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Dams Yana

Erbstück



Es war bereits später im Jahr, Oktober. Bald kam die Winterzeit. Schnee, Ofen, heiße Schokolade und Gekuschel, genauso wie Geschenke und Beisammensein. Meine Mutter rief mich zu ihr ins Krankenhaus, sie lag im Sterben. Kurz bevor sie dann diese einsame Welt verließ und mich alleine zurückließ, gab sie mir ein kleines Geschenk. Es war liebevoll verpackt, gestreiftes, blaues Papier und eine schwarze Schlinge darum. Zu Hause schaute ich es mir an. Ich traute mich nicht, es zu öffnen, noch die dazugelegte Karte zu lesen. Das Letzte, was meine Mutter zu mir sagte, war, ich sollte gut darauf acht geben, denn es wäre ein sehr altes Erbstück, das bereits ihr Urgroßvater geerbt hatte. Irgendwann siegte dann doch meine Neugierde und ich nahm das Päckchen auf meinen Schoß, löste vorsichtig die Schleife und legte sie beiseite. Kurz überflog ich die Karte, es stand nur darin, dass ich es an meine Kinder weitervererben sollte, damit das Geschenk seinen Zweck auch nach unserer Zeit erfüllen könnte. Dann schnitt ich mit einem kleinen Messer das Klebeband durch und packte das Geschenk aus. Eine kleine Schachtel. Dunkelbraun, schon leicht grau, das Alter machte sich bemerkbar. Darauf war eine verzierte, goldene Schrift zu lesen : “ Glaube”. Ich zog langsam den Deckel auf und fand eine wunderschöne Schreibfeder vor. Sehr, sehr alt, gar nicht aus unserem Zeitalter, denn diese Feder musste man in das Tintenglas eintunken, damit man mit ihr schreiben kann. Der Kopf der Feder leuchtete ebenfalls gold, mit winzig kleinen Verzierungen und Einkerbungen darin. Der Griff bestand aus lackiertem, dunklem, glänzenden Holz. Ich nahm sie in die Hand, sie rutschte mir zwischen den Daumen wieder leicht ab. Ein wundervolles Geschenk, aber damit kann ich nicht schreiben. Irgendwo oben müsste noch so ein Tintenglas sein. Ich nahm sie mit nach oben, fand das Gläschen auf dem alten Schreibtisch meiner Mutter und setzte mich hin, tauchte die Feder ein und versuchte, meinen Namen zu schreiben. Aber die Feder schrieb nicht. Enttäuscht und müde reinigte ich den Kopf, legte sie neben das blaue Fläschchen und verlies das Zimmer, um es mir auf der Couch gemütlich zu machen. 

Für einige Zeit vergaß ich mein Erbstück. Es wurde November. 

In einer bestimmten Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wälzte mich auf der Couch herum, träumte ständig von dem Gegenstand, dessen Kiste vor mir auf dem Couchtisch lag und das Geschenk selbst oben auf den Schreibtisch. Weil es mir keine Ruhe ließ und es mir mental und emotional mal wieder nicht so gut ging, entschloss ich mich, nach oben zu gehen um die Feder behutsam wieder einzupacken. Ich ging die Treppe hoch, wollte gerade die Tür öffnen, als ich plötzlich ein Kritzeln hörte, das aus dem Zimmer kam. Leise drückte ich die Klinke runter, schubste die Tür einen Spalt offen und spähte durch den Schlitz. Die Bürolampe war aus, keine Lichtquelle vorhanden. Es war also niemand da. Ich drückte die Tür weiter auf, streckte den Kopf rein, lauschte und sah mich um. Das Kritzeln hörte nicht auf. Ich schaute zum Schreibtisch, ging langsam auf ihn zu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, ich hatte Angst. Das Kritzeln wurde lauter. Ich stand genau vor dem Tisch, der Stuhl war leer, das Fenster zu. Es war ziemlich kalt, obwohl die Heizung eingeschaltet war. Das Kritzeln hörte immer noch nicht auf. Ich zog an der Schnur, um die Bürolampe einzuschalten. Und da war die Feder. Sie schrieb! Von ganz allein! Das Blatt war bereits fast vollgeschrieben. Die letzte Zeile ließ sie frei. Nur noch unten rechts vom Blatt schrieb sie einen Namen, bevor sie sich daneben legte und nicht mehr bewegte, so als wäre nie etwas gewesen und als hätte ich mir das alles eingebildet. Schlief ich? War es nur ein Traum? Ich kniff mich nicht, weil mir das zu blöd vorkam. Ich schaute das beschriebene Blatt an. Es schien ein Brief an jemanden zu sein. Ich beschloss, ihn durchzulesen. 

Mir stockte der Atem. Es war kein normaler Brief, sondern ein Abschiedsbrief! Ein Abschiedsbrief! Von einer Frau oder einem Mädchen namens Lynn. 

“Hallo Mutter, hallo Vater. 
Sobald ihr diesen Brief lesen werdet, seht ihr mich nicht wieder, denn dann habe ich die Wunden und das Leiden dieser Welt überstanden. Ihr werdet zu spät kommen. Bitte, Mutter, mach dir keine Vorwürfe. Aber sag mal, ist es dir nie aufgefallen? Meine Wunden am Arm, an der Hüfte? Meine magere Gestalt, meine leeren Augen? Mein missstaltetes Ich? Meine Leiden, meine Trauer konnte niemand erkennen, niemand hätte es verstanden, denn selbst ich verstehe es nicht. Ich hab dich und Vater innerlich nach Hilfe angefleht. Aus Angst vor Vorurteilen, zog ich mich immer weiter zurück, sodass auch meine Freunde langsam nachließen, mich zu beachten. Ich zog mich vor ihnen und vor euch zurück, aus Angst, euch allen in die Augen zu sehen  und zu riskieren, dass ihr die Wahrheit über mich erfahrt. 
Dad? Jetzt kannst du wieder Mutter lieben, denn ich bin jetzt nicht mehr dazu da. 
Ich liebe euch, vergesst mich nicht. Die Welt hat zu viele Wunden in mir geöffnet, mir zu starke Schmerzen zugefügt, dass ich beschlossen habe, sie zu verlassen. 
Lebt wohl,
Lynn"

Ich weinte. Dieses Mädchen, es will sich wirklich umbringen! Ich schaute die Feder an und erschrak, als sie sich erneut von magischer Hand erhob, sich mit Tinte vollsaugte, und auf das nächste weiße Blatt schrieb. Bereits an der ersten Zeile erkannte ich, dass es sich wieder um einen Brief handelte. Ich wartete, bis sie ihr Werk vollbrachte, las auch diesen Brief durch. Ein Junge diesmal. Er unterschrieb mit “Andi”. Ich musste was tun. Diese Feder schrieb Abschiedsbriefe von Menschen, die sich in den Freitod stürzen wollten! Ich schaute mich um. Auch der Boden lag bereits voll mit Briefen, die ich nie gesehen hatte. Einer war mit dem Namen Diane unterschrieben. Mir wurde übel, als mir einfiehl, dass ihr misslungener Suizidversuch im Fernseher kam. Schockiert und beschlossen machte ich es mir zur Aufgabe, diese Menschen aufzusuchen, und sie hier auf dieser Welt zu behalten. Ich wollte ihnen zeigen, dass diese Welt auch anders sein kann, dass diese Welt wunderschön sein kann. Dass diese Welt andere Seiten zu bieten hat, dass Familie und falsche Freunde nicht alles sind. Dass alle anderen auch nur Menschen sind, dass alle Fehler machen. Ich wollte ihnen zeigen, dass es nicht immer gut im Leben laufen kann, dass es Höhen und Tiefen gibt, aber dass sich am Ende doch alles noch zum Guten wenden wird. Meine Hoffnung brach mit mir durch. Ich fing an, das Papier einzusammeln. Die Stapel wurden immer höher, aber ich räumte weiter auf, auf der Suche nach dem ersten Brief. Viele Blätter waren leer, nur mit einem Datum.

Dann entdeckte ich unter den ganzen weißen Blätter ein weiteres beschriebenes Blatt. Es war bereits etwas älter. Mein Herz pochte. Ich zog ihn raus, las nur das erste Wort und wusste bereits, wer diesen Brief geschrieben hatte. 

Es war meine eigene Handschrift.  

 




Envoyé: 20:32 Sat, 10 March 2018 par: Dams Yana