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Weibel Diane

Carpe Nova Vita



„Wir schreiben das Jahr 2012 seit einem Monat. Eine Weltuntergangsprophezeiung dreht ihre Runden durch sämtliche sozialen Schichten. Ich wage zu bezweifeln, dass die Welt wahrlich untergeht und doch hat mir dieses Massenpanikereignis durch das Ende des Maja Kalenders verursacht, einen kleinen Denkanstoß gegeben. Ich werde mir immer stärker der Tatsache bewusst, in einer Welt zu leben die wie ein Phoenix jeden Tag aus ihrer Asche wieder aufs Neue aufersteht. Ich träumte einst davon meine Welt zu bereisen, mit eigenen Augen zu entdecken. Doch mit jedem Tag der vergeht wird mir das Grau meiner Welt schmerzlich bewusst. Entweder man führte ein Leben in der Gesellschaft oder außerhalb der Gesellschaft, etwas anderes gab es nicht. Entweder man ordnete sich den Regeln, Gesetzen und Normen unter, oder man tat es nicht und lebte mit den Konsequenzen.

Man wird als Kind gelehrt, das man frei ist zu Wünschen und zu Träumen, dass jeder Mensch gleich ist vor dem Gesetz und jedem jede Möglichkeit offen steht. Das ist eine Lüge. Wahr ist, dass man heutzutage seine schulische Laufbahn selber wählen kann. Doch oftmals scheitern viele, die ihre Fähigkeiten überschätzten und landen in einem Mindestlohnverdiener Job, die ebenfalls getan werden müssen um das Rad am Drehen zu halten. Selbst wenn die Träume Sänger zu werden, Arzt oder Rechtsanwalt noch so groß waren. Erfüllt man die Kriterien nicht, so endet man in einem Job, mit mäßiger Anforderung, der einen mit jedem Tag immer grauer werden lässt, bis dass man selbst nicht mehr weiß, wie Farbe aussieht.

In einer gesellschaftlichen Struktur zu leben, bedeutet im Großen und Ganzen genau das. Man erlernt etwas, irgendetwas, ganz egal was, macht einen Abschluss darin, kommt auf den überfüllten Arbeitsmarkt, schwimmt mit sämtlichen Fischen im Fluss auf der Suche nach der besten Festanstellung für einen selbst. Diese erhalten kann man genau das tun, wozu man geboren wurde. Arbeiten, den Sold an der Gemeinschaft damit ableisten, die Wirtschaft irgendwie am Laufen erhalten, dafür dann selbst Entlohnt werden. Sich selbst sein Besitz anzuschaffen. Heutzutage sich selbst etwas Eigenes aufzubauen wird jedoch immer schwieriger. In manchen Städten hat man kaum eine Box für sich alleine zum Schlafen, wie es in Tokyo der Fall ist. Unsere Erde wird leider nicht größer.

Für diesen reibungslosen Ablauf unseres wirtschaftlichen Systems ist ein Objekt wohl das allerwichtigste. Geld. Egal welche Währung. Menschen haben sich über Jahrhunderte hinweg mittels Geld das Leben weitaus vereinfacht. Man kann den hart arbeitenden Menschen damit bezahlen und mit Geld kann man in unserer Welt sämtliche verschlossenen Türen öffnen. Träumer mit Geld träumen nicht. Sie Leben ihren Traum. In dieser Welt kann man alles mit Geld erreichen. Besitzt man keins tut man alles um welches zu bekommen. Hier ist wohl die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Was man werden will und zu was man wird des Geldes wegen. Konsumorientiert, angetrieben von geldgierigen Lobbyisten, bleibt dieser Ort ein Kampf ums bessere Überleben.

Eben jene Strippenzieher hinter den Kulissen einer funktionierenden Gesellschaft sind es die meine Bedenken zu Tage fördern. Lobbys. Waffen und Pharmazeutika sind nur zwei der Beispiele. Sie sind es, die im Verborgenen das Geschick der Welt lenken. Doch wie soll eine Waffenwirtschaft Profit erzielen, ohne Menschen die Waffen und Munition benötigen? Gott sei Dank gibt es immer wieder einen guten Grund Krieg zu führen, wenn nicht, kann man immer noch sich einen triftigen Grund einfallen lassen. Die Pharmaindustrie kann davon nur ebenfalls profitieren. Verletzte und kranke Menschen erhöhen ihre Provisionsrate.

Ich verstehe durchaus, dass die Befriedigung der eignen Bedürfnisse in des Menschen Natur liegen und zum Überleben wichtig sind. Man muss Arbeit schaffen, ein funktionierendes System etablieren, damit man sich Kleidung herstellen, Essen und Trinken verpacken und verkaufen, ein Haus leisten kann. Damit man leben kann. Ohne funktionierendes Gebilde würde der Mensch immer noch wie in der Steinzeit Hausen. Doch des Menschen Gier ist es, die ein solch einfaches Leben unmöglich machen. Das Verlangen nach Mehr. Mehr Besitz. Mehr Macht. Mehr Konsum und Luxus. Mehr von allem und ja nicht zu wenig. Doch wo führt uns diese Massenverschwendungssucht hin? In der westlichen Hemisphäre landet mehr als die Hälfte der Nahrung im Müll, während die andere Halbkugel am Hungertuch nagt. Wie kann man bei solch einem Massenkonsum und einer Massenverschwendung auf der einen Seite und Krieg und Hunger auf der anderen Seite behaupten, diese Welt sei Gerecht?

Tag für Tag verschmutzen Menschen weiter diese Welt. Mit ihrem normalen Haushaltsmüll bis hin zu dem immer noch verwendeten nuklearen Stromgewinnungsverfahren welcher Unmengen an atomaren Restmüll aufwirft. Durch Erdöltanks, die ihre Ladung bei einem Unfall in unsere Meere entleeren aufgrund von Überfüllung und das Leben im Wasser und in der Luft dadurch gefährden. Der Mensch sieht sich selbst als privilegiertes Wesen, vorrangig vor allen anderen und in seiner eigenen Gliederung noch einmal unterteilt. Manche Menschen sind mehr Wert als andere. Wie kann ein Leben mehr Wert sein, als ein anderes? Nun, es hängt vom Gewicht der Geldbörse oftmals ab. Die die schwer genug ist, wird bevorzugt.

Ich blicke auf all dies zurück. Auf meine verschmutzte Heimat, die mit jedem Tag ihr Leben für uns gibt. Die gerodet, gemästet, ausgepumpt, verändert, verdreckt, geklärt und wieder recycelt wird. Ich sehe ihre Bewohner, Tiere jeder Art, die lernten sich ihrer Umgebung anzupassen und ich sehe den Menschen, der in seiner Hochmütigkeit sich selbst als Erschaffer und Retter ersieht. Ein Retter, der selbst der Henker ist. Wir versuchen unsere Schäden an der Natur dadurch zu lindern, dass wir Bußgelder dafür zahlen, was wir als Mensch mit unserem Konsum in dieser Atmosphäre zerstört haben. Doch verschiedene Schäden sind irreparabel. Noch ist der Mensch nicht in der Lage Gase zurückzuholen die längst ein Loch in unsere Schützende Ozonschicht gebrannt haben. Und dennoch fließen abermals die Gelder zur Buße der Natur dieses Mal. Bäume werden gepflanzt, doch wie lange brauch ein Baum, bis er ausgewachsen ist? Einige Jahre dennoch. Dass der Mensch auf die Heilung seiner Heimat wartet, ist ebenso verrückt wie traurig. Bereits das Drehen des Autoschlüssels im Zündschloss lässt weitere Gase aufsteigen. Der Mensch zieht es dazu noch vor, alleine in seinem Wagen zu Reisen. Den Stau ist man mittlerweile ja gewöhnt. Dabei versuchen wir ja, auf andere, erneuerbare Energien umzusteigen, die Naturschonender sind. Bis dahin muss es auch so noch funktionieren.

Ich sehe auf all dies zurück und kann doch die bitter schwere Last nicht von mir und meinem Herzen weisen. Ja, auch ich bin ein Teil dieses Systems. Die einzig andere Möglichkeit für einen wäre es, sich selbst aus der Gesellschaftsstruktur auszuschließen. Das Leben auf der Straße kommt unserem uralten Kampf ums Überleben wohl am nächsten. Man ist der Witterung und der Barmherzigkeit seiner Mitmenschen ausgesetzt, denn Essen wächst zwar auf den Bäumen, doch diese Bäume gehören dem System, ebenso wie sämtliche andere Nahrungsprodukte. Um sich daran zu verköstigen benötigte man Geld.

Natürlich bedarf es eines Systems, einer Ordnung und Gliederung, damit das Weltgefüge des Menschen funktioniert, ansonsten bräche wohl Anarchie aus und ein erneuter Kampf ums blanke Überleben.

Ich sehe das alles und komme dennoch selbst nicht in die Gänge. In dieser ach so grenzenlosen Welt scheitere ich, wie es mir scheint,  an den von mir selbst auferlegten Grenzen. Ich besitze keine Ambitionen in dieser von Erfolg gekrönten Welt, die mich dazu antreiben irgendetwas in dieser Welt erreichen zu wollen. Verbessern zu wollen. Etwas das für mich einen Wert hätte und mich am Ende meines Lebens mit Glück erfüllt diesen Ort verlassen lässt. Etwas das mir das Gefühl gibt in dieser Welt etwas geleistet zu haben, das zu einer Besserung des allgemeinen Zustandes verhilft. Doch ich glaube nicht daran, noch weniger hoffe ich, denn um zu hoffen, muss man den Keim der Hoffnung in sich tragen, und jener ist mitsamt meinen Träumen und Ambitionen erlischt.

Dieser Gedanke bringt mich fast zum Lachen, ist er doch eigentlich zum Heulen. Ich frage mich selbst, was ich zu einer Besserung dieser Welt beitragen kann und höre im selben Atemzug wie andere Menschen sagen: Ich bin doch auch nur ein Mensch, was vermag ich alleine schon ändern? Nichts.

Einst sprach ich mit einem Freund über meine Ansichten. Ich dachte Trost bei ihm zu finden, war er der Natur ebenso verbunden wie ich. Er antwortete mir: Wir haben das Los gezogen, in dieser von Masse überfluteten Welt voll von Verschwendung und Konsum zu leben, samt Internet und Smartphone, samt Alkohol und Süchtigmacher. Unsere Welt wird so oder so irgendwann zu Grunde gehen, doch das werden weder du noch ich erleben, und noch viele unserer Urenkel nicht. Aber ja, irgendwann geht das Licht aus für uns alle. Ich versuche mein Leben einfach zu genießen, mir kein zu großes Kopfzerbrechen zu bereiten über ein ’was-wäre-wenn‘ und so zu Leben wie ich es für richtig halte. Denn ich bin ja schließlich auch nur ein Mensch und kann nichts daran ändern wie unsere Welt funktioniert.

Noch ist es wohl nicht zu spät ein grausames Schicksal abzuwenden. Vielleicht ist das Jahr 2012 ja wirklich das Ende, wie es mit vom Maja Kalender prophezeit wird. Am Ende des Jahres werden wir es wohl oder übel wissen.

Rousseaus Ansicht wie der Mensch leben sollte kam der meinigen immer am nächsten, doch auf solch eine Welt kann ich wohl nur noch hoffen.

 

"Gespräch mit meinem Philosophen“

Innerlich wieder einmal leicht aufgewühlt von den zum tausendsten Mal gelesenen Zeilen, faltete er den Brief wieder zusammen. Er war versteckt gewesen in dem aus Ledergebundenen Tagebuch. Seb wusste nicht mit Sicherheit ob beide Dokumente vom selben Verfasser abstammten oder ob dieses Schriftstück aus einem anderen Grund im Tagebuch versteckt wurde. Er trug sie immer nah bei sich, sie berührten ihn auf unerklärliche Weise. Nur ausversehen war er über das alte Buch gestolpert, besaß es nun den größten Wert für ihn. Hexagon Delta verfügte über die drittgrößte Ansammlung geschriebener wie auch digitaler Werke der Uhrzeiten. Er hatte damals in der Wiederverwertbaren Abteilung gestöbert. Dort gelangten jene Bücher hin, welche in den Augen der Aufseher keinerlei Wert besaßen und mit guten Gewissen Recycelt werden können. Doch was Bedeutsam war, lag seit jeher im Auge des Betrachters. Es handelte sich zwar nur um ein Tagebuch, geschrieben von einer Person aus einer längst vergessenen Zeit, doch jene Niedergeschriebenen Zeilen gaben ihm das Gefühl von Zugehörigkeit. Der Brief wiederum berührte ihn auf eine andere Weise. Er hatte sich bereits im Buch befunden als er das Band zwischen unzähligen Blätter und Büchern fand, doch blieb er bei seiner Überzeugung dass es sich womöglich um ein und denselben Autor handelte, selbst wenn die Handschrift nicht vollends übereinstimmte.

„Wie immer in deinem Versteck mein Sohn“, aus seinen Gedanken gerissen blickte er noch mit strengem Gesicht auf. Sogleich erhellte es sich, als er seine Mutter auf ihn zukommen sah. „Mutter, wieso bist du nicht draußen um deine Tochter anzufeuern?“, er erhob sich und schloss die zierliche, hochgewachsene Frau in seine Arme. Sie besaß Hüftlanges Blondes Haar, heller als er selbst, und weitaus heller als seine Schwester.

„Vinzent ist bei ihr. Sie gewinnt auch ohne mich, ohne jede Frage.“, Margarete sah ihrem Sohn ins Gesicht. Etwas tief Trauriges lag in ihren Augen und doch lächelte sie mit ihrem gesamten Wesen. So als hätte sie sich zwar mit ihrer Trauer abgefunden, doch sie auch niemals gänzlich überwunden.

„Die alljährlichen Spiele der Soldiers dienen doch nur zur Unterhaltung. Sie halten das Feuer in den Herzen der Menschen entfacht. Lassen die Hoffnung und die Freude auf erblühen. Bringen uns einander näher.“, er lauschte ihren Worten, versuchte sich in ihnen zu finden. Doch jene Spiele, so herzerwärmend sie für manch einen waren, waren ihm Verhasst. Menschen traten gegen Ghosts an. Ghosts waren, wie er einst gelesen hatte, künstliche, lebende Organismen und doch kam er ihnen lieber nicht zu nahe. Sie jagten ihm immer einen Schauer über den Rücken. Hier handelt es sich um ein Spiel, doch die bittere Wahrheit war es wohl, dass der Mensch sich ebenso oft nur allzu schnell in einem wahren Konflikt wiedergefunden hatte seit ihrer Existenz auf dieser Welt. Er hatte Dokumentationen über unzählige Kriege vor Jahrhunderten gefunden. Er konnte nicht mal sagen, wann es aufgehört hatte. Konflikte die Menschen ihr Leben kosten konnte. Heiteres Spiel, dass er nicht lachte. Und doch kam nie jemand wirklich zu Schaden. Jedenfalls bei ihren Spielen nicht.

„Elli ist ja vor Ort. Deine Elizara wird sich nicht unterkriegen lassen.“, er versuchte die Aufmerksamkeit einfach von sich abzuwenden. Was eigentlich nicht schwer war. Seine Wesen war kaum wahrzunehmen. Oftmals schon hatten Lehrer oder andere Menschen ihn einfach unwillkürlich ausgeblendet.

„Ich sehe dich, Sebastian. Klar und deutlich. Mein Junge, du kannst nicht dein ganzes Leben hinter diesen Wänden verbringen, deine Nase immer tiefer in alte Schriften tauchen. Du ebenso wie ich wissen, dass es eine Unmenge an Material gibt, soviel, dass noch kein einziges Lager sämtliche Daten umfasst, geschweige denn ein Mensch sich sämtliches Wissen aneignen könnte. Und dazu gehören noch nicht einmal die virtuellen Daten. “, sie trat einen Schritt auf ihn zu, hob ihre rechte Hand an seine linke Wange und strich ihm sanft darüber. Er ließ die Berührung zu. „Mein Junge. Mein guter, wissbegieriger  Sohn.“, seit er sich erinnern kann, war sie da gewesen, seine Mutter. Etwas sehr starkes verband sie, und doch wusste er nicht was es war. Sie war einfach da, ohne jede Bedingung. Seine linke Hand wanderte nach oben und legte sich auf die ihre.

„Mutter, ich verspreche dir dass es mir gut geht. Ich bin glücklich hier unten. Ich habe mir überlegt mich um den Posten des Instand Halters zu bewerben“, außer dem Wissen hier, interessierte ihn nichts in dieser Gesellschaft. Er wollte mehr darüber wissen, weswegen der Mensch beschlossen hatte, die Form der Warbe zum Leben zu nutzen, doch über dieses Thema gab es kaum bis keine Schriften. Nie war er einmal hinter der Wand aus Titanstahllegierung gewesen. Noch nie hatte er über ihren Rand gesehen. Er wusste nur, was sich die Leute erzählten und die jämmerlichen Broschüren hergaben, die über Projekt GON existierten. Darin wird genausten beschrieben, wie eine gewisse Form und Umstrukturierung, sowie Konsumanpassung zu einem geregelten und lebensmöglichen Leben führt. Die Gelehrten sprachen nicht über die letzten hundert Jahre, vielleicht sogar mehr und es ließen sich keine Aufzeichnungen finden.

Margaretes azurblaue Augen inspizierten jede kleine Faser des Gesichtes ihres Sohnes. Ihr Blick traf seinen. Seine Augen besaßen ein sattes Grün, doch hier in der Dunkelheit wirkten sie als läge ein Schatten über ihnen. „Wenn es das ist, was du willst, dann sei es so. Lass dir von mir jedoch gesagt sein, solltest du einmal Zweifel verspüren, dein Herz dir was anderes sagen oder dir irgendetwas Merkwürdiges passiert, kannst du immer zu mir kommen. Ich werde dir helfen, mein Sohn.“, sie trat bei diesen Worten vor und stellte sich auf ihre Zehenspitzen um ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ein wenig zuckte sein linker Mundwinkel nach oben, einen kleinen Stich ins Herz bekam er ebenfalls. Er wusste, das was er vorhatte war gefährlich. Niemand hatte einen blassen Schimmer. Sein Herz schlug für seine Mutter, ihre Fürsorge und Liebe nährten ihn. Sein Verrat wird ihr sicherlich wehtun. Doch er konnte und wollte sein Unterfangen nicht abbrechen. Sie einzuweihen traute er sich nicht, wusste er nicht, ob er dann den Mut verlor seinen Plan durchzuziehen.

Ihre Lippen lösten sich von seiner Haut. Ein trauriger Glanz lag in ihren Augen und doch versprühten ihre Seelenspiegel reinste Liebe.

„Wir sehen uns Morgen mein Sohn. Bei der Preisverleihung. Deine Schwester wird sicher den ersten Platz wieder belegen.“, er lachte leise auf. „Ja natürlich Mutter.“, er würde morgen nicht mehr da sein. Das Fest fand ohne ihn statt. Nur heute würde die Sonne so nah am Horizont verweilen, dass ständige Sonneneruptionen den Nachthimmel für kurze Zeit erhellen. Er hatte die Laufbahnen, ebenso wie die Eruptionen berechnet soweit er selbst Daten hatte erheben können und mit den Daten, die hier zu Verfügung hatte.

„Gut. Ich lass dir was raus legen für den besonderen Anlass.“, ein letztes Mal fuhr sie mit ihrem Daumen über die Wange ihres Sohnes, bevor sie ihre Hand und sich selbst von ihrer Stelle löste und sich daransetzte, die Wissenshallen zu verlassen. Er sah ihr nach, bis sie die Wendeltreppe und somit seine heiligen Hallen verlassen hatte.

War es wirklich richtig und notwendig was er vorhatte?

Sebastian musste Schlucken. Er würde sein Leben wie er es kannte aufs Spiel setzen und es wohl auch verlieren. Er musste sich der Konsequenzen wahrhaft bewusst sein. Ein Zurück würde es nicht mehr geben sobald er angefangen hatte. Sollten sich seine Vermutungen als wahr herausstellen, so wäre sein Gehen ohne hin nichts weiter als eine Notwendigkeit, ein Schritt der getan werden muss. War dem nicht so, so würde er alles umsonst riskieren und verlieren. Doch all dies würde er bald schon mit Sicherheit wissen.

Er seufzte vernehmlich. Wie seine Zwillingsschwester wohl reagieren wird. Er vermochte es nicht zu erahnen.
 

~*~*~
 

„Elli! Elli! Elli!“, jubelte die Masse als Elizara als Siegerin der heutigen letzten Runde hervor trat. Ihr Mitstreiter lebte natürlich, doch glücklich war der junge Mann nicht über sein Scheitern.

„Nächstes Jubiläum werde ich dich Schlagen!“, in seinem Herzen loderte das Feuer des Mutes, des Ehrgeizes und der Rivalität. Seit ihrer Grundausbildung war Elli ihm ein Dorn im Auge.

„In deinen Träumen, mein lieber Freund“, war ihre kecke und gleichmütige Antwort. Er legte weitaus mehr Wert in diese Spiele als sie es tat, war sie es dennoch immer wieder, die sie gewann. Fast sämtliche Bewohner hatten sich für die Spiele hier versammelt. Vereinzelte waren nicht anzutreffen, wie ihr Bruder, der sich nie von seinen Büchern losgerissen bekam, oder Ruphus, der seine Krankenstation wohl ebenso wenig verließ wie ihr Bruder die Bibliothek. Killian und sie verließen die Arena.

„Mann, Elli, wie schaffst du es dich mit den Scouts so geschmeidig zu bewegen?“, Killian schien sich seiner Niederlage ergeben zu haben, und doch beweinte er jeden Augenblick. „Versuchte ich es von rechts, warst du schon da, versuchte ich es von links, wehrtest du ab. Ich konnte nicht einmal zielen, dann hattest du schon getroffen.“, es ging hauptsächlich darum, mithilfe des Scout, eines mittels Solarlicht betriebenem Flugmotor, Ghosts abzuschießen, künstlich erschaffene Wesen, die schattenähnlicher Natur waren. Vor allem kleinere wurden in Spielen als Zielscheibe verwendet waren die kleinen Biester sehr flink. Elli hinterfragte nicht, entweder wusste sie, oder sie wusste es nicht, sie nahm alles wie es kam, akzeptierte ihr Leben und ihre Welt, genauso wie sie war.

„Morgen steht dir der Kampf gegen Big Mama bevor.“, ein schmutziges Grinsen klebte in seinem Gesicht. „Das Spektakel werd ich mir um keinen Preis entgehen lassen!“, Elli belächelte nur Killians Aussage während sie sich ihrer zusätzlichen Panzerung bereits entledigte. Die Soldiers hatten den größten und gefährlichsten Ghost der Spiele ‚Big Mama‘ getauft.

„Wir sehen uns Morgen.“, verabschiedete sie sich von ihm.

„Natürlich, ich steh in der allerersten Reihe, versprochen. Du machst sie kalt“, Killian wünschte es sich zwar Elli mal verlieren zu sehen, doch nur, wenn es durch seine Hand geschah.

„Wir werden sehen.“, meinte die junge Frau nur noch Schulterzuckend. Sie betrat die Umkleidekabinen. Die Menschenmasse hatte sich bereits wieder aufgelöst und ging ihrem feierlichen treiben nach. Mit der Zeit der Kämpfe, kam ebenfalls die Zeit der Feste. Seit über einer Woche fanden an jedem Tag unterschiedliche Ghost Kämpfe statt, mit anschließendem Fest abends. Nach dem finalen Kampf, würde ein Mahl zu ehren der Siegerin und zu ehren eines weiteren Jahres voll ausreichender Vorräte stattfinden. Dort würde sie etwas trinken, wenn ihr denn danach war. Doch auf das Besäufnis konnte Elizara bei bestem Willen verzichten. Es zog sie woanders hin, zu jemand anderem hin. Ihrer zweiten Hälfte, einem Stück ihrer Seele. In der Kabine zog sie ihre normale Kleidung an, die zugleich ihre alltägliche Soldier Ausrüstung war. Sie war zu all Zeit bereit. Ihre Kleidung war aus verhärtetem Stoff produziert. Zwar bereits in der zweiten Verwendungsphase, doch solch gutes Material fand man nur noch selten. Zudem gehörten zwei kleine Beintaschen zu ihrer Ausstattung die sie an ihrem linken Bein trug. Ihre Feuerwaffe hatte sie Rechts im Holster. Sie war all Zeit auf alles gefasst, malte den Teufel dennoch nicht an die Wand. Ihre Haare band sie in einem neuen Pferdeschwanz nach hinten, bevor sie die Kabine verließ und sich Richtung Bücherei aufmachte. Ihre Kleider konnte sie getrost bis morgen in der Kabine lassen.

Geschmeidig angelte sie sich die lange Wendeltreppe in die Archive hinab. Ihr Bruder verkroch sich allzu gerne über Tage und Wochen in diesen alten Bauten mit samt ihrem allgegenwertigen Wissen über vergangene Zeiten. Es konnte durchaus interessant sein sich damit zu beschäftigen. Vorausgesetzt, man traf nicht gerade ein Buch, das einer Schlafpille gleich kam.

„Seb? Mein Brüderchen, wo bist du?“, fragte sie in die Hallen hinein. Ihr Echo wurde von den Mauern weiter getragen, bis sie selbst es nicht mehr hören konnte. Es kam jedoch keine Antwort. „Merkwürdig.“, Elli wusste von den Lieblingssitzecken ihres Bruders und durchkämmte sie alle. Nach zehn Minuten gründlichen Suchens wusste sie, dass er sich nicht hier unten befand. „Merkwürdig. Höchst Merkwürdig.“, etwas stimmte nicht. Vielleicht war er bereits zu Hause, doch auch das würde ihrem Bruder nicht ähnlich sehen. Er war eine solche Leseratte, ihn aus diesen Katakomben zu bekommen dauerte an manchen Tagen gar Wochen. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus.

Tief in Gedanken versunken stieg sie die Wendeltreppe wieder hoch. Die Sonne versprühte ihre letzten funken, bald würden nur noch manche Sonneneruptionen die Nacht von Zeit zu Zeit erhellen. Im Moment badeten nur noch abgeschnittene Teile der Stadt in ihrem orangefarbenen Licht. Sämtliche Straßen waren leer gefegt. Die meisten befanden sich wohl bereits auf dem allabendlichen Fest. Sollte sie ebenfalls dorthin gehen? Für eine Sekunde starrte sie die Straße an, welche sie begehen musste um zur Musik zu gelangen. Nach reiflicher Überlegung unterließ sie es. Morgen könnte sie lange und ausgiebig feiern, wenn ihr danach war. Heute wollte sie zu ihrem Bruder.

„Da bist du ja meine Kleine“, erklang eine dunkle Männerstimme.

„Onkel Vinz!“, sie lief ihrem Mentor, Freund und Familie entgegen in seine ausgebreiteten Arme.

„Du hast wieder mal Bestleistung gezeigt, ich bin stolz auf dich Kleines.“, er löste sich von ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Er war vor einem Jahr zum Kommandanten gewählt worden, nach dem hinscheiden von Kommandant Eystius. Immer noch war eine Stelle der drei Generälsplätze frei, jene die er belegt hatte. Doch Elli wollte nicht wieder mit diesem Thema anfangen. Bald wäre sie siebzehn, danach konnte sie ein Gespräch eher auf dieses Thema lenken, war er selbst mit siebzehn zum General gewählt worden.

„Bestleistung scheint nicht auszureichen um im Außendienst tätig zu werden mit dir, wie mir scheint.“, stichelte sie dann doch ein wenig. Elli wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Fähigkeiten wahrhaftig zu nutzen. Ihre Stadt war von Rund 200 Menschen bewohnt. Davon alleine waren 100 Soldiers und weitere 30 Anwärter dazu, sowie sie einer war. Die restlichen arbeiteten im Krankenhaus, in der Landwirtschaft und den Naturwissenschaften. Sie wusste dass Ghosts eigentlich zum Training für reale Situationen entwickelt wurden. Doch welche Gefahren draußen lauerten, damit hielten sämtliche Erwachsenen hinterm Berg, bis man einen Rang erreicht hatte, mit dem man Zugang zu diesen Informationen erhielt und mit dem Rang ebenfalls Zugang zur Außenwelt. Nicht einmal ihr Bruder hatte auf ihre Bitte hin etwas in Erfahrung bringen können.

„Du wirst schon früh genug zum Zug kommen, sei nicht so voreilig, Genieße deine Unbeschwerte Zeit, solange sie die deine ist.“, er hatte ihr die Hand auf die Wange gelegt. Mit dem Daumen strich er zu ihrem Kinn und hob dieses an. „Versprich mir, keine Dummheiten anzustellen und auf dich und deinen Bruder aufzupassen.“, seine Worte klangen warmherzig und waren doch voll Sorge.

„Keine Angst, Onkel. Was soll uns hier schon passieren?“, erwiderte Elli mit ihrer typischen Unbeschwertheit. Sie war eine Frohnatur durch und durch. Kaum jemand oder etwas vermochte ihr Gemüt wirklich zu verstimmen. Für einige Sekunden verharrten sie so. Sein Blick wurde nostalgischer und trauriger. Er öffnete den Mund, wollte ihr etwas sagen das ihm sehr am Herzen lag. Doch das Geräusch eines startenden Motors ließ sie beide aufhorchen. Das Abschirmungssystem fuhr herunter. Zwischen ihnen und dem Nachthimmel in dem Eruptionen dann und wann aufleuchteten war zum ersten Mal seit sie denken konnte keine statische Barriere.

„Was?“, verwirrt schaute sie sich um.

„Ein Scout“, wie eine Rakete schoss Vinzent vor, lief in die Richtung der Andogstation der Scouts. Elli war ihm steht’s zwei Schritte hintendran auf den Fersen.

„Was ist hier los? Die Barriere sie-.“, das Ende ihres Satzes wurde vom Motorengeräusch eines herannahenden Scoutes verschluckt, welcher soeben an ih und ihrem Onkel vorbei donnerte als sie die Schnittstelle der Gasse zur Andogstation erreicht hatten und auf die Start- wie Landebahnspur der Scouts zum Stehen kamen. Ein knurren entrann Vinzents Kehle.

„Sebastian“, artikulierte er den Namen ihres Bruders. Er hechtete weiter zur Scoutstation. Elli blieb perplex stehen. War das wirklich ihr Bruder gewesen? Was hatte er denn vor? Ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht, das Blut rauschte nur so durch ihren Kopf.

„Elli!“, der Ruf ihres Namens weckte sie aus ihrer Starre. Sie lief zu ihrem Mentor. Einige Soldiers waren ebenfalls aus der Andogstation herangestürmt. „Riegelt hinter uns die Barriere wieder ab!“, brüllte er seinen Männern und Frauen entgegen. Elli war zu ihm aufgeschlossen. Er warf ihr einen Helm mit integriertem Filter und Sprachsystem zu. Im Laufen fing sie ihn, setzte ihn sich auf den Kopf, sprang auf den Scout und jagte Vinzent nach, welcher selbst gestartet war, nachdem er ihr den Helm zu geworfen hatte.

Nie zuvor war Elli höher geflogen als die Begrenzungslinie, welche sich drei Meter unterhalb der 50m hohen Stadtmauer befand. Ihr Herz raste, ihr Kopf konnte kaum dem Geschehen folgen. Vinzent war ihr Voraus, er überflog soeben die Mauer und beschleunigte immer noch. In ein paar Sekunden war es soweit. Sie würde über den Horizont hinaus blicken. Zum ersten Mal in ihrem Leben, würde diese titanbeschichtete Wand nicht zwischen ihr und dem Rest dieser Welt stehen. Vorfreude mischte sich unter ihre flauen Gefühle.

„Drei, zwei, eins!“, sie überflog die Mauer, in genau diesem Moment brach eine Sonneneruption aus. Wie eine Schwinge zog sie sich um den Nachthimmel.

„Elli! Sieh nicht direkt in die Schwinge!“, Vinzents Rat kam fast zu spät. Ihre Augen waren schon fast wie geblendet gewesen, bevor sie ihren Blick hatte abwenden können nach einigen Sekunden.

„Verfluchte Scheiße!“, sie blinzelte mehrmals, hoffte dass sich ihre Sicht wieder klären würde, doch benötigte dies einige Sekunden. Wichtige Sekunden die sie jedoch nicht hatten. Sie konnte Vinzents Scout im Rand ihres Blickfeldes ausmachen. Die Mitte ihrer Sicht war immer noch von schwarzen Punkten geschwärzt, begann sich dennoch langsam zu klären. Elli donnerte ihrem Onkel und somit ihrem Bruder hinterher. Einige Minuten vergingen. Ihre Sicht war wieder vollends da, ihr Bruder hatte immer noch einen guten Vorsprung. Elli und Vinz hatten den Vorteil recht vertraut mit den Flugmobilen zu sein. Ihr Bruder hatte sie bisher immer mit argwöhnischem  Blick angesehen. Dafür dass er sie hasste und seit jeher gemieden hatte, hielt er sich im Moment dennoch gut darauf. Langsam wurde Elli nur bewusst, dass sie bereits Minuten lang über offenes Gelände flog. Sie riskierte einen Blick nach unten. Was sie sah, war nicht das gewesen, was sie sich vorgestellt hatte.

Kilometerweit erstreckte sich Fabrikgelände, vollends verlassen schien jener Ort. Sie konnte jedenfalls kein menschliches Treiben ausmachen. Wieder nach vorne schauend bemerkte sie jetzt erst, dass dort im Halbdunkeln eine zweite Wand auf sie zukam. Sie ähnelte der ersten in ihrer Art eins zu eins. Als wäre es das gleiche Model, nur hier noch einmal Größer. Würde das so weiter gehen? War der gesamte Planet so aufgebaut oder wie konnte sie das verstehen? Ein Stich in ihrem Herzen ließ sie nach Luft ringen, etwas versetzte ihr höllische Kopfschmerzen. Sie geriet ins Schleudern und verlor ihre Flugbahn.

„Focus! Konzentriere dich Elli!“, hörte sie wieder Vinzents Stimme in ihrem Helm. Elizara schnaufte. Sie musste sich zusammenreißen um von dem Kopfschmerz nicht zerrissen zu werden. Mit viel Mühe und Kraftaufwand restabilisierte sie ihren Scout. Sie hatte sichtlich an Höhe verloren. Fluchend versuchte sie wieder aufzuschließen. Die Maschine auf Hochleistung aufgedreht, jagte sie schneller als zuvor hinterher. Den Turbo konnte sie jedoch nicht auf Dauer verwenden, ansonsten schmorrte der Motor durch. Sie hoffte nur, dass ihr Bruder sich dessen bewusst war. Sie erreichte soeben die zweite Wand. Ihr Onkel und ihr Bruder waren längst darüber hinweg geschossen. Sie würde sie noch verlieren. Ihr erster Außeneinsatz würde eine Pleite werden. Das konnte sie nicht zulassen. Mit neu gefasstem Elan schwang sie sich mit dem Scout über die Wand und schaute sich um. Ihr Herz blieb stehen bei dem was sie sah. Ihre Kehle trocknete aus.

„Was?“, sie sah nur eine unendlich weite braune Ödnis. Alles um sie herum war tot. Sie schwebte an der gleichen Stelle. Musste diese Information erst verarbeiten. Dafür blieb jedoch keine Zeit sie musste ihnen nachjagen. Und doch blieb sie wie angewurzelt dort wo sie war.

„Elli, wir sind auf dem Felsvorsprung gelandet.“, ertönte Vinzents Stimme in ihrem Ohr. Sie blinzelte als eine erneute Eruptionsschwinge die Nacht erhellte, ließ ihren Blick über die Gegen gleiten. Tränen quollen hervor, sie konnte nichts dagegen tun. Wieder und wieder blinzelte sie jene weg, suchte weiter nach ihrem Onkel und Bruder. Sie erspähte den Felsvorsprung knappe zweihundert Meter von ihrem Standort entfernt, die Scouts reflektierten das ausgeschlagene Sonnenlicht. Elli setzte sich in Bewegung. Langsamer als zuvor. Weniger gehetzter, nun weitaus verbitterter und voll von Schmerz. Sie vermochte nur zu erahnen, was in ihrem Bruder vor sich ging. Hatte er ihr doch die Bilder, Fotos und Dokumentationen ihrer Welt gezeigt. Ihre grüne Welt, voll Wasser und Leben. Hier jedoch war ein gähnendes Nichts. Kein Grün. Kein Wasser. Kein Leben. Hier war nur braune Dürre und der Tod. Nach einigen Minuten kam sie an und setzte zur Landung an. Sebastian kauert in kniender Position vor ihr, den Kopf nach vorne gesenkt, die Schultern schlaff hinunter hängend, die Hände zu Fäusten geballt an seiner Seite hinunterhängend. Er sah aus wie ein Häufchen Elend. Auf dem Boden waren mehrere Tropfen zu sehen. Er weinte. Es zerreißte sie innerlich ihren Bruder so zu sehen. Doch sie würde seinen Schmerz nicht lindern können. In ihr brannte dasselbe Leid. Solange hatte sie darauf gewartet die hohe Wand aus Titan überqueren zu können, nur um dann feststellen zu müssen, das alles gelogen war. Langsam streifte sie ihren Helm ab, ihre Kraft verließ ihre Beine, gezwungener Weise knickte sie ein und kniete neben ihrem Bruder, das Haupt gesenkt.

„Was ist hier passiert?“, stellte sie die omnipräsente Frage mit brüchiger Stimme. Einige Schluchzer drangen aus Sebastians Kehle. Er biss sich auf die Unterlippen. Ein Zittern seines Körpers konnte er nicht vermeiden. Er hatte sich so manches Scenario ausgedacht, doch das hier vor ihm sprengte seine sämtliche Vorstellungskraft.

Stille lag über den drein. Vinzent wusste dass die Frage ihm galt. Doch wie sollte er sie beantworten. Mehr als die Hälfte konnte er sich selbst nicht erklären. Es mangelte ihm an essentiellem Wissen. Mehr als die Beiden wusste er dennoch. Viel mehr als die beiden Zwillinge ahnten. Schwer atmete er einmal tief ein und aus.

„Es ist eine sehr lange Geschichte. Ich weiß selbst nicht wo sie anfängt.“, begann er seine Rede, noch unsicher was er nun alles erzählen sollte. Elli und Sebastian öffneten gleichzeitig ihre Augen und sahen Vinz an. Elli mit durchdringendem, unnachgiebigem, starrem tränenbehangenen Blick, Sebastian voll Schmerz, Bitterkeit und Verbissenheit. Er schluckte und wusste dass ihre Heile-Welt-Zeit vorüber war. „Schon gut.“, hob er beschwichtigend seine Hände bevor er sich gegen eine Felserhebung lehnte. „Ich weiß nicht wann oder wie es angefangen hat. Doch irgendwann kam der Tag, da blieben die Ressourcen aus. Es gaben kaum mehr Nährstoffe, kaum mehr Wasser oder irgendein anderes lebenswichtiges Material. Es ging mit allem zu Neige. Nicht abrupt, sondern langsam aber beständig. Ich weiß, dass irgendwann ein Krieg ausgebrochen ist. Ein Hortwettrennen gegen die Zeit und gegen jeden. Menschen begannen sich an verschiedensten Metropolen immer weiter zusammen zu rotten. Hexagon Städte wurden gebildet, um den Angriffen anderer Großstädte standhalten zu können, zu Anfang jedenfalls. Alles was sich noch außerhalb der Titanwände befand wurde über Jahrzehnte hinweg heran getragen und wieder verwertet. Geld verlor seinen gesamten Wert. Essen und Trinken wurde zu unserem kostbarsten Besitz. Viele Menschen ließen ihr Leben, nur weil sie nichts mehr von Wert besaßen. Nichts mehr das ihnen den Magen füllte. Während die Menschen in der Hexagon Stadt noch ausreichend Vorräte für Jahrzehnte, gar Jahrhunderte besaßen, starben die Menschen außerhalb der Mauern an Hunger und Durst. Nur jene, die selbst etwas besaßen, wie Nahrung, wiederverwertbare Materialien, Bildung die zur Forschung nach einer Lösung verhelfen konnte, erhielten einen neuen, bislang unbekannten Wert.  Besitzende, Forscher, Kämpfer sowie Arbeiter erster Klasse waren in den Hexagonalen Innenstätten akzeptiert. Und genau nach dieser Reihenfolge wird man ebenfalls in seinem Wohnbezirk einquartiert.“, er verstummte. So viele Erinnerungen kamen ihm hoch und er wusste nicht, ob er das Pflaster jetzt in einem Mal hinunter reißen sollte, oder ob er ein wenig warten sollte bis zumindest der erste Schmerz verkraftet worden war. Er haderte mit sich selbst.
                                                                                                                                                             
„Was noch? Was weißt du noch?“, fragte Sebastian mit heiser, kratziger Stimme. „Sind wir die letzten hier?“, bekam er die Worte kaum über seine Lippen. Vinzent schüttelte den Kopf.

„Nein. Soweit ich weiß gibt es noch einige Städte sowie die unsere. Doch weiß ich nicht wo sie liegen. Ein alter Hafen kaum zwei Tagesreisen entfernt ist ebenfalls bewohnt, doch was sich dort alles herumtreibt weiß ich nicht.“, er wusste von dem Hafen, weil ein alter Freund ihm davon erzählt hatte. Er war einer der besten Kämpfer die er kannte und die einzige Person in seinem Leben, der alleine die Reise durchs Outland unternommen hatte und lebend ihn wieder besucht hatte. Sebastian hatte seine linke Hand gehoben. Er bedeckte sein Gesicht, seine hinab kullernden Tränen waren dennoch nicht zu übersehen. Elli saß in der gleichen Position da wie Sebastian, mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihren Kopf in den Nacken geleckt hatte. Die Eruptionen der Sonne beschienen sie steht‘s in einem anderen Licht. Ihre Augen waren immer noch nass. Doch sie hatte weitaus schneller wieder ihre Fassung erlangt, als ihr Zwilling. Vinzent seufzte.

„Da gibt es noch etwas.“, begann er zaghaft. Doch kam ihm ein anderer Gedanke doch noch zu erst in den Sinn. „Was habt ihr beiden nun vor?“, er schaute von Elli hinüber zu Seb. Innig hoffte er, dass beide wieder mit zurückkamen. Doch etwas in ihm sagte ihm, dass er das Vergessen konnte. Elli atmete tief durch und schaute ihren Onkel an, bevor ihre Augen zu ihrem Bruder wanderten. Er hob seine zweite Hand, wischte sich mit beiden durchs Gesicht, versuchte es irgendwie trocken zu bekommen, doch seine Augen waren miese Verräter. Sie wollten nicht aufhören sich zu ergießen.

„Ich“, begann er mit gefasster und doch immer noch etwas heiserer Stimme zu sprechen, „Ich kann nicht zurückkehren. Schon allein wegen meines Ausbruchs.“, ihm blieb der Mund offen stehen für einige Sekunden. So als käme sein Gedankenprozess nicht schnell genug mit Wörter zum Sprechen nach. „Nicht nur dass ich nicht kann. Ich will nicht.“, beendete er seinen Satz. Elli musterte ihn. Seine Augen waren geschwollen und rot, doch seine Aura jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Ich, ich will herausfinden, ob es noch ein anderes Leben gibt. Ich will mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, dass es nicht einen einzigen Fleck wahrhaftiges Leben mehr auf dieser Welt gibt.“, sprach er in zynischer Stimme. Doch tief in sich hoffte er auf das Gegenteil.

„Sebastian-.“, versuchte Vinzent auf ihn einzureden, doch wurde er sogleich am Anfang abgewürgt.

„Nein!“, donnerte dieser, dieses Mal mit bestimmter, fester Stimme. „Diese Farce reicht mir, ich habe keine Lust mehr mein Leben hinter einer Wand aus Titan zu schützen, die mich nur von totem Land trennt!“, brüllte er nun fast schon.

„Tot vielleicht, ‚nur‘ würde ich nicht sagen.“, perplex blinzelte er seinen Onkel an. Was meinte er mit diesen wirren Worten? Vinzent atmete tief durch. „Es gibt noch zwei Geheimnisse.“, fing er an. „Das Eine handelt um euch beide. Das andere um das, wovor uns diese Wände und die elektrische Barriere schützen.“, Elli und Seb starrten Vinz an. Nun konnte er nicht mehr zurück. Doch schien es einerlei. Wenn Sebastian ging, würde Elizara mit ihm gehen. Er musterte die beiden, mit ihrem aschblonden Haar, ihren grünen Augen und leicht gebräunter Haut. Er selbst sah fast so aus wie seine Schwester Margarete, blonde Haare, blaue Augen, helle Haut. „Vor sieben Jahren, als ich zum zweiten General der Soldiers ernannt wurde, erhielt mein Außenposten die Nachricht, dass im Bezirk II d) ein bisher nicht identifizierter Ghost sein Unwesen trieb. Ich startete mit einem 8 Mann Team, mich mit einbezogen. Doch bevor wir überhaupt richtig losgelegt hatten, wurde eins meiner Teammitglieder überfallen. Man entwendete ihm eine seiner Beintaschen, mitsamt Munition.“, die Zwillinge lauschten aufmerksam der Geschichte. Elli verspürte abermals den stechenden Schmerz in ihrer Brust. Ohne es selbst zu bemerken legte sie eine Hand an ihr Brustbein. „Meine Männer schossen auf die Kreatur, verfolgten sie bis zu einer alten Lagerhalle. Als ich dort angekommen war und sah was sich dort vor mir auftat, blieb mir die Spucke weg.“, er musste Schlucken. „Zwei kleine Kinder. Ein Mädchen das sich schützend über ihren Bruder geworfen hatte. Versuchte ihn vor einem riesigen Ghost zu schützen, welcher sich offensichtlich an die beiden letzten Lebenden Wesen in dem vor kurzem zur Sperrzone erklärten Fabrikbezirk gehängt hatte.“, Elli schnappte nach Luft. Ihr Kopf schmerzte und dröhnte. Wie als wenn sie aus einem Traum aufwachte, wurde ihr die Realität schmerzlich bewusst. Langsam erinnerte sie sich. Sie war der Angreifer gewesen. Sie hatte nach Nahrung gesucht, etwas Essbares um sich und ihren Bruder am Leben zu erhalten. Sie waren Aussätzige gewesen.

„Nein.“, keuchte Sebastian. „Nein, nein, unmöglich. Mutter … Margarete.“, er wollte es nicht glauben, selbst wenn etwas in ihm sagte dass es wahr war, wollte er nicht hören, dass nicht nur seine Welt sondern sein gesamtes bisheriges Leben eine Farce darstellt.

„Eure Mutter, meine Schwester. Zu der Zeit, als ich euch fand und auf die Krankenstation von Ruphus schleuste, zu jener Zeit waren ihre beiden Kinder an einer unheilbaren Lungenentzündung gestorben. Die Bakterien waren so hartnäckig, dass selbst unsere besten Medikamente nichts mehr ausrichten konnten. Sie hatten zu viel verdreckte Luft eingeatmet, als ein Schwarzsturm über uns hinweg gefegt war. Sie hat ihren Tod niemals überwunden. Als sie euch beide kennenlernen durfte, habt ihr beiden ihr das Leben gerettet. Ohne euch, da bin ich mir sicher, wäre meine Schwester schon vor Jahren von uns gegangen.“

Die beiden Zwillinge saßen da, erneut am Rande eines Nervenzusammenbruchs, weinten sie beide Still in den Abend hinein. Alles brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Nichts war mehr so wie es einst war. Elli wusste nicht, wie ihr Leben ab heute verlaufen würde. Der Traum Soldier zu werden und irgendwann im Außendienst tätig zu sein, kam ihr in diesem Augenblick so surreal und so weit weg vor, als wäre dies ihr Leben vor hundert Jahren gewesen und nicht vor eben noch einer Stunde.

Die drei saßen dort auf einem kahlen Felsvorsprung. Die Sterne zierten des Firmament, wurden von Zeit zu Zeit von Sonneneruptionen erhellt, die sich immer weiter um den Feuerball zogen, der selbst im Moment vom Horizont verschluckt blieb.

Sie wussten nicht warum sie beide lebten oder weshalb es sich noch zu Leben lohnte. Doch solange sie lebten, würden sie alles daran setzen einen Sinn darin zu finden.

„Vinzent. Elli und Seb, sind das unsere richtigen Namen?“, fragte Sebastian. Vinzent schüttelte den Kopf und öffnete seine Lippen.

„Ihr heißt Vayana und Miromar.“

 

Kurzgeschichte. Ende.

Fortsetzung folgt.

 




Envoyé: 23:46 Mon, 19 March 2018 par: Weibel Diane