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Dams Yana

Eine altmodische U-bahn Station



Dann, als ich zur Tür hinausschreite, gewinne ich meine Anonymität wieder. Ich schreite durch die Straße, hin zur U-Bahn. Gehen ist bereits lange überfällig, fast niemand geht oder spaziert durch die Gegend, denn niemand hat mehr Zeit dazu. Ich springe schon fast die Stufen zur Station hinunter, als mir einfällt, dass ich mein Ticket noch bezahlen muss. Also rüber zum grauen Automaten. Diese Kiste ist schon sehr alt, funktioniert zwar, aber muss dringend mal ersetzt werden. Auch die Milchglaslampen an der Decke haben mindestens schon 10 Jahre auf dem Buckel. Der matte, steinerne Boden ist auch nicht mehr sauber und die hell leuchtenden Linien auf dem Boden gehören auch schon fast der letzten Generation an. Als ich dann mein Ticket aus dem Kasten nehme, stelle ich mich etwas hinter die Menschenmasse, die auf die nächste Bahn wartet.

Heute braucht man fast keine Autos mehr, die Industrie und die Politik haben fast komplett auf Züge, Bus und Bahn umgebaut. Selbst wenn man Auto fahren wolle, wäre dies beinahe unmöglich. Viele Tankstellen haben geschlossen, die meisten Straßen wurden mit Häuser und kleinen Wohnungen zugebaut, sodass man mehr Wohnfläche zur Verfügung hat. Zwischen den Häusern befinden sich Wege, aber zu eng fürs Auto. Nur die Strecken für die Buslinien bleiben noch etwas breiter, aber selbst diese wollen sie abschaffen und damit auch den Bus. Somit bleibt dann als Transportmittel nur noch Zug und U-Bahn. Aber diese sind so gut ausgebaut, dass man überall ziemlich schnell hinkommen kann. 

Die Menschenmenge gewinnt an Größe, die erste Bahn läuft ein. Ich drängele mich nach hinten, muss noch warten. Während etliche Passagiere an mir vorbeirauschen, mich zur Seite drücken und jeder auf den Boden schaut, fällt mir ein junger Mann auf. Sein Alter ist schwer zu erraten, das hat sich die Gesellschaft eh abgewohnt. Jeder lebt für sich. Jeder vermeidet Körperkontakt, fühlt sich beobachtet, wenn man nur in dessen Richtung schaut. Trotz des Menschenflusses redet niemand. Alle bleiben stumm, man hört nur die tausende und abertausende von Schritten, große Zahlen von verschiedenen Schuhen. Rauschen. Windzüge wehen durchs Haar. Ruhe. Das Gerümpel hat sich beruhigt, die Station ist wieder verlassener.

Hinten in der linken Ecke stehen paar Jugendliche, die ihre Flaschen herumschmeißen. Es klirrt mehrmals und Gelächter erfüllen den Raum. Sie zerren an einer jungen Frau, schubsen sie, fassen sie an. Sie ruft nicht, sie weint nur leise in sich hinein, versucht Ruhe zu bewahren, aber es gelingt ihr schlecht. Die Jungs fassen sie an. Niemand tut etwas. Auch ich stehe da, starre hin, unternehme nichts. Ich habe mich da nicht einzumischen, das ist ihre Sache. Ich kenne die Frau nicht. Aber sie braucht doch Hilfe! Aber nein, ich bleibe da stehen, wie angewurzelt, betrachte das Betatsche und Begrabsche. Ein anderer kann sicher auch helfen, ich muss mich nicht unnötig in Schwierigkeiten begeben. Sie schlägt mit ihrer Handtasche um sich, trifft einen der Jungen am Kopf. Dieser schüttelt sich kurz, spuckt auf den Boden, zerreißt ihre Bluse. Sie schreit leise nach Hilfe. Niemand tut etwas. Die nächste Bahn rollt ein. Sie drückt die 3 zur Seite, knöpft ihren Mantel schnell zu und läuft durch die hinausströmende Menschenflut hinein in die Bahn, bis ich sie dann aus den Augen verliere.

Für eine Sekunde fühle ich mich schuldig. Ich hätte ihr helfen können. Frauen wie sie haben es heutzutage sehr schwer, nicht belästigt zu werden. Immerhin ist es inzwischen für sie Pflicht, Bluse, Rock und hochhackige Schuhe zu tragen. Männer müssen im Anzug zur Arbeit und in Hemd zur Schule. Wenn man sich nicht daran hält, muss man Strafe bezahlen. Was ist aus unserer Gesellschaft nur geworden? Wir haben uns beschwert, dass jeder anders behandelt wird, wir wollten Gerechtigkeit und Gleichheit in der Gesellschaft. Das haben wir auch erreicht. Mit welchem Zweck? Jetzt sieht jeder gleich aus, jeder muss zur gleichen Zeit bei der Arbeit sein. Natürlich auch mit Ausnahmen. Jeder lebt für sich, niemand zeigt mehr Interesse für andere, jeder hat Angst, sich in irgendetwas einzumischen. Schnell verwerfe ich den Gedanken von Vorwürfen und anderer Gesellschaft wieder. Wir haben so unser Leben so zu leben, wie man es uns vorschreibt. Wenn wir in dieser Gesellschaft nicht total untergehen möchten, haben wir zu gehorchen. Tuen wir das nicht, dauert es keine zwei Wochen, bis wir den nächsten Job anfragen müssen. Ja, Gehorsamkeit und Disziplin sind sehr wichtig geworden. Jeder muss seine Schule abschließen, jeder muss arbeiten. Der Vorteil daran ist, es gibt fast keine Arbeitslosigkeit mehr, sehr wenige Menschen leben auf der Straße. Bettler haben eh keine Chance, sie verhungern eher, als dass sie auch nur eine Münze bekommen sollten.

Der junge Mann steht immer noch da, wo er vorhin schon stand. Welche Gedanken er wohl hat? Ob er auch so denkt, wie ich? Ob der diese Gesellschaft genauso akzeptiert, wie jeder andere auch? Hat er denn eine andere Wahl?  Ich schaue wieder weg. Es gehört sich nicht, andere anzustarren. Also blicke ich auf den Boden, werfe aber immer wieder Blicke zu ihm hin. Er bewegt sich Richtung leuchtender Strich, der die Passagiere darauf hinweisen soll, dass es ab da gefährlich wegen der Bahn werden könnte. Er bleibt wieder stehen. Ich blicke auf den Boden. In meiner Erinnerung beobachte ich seinen grauen Anzug, sein schwarzes Seidenhemd, seine schwarze Anzugshose. Alles sehr sauber gebügelt, die Falte sitzt perfekt. Auch seine hellblaue, mit Streifen gemusterte Krawatte sitzt. Er sieht makellos aus, so wie jeder andere auch aussehen sollte. Er scheint ein Mensch zu sein, der sich an die Regeln hält. Solche Menschen sind mir sympathisch. Machen keinen Ärger, sind still und tuen das, was man ihnen sagt. Ich blicke wieder starr nach vorne. Die nächste Bahn rollt durch, das weiß ich.

Man hört sie bereits von weitem. Ich werfe nochmal einen Blick auf den jungen Mann. Er steht nicht mehr an seinem üblichen Platz. Wo ist er hin? Ich schaue um mich, entdecke ihn auf den Gleisen. Ich will hinlaufen, ihn da runterzerren, wieder nach oben zu mir bringen, aber ich bleibe wie angewurzelt stehen. Niemand sonst bewegt sich, niemand sonst sagt etwas. Er steht nur da. Sein Blick ist leer, er wirkt schwach, innerlich zerbrochen, verletzt, am Ende. Er hält seinen Blick starr in Richtung anrasende Bahn. Die Bahn hupt. Er bleibt stehen. Er lässt einen letzten Blick über die vor sich hinstarrende Figuren gleiten, bevor er die Augen schließt. Die Bahn rast mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbei. Man hört das grausame Geräusch von zerbrochenen Knochen und andere widerwertige Laute, bis dass es wieder still wird. Niemand sagt etwas, niemand tut etwas. 

Ja, das ist die heutige Gesellschaft. Wie kann man das ändern? Gedankenversunken versuche ich, die Gefühle von Trauer in mir zu wecken. Aber das klappt nicht. Ich habe sie so lange verdrängt, dass ich nicht weiß, wie sich Trauer anfühlt. Nochmal rufe ich die Erinnerung von dem jungen Mann hervor. Ich analysiere sie genau: blaue Augen, schwarzes Haar, gerade Nase. Augenbrauen gezupft, Nägel gefeilt. Wie es sich gehört. Wie kann es sein, dass ein solch perfekter Mensch sich selbst tötet? Soll so unsere Gesellschaft weitergehen? Dass wir nur noch funktionieren sollen? Dass unser Schein weiterhin perfekt bleibt, doch wir innerlich in uns selbst versinken? So sieht also die Zukunft aus. Jeder tut das, was er soll, jeder sieht gleich aus. Die Bahn wird nicht einmal abgesperrt, seine Überreste bleiben liegen, bis dass die letzte Bahn in der Nacht durchgefahren ist. So sieht unsere Gesellschaft aus. Aber wie kann man denn hieraus flüchten? Es muss eine Möglichkeit geben, diese Welt doch so zu verändern, dass wir dennoch glücklich werden können. Oder etwa nicht? Von uns wird nichts mehr verlangt, wir haben kein Interesse mehr, uns anzustrengen. Das Einzige, was uns gefördert hat, war die Schule. Was die Kinder da jetzt wohl lernen? Rechnen und Grammatik sind nicht mehr vorhanden, da ja alles jetzt über Computer geregelt wird. Vielleicht angewandte Technik? Buchstaben sind aber sicher noch dabei, also muss die nächste Generation zumindest noch lesen können.  

In Gedanken versunken merke ich das leichte, unschuldige Zupfen an meinem Ärmel. Ich siehe sofort den Arm zurück, als mir dann das kleine Mädchen auffällt, das mich anstarrt. In ihren großen, knopfartigen Augen spiegelt sich ein Funke Hoffnung wieder. Sie versteht diese Welt nicht, die Gesellschaft, die Art, wie wir zu handeln haben. Sie lächelt mich an. Ich frage sie: 
„Hey, Kleines. Was kann ich für dich tun?“ 
Sie schaut mich an. Um ihre Mundwinkel spielt sich ein kleines Lächeln. Sie umarmt mein Bein, ich fühle ihre Körperhitze. Ein sehr eigenartiges, fremdes, lang vergessenes Gefühl. Irgendwo in mir lodert eine Warnung, Körperkontakt ist schlecht angesehen, fast schon verboten.  Plötzlich habe ich das Verlangen, sie vor dieser Gesellschaft zu warnen, sie in Sicherheit zu bringen, sie vor dem grauen Alltag und der Anonymität dieser Welt zu verstecken. Sie soll Freunde haben, lachend durch den Tag schauen, lachen, weinen, fühlen. Sie soll anders leben als wir. Sie soll anders lernen als wir. Sie soll anders werden als wir.

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, frage ich sie leise. Sie nickt aufrichtig. 
„Du darfst das aber keinem sagen, in Ordnung?“ Sie nickt weiterhin, schaut mich mit großen Augen an. 
„Okay, hör zu.“ Ich bücke mich zu ihr hinunter und flüstere ihr leise ins Ohr: „Wenn du in der Schule ganz artig bist und immer schön deine Hausaufgaben erledigst und irgendwann einmal groß bist, dann umarme deine Freunde und deine Eltern und sag ihnen, dass du sie aufrichtig liebhast. Das kannst du auch jetzt schon tun. Pass auf dich auf, lass dich nicht unterkriegen und folge immer deinen Träumen.“ 

Das Mädchen lächelt. Es versteht mich wohl nicht. Es greift in ihre Tasche, holt einen Bonbon heraus und reicht ihn mir. Dann flüstert sie leise: „ Große Menschen wie du dürfen nicht weinen.“, drückt mir den Bonbon in die Hand, gibt mir flüchtig einen Kuss auf die Wange und läuft Richtung Ausgang. 

Ich schau ihr noch lange hinterher, bis ich dann das Eintreffen meines Zuges höre. Schnell wische ich mir mit der Rückseite meiner Hand über die Wangen, um zu schauen, ob sie feucht sind. Waren sie tatsächlich. Dennoch fühle ich innerlich nichts, steige in die Bahn wie alle anderen auch und fahre nach Hause. Die Bahn fährt an der üblichen digitalen Tafel vorbei: 12. August 2035 – 19:56 Uhr. 

 




Envoyé: 19:18 Wed, 14 March 2018 par: Dams Yana