der plötzlich entstehenden Gefühle hatte mich überrollt, mich zu Staub zermahlen, ich konnte nur dort stehen und dich anstarren. Deine Augen hatten meine gefunden, sich hineingebohrt, meinen Grund aufgesucht, wo du dich immer noch eingenistet hattest, nach all der Zeit. Dein Blick war tief gewesen, tief und nüchtern. Ich hatte lange gesucht, gesucht, um mich in dir zu finden. Ein paar Schritte hatte ich auf dich zugemacht, nur um zu sehen, was du tun würdest. Dein Blick glitt an mir vorbei, ohne dass ich Notiz davon nahm. Gerade, als ich mich mit voller Wucht in dein Leben werfen, in deine Gegenwart schleudern wollte, griffen zwei Arme nach dir, pressten einen mir fremden Körper gegen deinen, klebten einen widerwärtig süßen Ausdruck der Liebe in deine Augen. Dein Blick hatte nicht mir gegolten, er hatte ihr gegolten, ihr ganz allein, sich an sie geschmiegt und mich nicht einmal erblickt. Wütend war ich vom Schulgelände gerannt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass du scheinbar liebevoll die Arme ausbreitetest, um mir dann, wenn ich mich dankbar hineinstürzen wollte, eine klatschende Ohrfeige zu verpassen.

Es fühlte sich befreiend an, dem Jungen die Tür mit voller Wucht diesen bitterbösen Blick zuzuschleudern, der sich bisher grimmig in mich gerichtet hatte. Ein Zischen ging von meinen Augen aus, ein Gift, das das sanfte Wasser des Meeres zu verseuchen drohte, wenn ich es nicht an etwas anderem auslassen konnte. Der Junge blickte mich direkt in die Augen an, kroch an meinem niederträchtigen Hass vorbei, heftete sich auf meine Wunden. Ich wollte an ihm vorbeischauen, ihn mit würdeloser Ignoranz strafen, doch seine Augen waren wie schwarze Löcher, sogen mich mit einer solch starken, warmen Kraft in sich hinein, dass ich, dich ich dermaßen hilflos der Kälte ausgesetzt war, nicht anders konnte, als mich macht- und kraftlos in sie hineinsaugen zu lassen.

Wie in Trance rannte ich das Ufer hinunter, meine Augen sahen alles verschwommen, meine Ohren waren erfüllt von einem lauten Rauschen, ich rannte, hinterließ Kinderwägen und genervte Eltern, schmerzverzerrte Großmütter und zittrige Großväter, geschäftige Straßen, Leben, rannte ungebremst in den weiten, unendlichen Nebel hinein, der geheimnisvoll und unentdeckt über die grauen Wassermassen herrschte. Ich rannte in ein Nichts hinein, spürte das Wasser zu meinen Füßen, das Wasser des Lebens, den Dampf der Unendlichkeit, langsam lösten sich die tonnenschweren Gedanken in meinem Kopf auf, sie tropften wie flüssiges Feuer in das Wasser hinein, hinterließen eine angenehme Hülle der Ruhe und des Friedens. Das Wasser trieb mich fort, es nahm mich in seine Massen auf, umgab mich und zeigte mir, wie klein ich war. Der Nebel reinigte meinen Kopf, schuf Leere, jeglicher Belang des Lebens löste sich in Dampf auf. Gerade, als mein Körper mit einem letzten, friedvollen Seufzen den sanften Wellen nachgeben und sich auf ewig darin niederlassen wollte, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter, zog mich sachte, doch kräftig in die Höhe, zurück zum Ufer.

Einen Augenblick lang sträubte ich mich instinktiv dagegen, ruderte halbherzig mit den Gliedmaßen, doch bald schon ließ ich mich von dem leisen Flüstern in meinem Ohr, dem sanften Rauschen der Wellen, den eisig um mein Gesicht streichenden Nebeltröpfchen besänftigen. Ich ließ mich tragen vom Rauschen der Worte, ließ mich ans Ufer spülen von drückenden Wellen. Die Worte des Jungen waren tief und haltspendend, ich griff danach, hielt mich daran fest, ließ mich gleiten ins Schicksal des Lebens, gleiten, obwohl ich nicht wusste, was es mir geben würde. Die Worte waren eine Seilbahn, die mich durchs Leben führen würde, und dadurch, dass ich sie festklammerte, ließ ich zugleich das Wasser zurück, das Wasser, in dem die Vergangenheit umhertrieb und immer umhertreiben würde. Ich hinterließ die grauen, endlosen Wassermassen und folgte dem Jungen blindlings in die hellen, warmen Sonnenstrahlen hinein.

 




Envoyé: 20:29 Sat, 16 February 2019 par: Klaassen Eline