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Wald Célie

Lilia



Lilia sieht die Hand, die grobe Hand hoch erhoben mit gespreizten Fingern und bedrohlich zitternd. So mächtig, so stark, so ganz ohne Hemmungen. Und Lilia sieht Mama. So klein, so schmal und zart. So hilflos unter dem Schatten der groben Hand. Lilia weiß was jetzt passiert, Lilia kennt die wimmernden Laute. Und Lilia nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und sie malt. Sie malt eine Insel. Eine sehr helle Insel. Eine Insel, von Licht durchflutet, eine Insel unter strahlendem Sonnenschein. Eine Insel so hell, dass der Schatten der groben Hand niemals zu sehen wäre.

Und sie hängt die Insel übers Bett und schaut sie an, stundenlang.

Lilia hält ihr Schwesterchen auf dem tauben Arm. Mama schluchzt und schreit und fleht. Ein fremder Mann verlässt das Haus. Das letzte was Lilia von ihm sieht ist die grobe Hand. Mama schmeißt die Tür ins Schloss und schluchzt. Und Lilia nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und sie malt. Sie malt eine Insel. Eine Insel auf der es keine Türen und keine Tore und keine Portale und keine Luken gibt.

Und sie hängt die Insel übers Bett und schaut sie an, stundenlang.

Lilia ist in der Schule. Ein Vatertags Geschenk soll sie basteln. „Papas Lieblingsfarbe ist gelb“ sagt Greta. Lilia schließt die Augen und denkt. Einen Vater hatte sie nie gehabt, zumindest konnte sie sich nicht an einen erinnern, da war lediglich eine große, grobe Hand. Und Lilia nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und sie malt. Sie malt eine Insel. Eine Insel auf der nur Väter wohnen und die Väter sind groß und klein, dick und dünn, schmal und breit. Manche mögen gelb, andere grün und wiederrum andere violett. Nett, erfahren und lieb sind sie.

Und sie hängt die Insel übers Bett und schaut sie an, stundenlang.

Lilia steht im düsteren Flur. Ihre Hand schließt sich verzweifelt um die Klausur, die sie hinter ihrem Rücken hält. Ihr Herz rast, ihre Augen tränen, ihre Stirn ist schweißnass. Mama steht vor ihr und schreit. Und da ist sie wieder, die Hand. Hoch erhoben mit gespreizten Fingern und bedrohlich zitternd. So mächtig, so stark, so ganz ohne Hemmungen. Und Mama verschwindet hinter der groben Hand. Ihr wutverzerrtes Gesicht löst sich auf. Alles was bleibt ist die Hand, so hoch erhoben. Und Lilia nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und sie malt. Sie malt eine Insel. Eine Insel auf der es keine Gewalt gibt. Wo alle Mütter und Töchter, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene friedlich zusammenleben und wo die einzige Form des Terrors das Tosen des Windes und das Rauschen des Meeres ist.

Und sie hängt die Insel übers Bett und schaut sie an, stundenlang.

Lilia kommt nach Hause, ihre Schwester ist im Bad. Schwach und erschöpft hängt sie über der Kloschüssel. Jede Rippe ist zu sehen, so mager und verschlissen. Elendig zittert ihr ausgehungerter Körper und bebt bei jeder Welle des Erbrechens. Flehend schaut sie Lilia aus ihren dunkeln, tiefen Augenhöhlen an. Und Lilia nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und sie malt. Sie malt eine Insel. Eine Insel auf der es keine Krankheiten gibt. Eine Insel ohne klinisches weiß und angsteinflößende Gebäude. Eine Insel ohne Schmerz und Leid, ganz ohne Angst vor dem Lebensende.

Und sie hängt die Insel übers Bett und schaut sie an, stundenlang.

Lilia sieht einen erhobenen Zeigefinger und einen warnenden Blick, doch nimmt beides nicht wahr. Eine Stimme redet nachdrücklich auf sie ein, die Worte prallen an ihr ab. Ein blaues Auge schaut ihr vorwurfsvoll entgegen, sie zuckt mit den Schultern. In ihrem Kopf hebt sich die grobe Hand, hoch erhoben von allem anderen ab. Es ist ihr egal.

Lilia liegt in ihrem Bett, schaut sich die Inseln an, stundenlang. Doch es ist anders, anders als sonst. Die Inseln scheinen plötzlich überfüllt. Sie krümmen sich unter der tonnenschweren Last ihrer Wünsche. Sie werden mickrig klein und elendig. Weit weg von ihr liegen sie, trübe und vage in einer Nebelschwade mitten im verlassenen Grau, unter dem so endlosen Blau. So unerreichbar, so unpräzise und ungenau. Und Lilia verschwindet im Bad und schließt die Tür ab. Und auf den Inseln regt sich was. Über die helle Insel legen sich Schatten; es öffnen sich Durchgänge; die Väter keifen sich an; Mütter und Töchter, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene beginnen einen Krieg und auf der letzten Insel stirbt ein Kind. Unschuldig, unberechtigt und unbemerkt.

 




Envoyé: 12:21 Tue, 3 March 2020 par: Wald Célie