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Klaassen Eline

Die Zugtaube



Eine Taube flattert auf den Kabel zu. Eine einfache Stadttaube mit blaugrau schimmerndem Gefieder. Sie ahnt nichts, fliegt ahnungslos auf den pechschwarzen Draht der Oberleitung zu. Geübt breitet sie ihre Flügel aus, spreizt die Krallen, schwingt sich zielbewusst auf den Kabel. Wie sie sich darauf niederlässt, schließen sich ihre Krallen ganz natürlich darum, ohne auch nur den geringsten Spalt freizulassen. So, als haben sie nie etwas anderes getan. Dabei müsste sie doch besser als jeder andere wissen, dass man Oberleitungen von Zügen nicht trauen kann. Sie sind von Menschenhand geschaffen. Und Menschen sind nun einmal nicht zu vertrauen. Aber das kann doch die Taube nicht wissen.

Regentropfen prasseln auf das Dach, treffen hart auf, zersplittern innerhalb Sekundenbruchteilen, verursachen ein gleichmäßiges, rhythmisches Trommeln des Zerfetzens. Wasser peitscht gegen die Windschutzscheibe, die Welt ist in graue, farblose Wolken getaucht. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass sie ihm förmlich in die Nase steigt, ein würziger und zugleich unheilvoller Geruch, der gerade dadurch eine gewisse Sehnsucht nach unerreichbarer Ferne und Freiheit in ihm auslöst. Er will hinaus, in den Regen hinein, blind über die Gleise stürmen. Die gleichmäßigen, geraden, logischen Bahnen der Tropfen lösen eine Wut in ihm aus, eine geradezu teuflische Lust, sie zu zerstören. Überhaupt, der Klumpen aus weggestopfter, hinuntergeschluckter Wut würde am liebsten alles zerstören, angefangen mit der ganzen Technik vor ihm, die es ihm ermöglichte, diesen gottverdammten Zug auf den Gleisen zu halten. Es waren ohnehin kaum Leute in dem Zug, wen würde es schon stören?

In einer einzigen sanften, geschmeidigen, fließenden Bewegung legt sie ihre Flügel an, lässt sie vollkommen in ihrem Gefieder verschwinden. Es ist ein friedliches Bild, diese einzelne Taube auf der Oberleitung. Nichts Böses auf der Welt scheint sie je erreicht zu haben. Arglos öffnet sie ihren Schnabel einen winzigen Spalt breit, dann schließt sie ihn wieder. Es wirkt, als fühle sie sich wohl. Sie fühlt sich wohl auf der Oberleitung des Zuges. Und zudem geborgen, als sei sie hier oben sicher vor jeglicher Gefahr. Sie vergräbt ihren Schnabel im Gefieder und beginnt, es andächtigen Blickes und mit größter Sorgfalt zu säubern.

Der Regenfall lässt ein wenig nach, er klingt weicher, weniger verbissen. Der Wutklumpen zerbröselt erst kaum merkbar, um schließlich ganz und gar in sich zusammenzusacken. Wie ein Regentropfen ist sie ihm zu Kopfe gestiegen, die Wut ist größer und immer größer geworden, gefallen, hat sich der Welt in ihrer ganzen hässlichen Rachsucht gezeigt um schließlich, ganz und gar der Boshaftigkeit müde, auf der belanglosen Windschutzscheibe eines belanglosen Zuges zu zersplittern. Die graue Ödnis der Landschaft um ihn herum verwandelt die Wut in eine gewisse Niedergeschlagenheit. Wie dumm von ihm, mit den Fäusten auf die Technik einschlagen zu wollen. Was für ein dummer Gedanke. Er mag Züge doch. Sie sind so ziemlich das Einzige, das ihn wirklich glücklich zu stimmen vermag. Erst recht sein Zug. Und erst recht bei regnerischem Wetter. Irgendetwas ist heute anders als sonst.

Ein zweiter Vogel nähert sich ihr, er ist kleiner und auch etwas molliger. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Kohlmeise, für eine Blaumeise sind ihre Federn nicht bunt genug. Für einen Moment macht es den Eindruck, als wolle sie unter die Leitung hindurchfliegen, doch im letzten Augenblick ändert sie ihre Flugrichtung und landet neben der Taube. Diese erachtet das Reinigen ihres Gefieders jedoch allem Anschein nach als wichtiger als das Verdrängen eines Seinesgleichen und fährt somit ungerührt fort. Auch das kaum merkbare Zittern, das aus der Ferne durch den Kabel dringt, ignoriert die Taube schlichtweg. Vielleicht schreibt sie es der Landung der Kohlmeise vor, welche sich etwas ungeschickt neben ihr niedergelassen hat. Auch Letztere scheint den Ort, an dem sie sich befindet, nicht im Geringsten mit Lebensgefahr in Verbindung zu bringen. Dabei müsste sie doch besser als jeder Andere wissen, dass solch graue Tage wie dieser den Todesdrang fast wie ein Magnet anziehen. Und Magnete sind von Menschenhand geschaffen. Aber das kann doch die Kohlmeise nicht wissen.

Eine Taube sitzt vor ihm auf der Leitung, eine harmlose, blaugraue Taube. Ihre zarte Gestalt scheint jegliche dunklen, sündigen Gedanken, die seine Seele eben noch vergiftet hatten, aus seinem Gehirn zu fegen, sein Gedankenstrom wird zu einem einzigen reinen, weißen Blatt. Eine nahezu engelsgleiche Sanftmut scheint sich über seinen aufgewühlten Geist zu legen, umschließt sein unruhig pochendes Herz wie eine große, schützende, allwissende Hand. Eine wunderbare Ruhe breitet sich in ihm aus, lässt seinen Verstand verstummen, seine Glieder erschlaffen, seinen Blick erstarren. Für einen Moment sind sämtliche Geräusche auf Erden verstummt, einschließlich dem Trommeln des Regens, überhaupt sind alle Regentropfen für einen Moment reglos in der Luft schweben geblieben, weil für einen Moment jegliche Bewegungen erstarrt und jegliche Gedanken stehengeblieben sind. Für einen Moment, für diesen einen Moment ist die gesamte Welt in Frieden getaucht. Aber eben nur für einen Moment.

Ein unglaublich hohes Quietschen durchfährt den reinen, kleinen Körper der Taube, sie durchdringt ihre Knochen und zerstört ihre Gedanken. Für einen Moment bleiben sowohl Taube wie auch Kohlmeise regungslos auf dem Kabel sitzen, erstarrt, fassungslos, schockiert. Dann breitet sich augenscheinlich Panik in dem kleineren der beiden Vögel aus, die Kohlmeise beginnt, hastig mit den Flügeln zu schlagen, flattert ängstlich davon. Die Taube hingegen, die Taube bleibt regungslos, sie sitzt vollkommen regungslos auf der Oberleitung des Zuges. Ihr Platz ist hier, sie wird sich nicht von einem Geräusch wegscheuchen lassen. Die Taube sitzt dort und trotzt der Bösartigkeit, der Grausamkeit der Welt. Aber man sollte bloß nicht denken, sie täte dies aus Mut. Sie tut es aus Trotz, aus purem, störrischem Trotz.

Für einen Moment sieht er die Taube blind an, wird jegliche Vernunft in ihm von dieser betörenden Reinheit in Form eines Vogels betäubt. Doch dann erwachen seine Sinne, die Entfernung zwischen dem Zug und der Taube verringert sich in Sekundenschnelle, ohne dass die Taube auch nur die geringsten Anstalten macht, wegzufliegen! Der für sie zweifellos tödliche Zusammenstoß rückt näher und näher. Eine gewisse Panik ergreift Besitz von ihm, seine Bewegungen verlaufen unkontrolliert, automatisch, unbewusst. Er überlegt nicht länger, er verschwendet nicht einen weiteren Gedanken. Stattdessen bremst er, er bremst, um das Leben der Taube zu verschonen. Die Silhouette am Rande der Brücke übersieht er.

Der Zug mag bremsen, doch es ist offensichtlich, dass die Zeit nicht reichen wird. Zu spät hat der Zug die Taube erblickt, zu spät hat er eingesehen, dass er bremsen musste. Wenn die Taube sich nicht erhebt, wird sie gnadenlos in Stücke gerissen werden. Ich fasse einen Entschluss. Das Schicksal der Taube ist meines. Es verleiht mir eine gewisse Macht, diese Taube so fest entschlossen auf dem Kabel sitzen zu sehen, nicht fliehend vor dem Schicksal, sondern ihm trotzend. Die einzige Macht, die ich je haben werde, ist es, über mein Leben entscheiden zu können. Dies ist das einzige Mal in meinem Leben, in dem ich meinen Instinkt überwinden kann, in dem ich durch und durch frei sein kann. Entweder bin ich frei oder ich lebe. Freiheit ist etwas, das nicht mit dem Leben kombiniert werden kann. Das Leben ist ein Spiel, dessen Regeln nicht ignoriert werden können. Wenn die Taube es schafft, gegen sie zu verstoßen, dann tue auch ich das.

Der Zug mag bremsen, doch er bremst zu langsam. Auch der Lokfahrer merkt das, hilflos greift er noch nach der Notbremse, aber auch die ist nicht fähig, die Geschwindigkeit des Zuges zu drosseln. Der Lokfahrer hebt den Blick. Seine Augen blicken direkt in ihre. Seine weiten sich, ihre verengen sich. Er will vor Panik schreien, sie sich in Entschlossenheit hüllen. Seine Stimme versagt ihm, der Schrei bleibt ihm in der Kehle stecken. Er sieht dem Tod direkt in die Augen, er ist nicht fähig, sie vor ihm zu verschließen, er kann sich nicht dagegen wehren. Der Zug fährt weiter und weiter, und er kann nichts dagegen tun.

Ich richte meinen Blick fest auf die Taube. Meine Konzentration gilt ihr voll und ganz, kein einziger Gedanke erreicht meine Seele. Der Zug kommt näher, immer näher und näher. Der Lokfahrer wird von blinder Panik ergriffen, er hat mich gesehen, doch ich verschwende auch an ihn nicht einen Gedanken. Wenige Zentimeter trennen den Zug noch von der Taube. Der Lokfahrer scheint jegliche Hoffnung aufgegeben zu haben, sich dem grausamen Schicksal hingegeben zu haben. Die Taube legt ganz kurz den Kopf schief. Dann breitet sie ihre Flügel aus und erhebt sich in die Lüfte. Der Zug passiert den Bahnhof, die Taube wendet ihren Flug. Während die letzten Regentropfen auf dem Pflaster des Bahnhofs zerschmettern, fliegt die Taube mit kräftigen Flügelschlägen durch den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Dem Zug hinterher.

 




Envoyé: 18:21 Sat, 16 February 2019 par: Klaassen Eline