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Braun Laurence

Ungewisse Zukunft

 

In der Ferne sah ich die Küste immer kleiner werden, aus den Umrissen der Ruinen wurden Punkte, welche im Sonnenaufgang tanzten. Ich lehnte zusammengesunken an der Seite meiner Mutter und der meines kleinen Bruders. Meine Mutter versuchte stark zu bleiben und die Tränen zurückzuhalten, doch ihr Gesicht war von Trauer gezeichnet. Wir mussten unser Heimatland verlassen, dort gab es für uns keine Zukunft mehr. Mein kleiner Bruder hingegen ließ seinen Tränen freien Lauf, wodurch sein Gesicht von Tränen überströmt war. Ich selbst war entsetzt und die Angst mein ständiger Begleiter, doch auch ich versuchte stark zu bleiben, für meine Familie, für mich. Trotzdem kullerten vereinzelte Tränen meine Wange hinunter.

Der Wind blies durch meine Haare und meine Lippen waren von einer Salzschicht der aufschäumenden Gischt überzogen. Ich schlang meine Arme um den zitternden Körper meines Bruders, welcher sich augenblicklich an mich schmiegte und seinen Kopf in meine Halsbeuge drückte. Innerhalb kürzester Zeit hatten seine Tränen mein T-Shirt durchnässt.

Ich hob meinen Kopf um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, im Versuch meine Tränen zurückzuhalten. Doch der Blick ins Leere ließ mich aufschluchzen und die Tränen brachen sich ihren Bann. Die Küste war jetzt vollends verschwunden und uns umgaben nur noch die dunklen Tiefen des Meeres.

Insgesamt saßen wir zu über zwanzig in dem viel zu engen Boot. Hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern; nur diejenigen, die diese ungewöhnliche Reise organisiert hatten und nun das Boot steuerten, waren Männer.

Die Situation bereitete mir Angst, Angst vor der Ungewissheit der Zukunft, Angst, ob wir diese Reise überleben würden, Angst davor, ob wir jemals wieder eine Familie werden würden, eine Familie mit einem geregelten Alltag. Zum jetzigen Zeitpunkt bezweifelte ich dies stark. Unser Vater war beim Versuch, uns zu retten, ums Leben gekommen. Ermordet von den Marionetten des Regims. Seit Jahren herrschte Krieg und ein Ende war nicht in Sicht. Die Armee rekrutierte jeden, egal wie alt, ob Frau oder Mann, Kind oder Erwachsener. Sie machten uns weis, dass wir für etwas Gutes kämpfen würden, dabei ging es nur darum, dass der Herrscher seine Position behielt. Der Regierende schaute zuerst nach sich selbst, sein Volk war nicht von Belang. In dieser grausamen Nacht war unsere Familie das Ziel gewesen. Man hatte gefordert, dass mein Bruder und ich unserem Land dienten. Mein Vater weigerte sich, uns gehen zu lassen und verlor die Diskussion mit einer Kugel im Kopf. Doch da wir die Ankunft der Soldaten erahnt hatten und unser Vater uns mit dem hitzigen Wortwechsel etwas Zeit geschaffen hatte, konnten wir durch den Hinterausgang flüchten. In diesem Moment entschied unsere Mutter, dass der Zeitpunkt zum Flüchten gekommen war. Auch wenn unsere Aussichten ungewiss waren, so sagte sie uns, wäre ein Neustart in einem fernen Land wohl kaum schlimmer als Bleiben. Sie wollte nicht auch noch ihre Kinder in einem Krieg verlieren, welcher bereits ihren Ehemann gefordert hatte. Ich verstand ihre Ansicht und doch wusste ich nicht so recht was denken.

Eine ruckartige Bewegung des Bootes und ein Schrei rissen mich aus meinen Gedanken. Der Motor röhrte, krachte und dann war es still. Kurz darauf war das Fluchen der Männer zu hören und das leise Wimmern der Frauen, da wir nicht wussten was los sei. Der Motor des Bootes hatte der Belastung durch die Überzahl an zum Flüchten Gezwungenen nicht mehr standgehalten und streikte. Mitten auf hoher See. Einer der Männer murmelte etwas Unverständliches in sein Funkgerät, dann war es wieder still. Jetzt war nur noch das Rauschen der Meereswellen und die weinerlichen Stimmen der Mütter zu hören, die versuchten, ihre Kinder nicht zu wecken oder mit ihrem Schluchzen anzustecken.

Die Minuten fühlten sich an wie Stunden. Mittlerweile waren einige der Kleinen erwacht und schrien zum einen, weil sie Hunger hatten und zum anderen, weil sie die Anspannung spürten, welche auf dem Boot herrschte. Auch ich hatte meinem Bruder gerade den letzten Rest an Wasser gegeben. Zudem bereitete mir der düstere Himmel Sorgen. Das erste Grollen des Donners war zu hören, Blitze erhellten in regelmäßigen Abständen unsere Umgebung und die Wellen stiegen höher und schüttelten unser kleines Boot. Auch die letzte Person war jetzt aufgewacht und die Kleinen jammerten ohne Pause. Ein weiterer Blitz tauchte in das Wasser ein und der Donner folgte sofort. Wir waren jetzt mitten im Unwetter. Das Boot krachte und ächzte unter der Gewalt der Wellen. Wie lange würde es ihnen wohl noch standhalten können? Zudem schüttete es nun wie aus Eimern. Die nächste Welle riss uns aus der zusammengekauerten Position. Wir waren mittlerweile bis auf die Knochen durchnässt, das Wasser stand bereits im Boot und der Wind bereitete uns eine Gänsehaut. Die Älteren versuchten die Kinder mit Hilfe ihres Körpers zu schützen und zu wärmen, andere wiederum versuchten mit Hilfe leerer Flaschen, das Wasser aus dem Boot zu befördern. Ein weiterer Blitz schoss vom Himmel herab und es herrschte für einen kurzen Moment eine grausige Stille. Noch bevor der Donner zu hören war, blendete uns ein weiterer Blitz. Doch dieses Mal schlug er noch dichter am Boot ein. Das unruhige Wasser schlug weiterhin auf das Boot ein, welches dem Druck nur noch schwer standhalten konnte. Dann zerschmetterte die unglaubliche Wucht das geschwächte Holz mit Leichtigkeit.

Die Kälte des Wassers verschlang mich und ich versuchte paddelnd wie ein Hund wieder an die Oberfläche zu gelangen. Prustend schoss mein Kopf aus dem Wasser. Überall wurde geschrien und herzzerreißend geweint. Suchend tastete mein Blick die Wasseroberfläche ab, in der Hoffnung, meine Mutter und meinen Bruder zu sehen. Um mich herum schrien Mütter, die nach ihren kleinen Kindern suchten, es herrschte ein wüstes Durcheinander, Bretter, der letzte Proviant und Stofffetzen schwammen im Wasser, vereinzelte Köpfe ragten aus dem Wasser. Wir klammerten uns an die Bretter im Versuch nicht unterzugehen, von uns allen konnte kaum einer schwimmen. Im Wirrwarr konnte ich endlich den Kopf meines Bruders ausmachen, welcher sich nicht weit von mir entfernt an einem Stück Holz festhielt. Dann sah ich auch unsere Mutter. Ich versuchte zu ihnen hinüber zu gelangen, doch es war gar nicht so einfach, in dem eiskalten Wasser gegen die riesigen Wellen anzukämpfen. Mit letzter Kraft kam ich bei ihnen an und klammerte mich an meine Mutter. Das Wasser schien sich nicht beruhigen zu wollen, dann folgten weitere Schreie, diesmal gezeichnet von Hoffnung und Freude, eine Frau hatte das beleuchtete Ufer einer Küste ausgemacht. Die Worte Lichtblick, Erleichterung und Rettung zirkulierten, doch in mir regte sich nichts, ich fühlte, wie meine Beine immer schwerer wurden und ein Gefühl der Schwäche sich ausbreitete. Mein Blick fing an trüb zu werden. Und während die Ohnmacht mich zu übermannen drohte, fragte ich mich, ob es für jeden von uns eine Zukunft geben und ob ich zu den Überlebenden gehören würde. Dann sank mein Kopf mit einem letzten Blick auf die Lichter der näherkommenden Küste auf das Brett. 

 




Envoyé: 21:33 Wed, 6 February 2019 par: Braun Laurence