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Feltes Michèle

Sternenwärts - Die Flügel eines Tagträumers

Goethe, Schiller und das Sinnbild wie sie bei Kerzenschein ihre Meisterwerke im dunkelsten Herzen der Nacht verfassen, lässt einen zarten Sprössling der Leidenschaft in Literaturliebhabern aufkeimen. Mit etwas Vorstellungskraft sieht man wie Sorgenfalten sich über ihre schweißgebadeten Stirnpartien schlängeln, das schriftstellerische Genie wegen der Wortwahl und der Satzstruktur quälen. Eine Mischung aus ihrem Herzblut und Tinte quillt aus der Feder. Genau so muss wahrhaftige Literatur geschmiedet werden; auf einem stabilen Amboss mit wohlplatzierten Hammerschlägen. 

  

Die Ampel sprang auf ein aggressives Rot um, weshalb der Bus unverhofft abbremste. Mein Kugelschreiber schrubbte fest über meinen Notizblock und hinterließ dort eine breite Furche im karierten Papier. Seufzend klemmte ich den Stift zwischen meinen Oberschenkel und den Sitz, damit ich das Blatt mit zwei freien Händen abreißen konnte. Den Entwurf achtlos zu zerknüllen versetzte mir zwar einen Stich ins Herz, war aber nötig. Eine derartige Textstelle war schwerfällig  und verstaubt, nichts, was man heute noch gerne lesen würde. Die schwache Beleuchtung hatte meinen Augen sämtliche Geduld ausgesaugt, weshalb mein Blick im frühmorgendlichen Himmel nach Inspiration suchte. Den Sternen schöne Augen zu machen, erschien mir sowieso viel origineller als mein Handydisplay um einen Denkanstoß anzuflehen. Letztendlich waren es die Lichtkegel der vorbei rasenden Gefährte, die eine Idee in meinem Geist entzündeten. Dazu kam das hektische Gehupe an der Kreuzung, was meiner Vorstellungskraft die richtigen Fasern gab, um anständiges Seemannsgarn zu spinnen. Mein Trommelfell wandelte das Straßenkonzert zum fiependen Geheul eines Meerungeheuers um. Auch der Sehnerv sendete vermutlich den falschen Impuls an mein Gehirn, denn dort tobte nun eine Horde von Piraten mit wippenden Laternen. Das Zittern des Busses erinnerte mich an das stürmische Brausen der See, die an den Planken riss. Mit einem Bleistift kritzelte ich einige Sätze an den Rand. Die Wörter flossen in Strömen, genau wie der Rum an Bord des Schiffes.  

 

Dann verschworen sich die Schwerkraft und die Vibration des Motors gegen mich und ich konnte nur noch das Geräusch eines kleinen Plastikobjekts hören, das auf den Boden prallte. Entwaffnet tastete ich nach dem Kugelschreiber und verdrängte den Gedanken wie viele Straßenschuhe schon über diese Fläche gelaufen waren. Eine Schnapsidee, meine Ideen analog zu notieren. Das Tablet in meinem Schulranzen wartete nur darauf mich mit seinen vielfältigen zu bezirzen. Meine Hände sehnten sich danach, sich an die Tastatur zu schmiegen. Den Laut jeder einzelnen Taste kannte ich, vom leicht klemmenden E bis zum beständigen Ton der Leertasten. Vor allem das automatische Wörterbuch erwies sich als äußerst liebenswert, wenn die richtigen Wörter einem in der falschen Sprache auf der Nase herumtanzten. Frech spuckte der Heizkörper eine Woge heißer Luft gegen meinen Handrücken, als ich endlich meinen verschollenen Schreibartikel auflas.  

 

Aus den Kopfhörern meines Nachbarn drang eine verzerrtes Lied, das mich nervös machte. Es war gerade laut genug, damit ich es wahrnahm, aber zu leise, um es zuzuordnen. Ich wandte mich wieder meinem Text zu und prüfte sein Klangschema, surrte den Rhythmus der Silben nach und stellte fest, wo Vokale aufeinander trafen oder von Konsonanten abgerundet wurden. Ich strich eine holprige indirekte Rede und ersetzte sie durch einen prägnanten Ausruf. Sogleich wurde der Abschnitt lockerer, wie ein Klumpen Teig, der im Ofen aufging.  

 

Zischend fuhren die Bustüren auf und eine Kältewelle schlug mir von draußen entgegen. Sie ließ mich frösteln, woraufhin sich meine Hände tiefer in den weiten Ärmeln meines Pullovers verkrochen. Ich zwang meine Finger, in Bewegung zu bleiben und die wunderbare Fantasiewelt, die ich vor meinen Augen sah, mit Wörtern in die leeren Zeilen zu malen. Ein zufriedenes Lächeln huschte angesichts meines Werkes über meine Lippen, gab der sehnsüchtigen Flamme in meinem Innern Brennstoff.  

Und auf einmal erstrahlten die Schriftzeichen in den schillerndsten Farben und wurden zu so viel mehr als einer bloßen Ansammlung von Strichen. Sie weinten, lachten, schrieen und wisperten ihre Bedeutung in die Seelen ihrer Leser.  

In diesem Moment wurde mir klar, wie wertvoll verwackelte Buchstaben auf den Seiten eines Notizbuches, ein vergessenes Dokument auf einer Festplatte oder verstecktes Talent einklassiert in einem Heftordner waren.  

Solange bedingungslose Hingabe das Geschriebene geformt hatte und den Leser bei der Hand nahm.  

Dann ist es Literatur, wie sie im Buche steht.  


 




Envoyé: 20:02 Mon, 13 December 2021 par: Feltes Michèle