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Kroggel Lena

Dreh dich (nicht) um.



Wenn ganz plötzlich das, was Dir von deinen Eltern vorgelebt und Dir eingetrichtert wurde, dass es richtig und erstrebenswert ist...Pazifismus, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit...wenn genau diese Werte in einem Moment wegbrechen und gar zu deinem Verhängnis werden...was passiert dann?

Ein markerfüllender Schrei erfüllte die Nacht. Ein Schrei, der meinen Körper in einen Alarmzustand versetzte und jeglichen Verstand in meinem Kopf aussetzen ließ. Wie ein gehetztes Tier sah ich mich um, versuchte in all der Dunkelheit zu erkennen, von wo und von wem dieses Notsignal kam. Ich rannte los, ließ mich von meinen Instinkten leiten und hoffte inständig, dass ich nicht zu spät kam. Um mich herum, war nur Dunkelheit und auch der alte Bahnhof der vor mir lag, war nur schwach beleuchtet, die Schienen verrostet und es war ein Wunder, dass hier überhaupt noch Züge fuhren. Den letzten hatte ich um ein paar Minuten verpasst – der Bahnsteig war leergefegt und auch das Bahngebäude lag im Dunkeln. Nach dem Schrei war kein einziger Laut mehr zu hören. Und diese Stille um mich herum, sie war fast noch schlimmer zu ertragen. Hatte ich mir den Schrei nur eingebildet? Hatte ich auf der Party zu viel getrunken? In meinen Ohren hörte ich das Blut rauschen und mein Herz wie wild pochen. Ich blieb atemlos stehen. Ich hatte mich getäuscht. Und trotzdem drehte ich nicht um, sondern lief wie ferngesteuert immer weiter Richtung Bahngebäude. Mit jedem Schritt mehr hatte ich das Gefühl wie von einem Magneten angezogen zu werden. Und dann hörte ich es. Ein leises, zartes und verzweifeltes Wimmern. Fast zeitgleich sah ich sie. An der Hinterseite des Bahnhofes presste ein kräftiger Mann ein zartes Mädchen gegen die Wand. In ihren Augen das blanke Entsetzen. In meinen Gedanken rasten tausende Gedanken umher und doch bekam ich keinen einzigen zu fassen. Ich wusste nur eins: ich musste ihr helfen. Ohne nachzudenken, rannte ich auf den Mann los, schrie, er solle sie loslassen.

Wie dumm von mir. Ich war damals 16. Hätte ich mich bloß ruhig verhalten. Hätte ich einen Moment nachgedacht, mich ferngehalten und die Polizei informiert. Wäre ich erst gar nicht auf diese Party gegangen.. Hätte ich dort übernachtet, ich wäre nicht dort gewesen. Hätte ich mich bloß umgedreht, wäre einfach davon gegangen. Es bringt nichts. Es ist vorbei. Vielleicht wäre dieses Mädchen ohne mich vergewaltigt worden...vielleicht hätte er sie gar getötet. Ich habe sie gerettet. Aber würde ich nochmal so handeln? So grausam es klingt...ich weiß es nicht. Denn hätte ich mich einfach umgedreht, dann läge ich nicht hier. Halb bewegungs- und gefühlslos. Ich schaffe es nicht, meine Füße zu bewegen, ich schaffe es nicht, mich alleine umzudrehen und meinen schmerzenden Rücken zu entlasten, ich schaffe es auch nicht mich in den Rollstuhl umzusetzen, um zur Toilette zu fahren. Ich bin gefangen in meinem Körper. Weil ich helfen wollte. Tränen fließen mir übers Gesicht. Ich schließe meine brennenden Augen. Ich will die weiße Decke der Klinik nicht mehr sehen. Ich will schlafen, nichts mehr denken oder fühlen... Sofort reiße ich meine Augen wieder auf – denn wie in einer Dauerwerbung sehe ich immer und immer wieder, wie mein normales Leben zerstört wurde:

Der Mann drehte sich damals nicht mal um, um zu sehen, wer ihn anschrie. Er drückte sich noch enger an das Mädchen, zog an ihrem Pferdeschwanz ihr Gesicht zu sich heran und hauchte ihr seinen Alkoholatem ins Gesicht. Wieder und wieder schrie ich ihn an, drohte die Polizei zu rufen, doch er beachtete mich keineswegs. Verzweifelt griff ich nach meinem Handy, und wählte die Nummer der Polizei. Es kam mir ewig vor, bis jemand abhob. Ich stammelte gerade meinen Namen, als der Verrückte endlich von dem Mädchen abließ und nach mir griff. Das war ihre Chance. Sie rannte. Einen Moment drehte sich der Verrückte nach ihr um, schrie ihr mit verwaschener Sprache nach, er würde sie kriegen, dann wandte er sich mir wieder zu und schlug mir das Handy aus der Hand. Ich drehte mich um, um es aufzuheben. Wieder ein Schrei. Bevor ich realisierte, dass es diesmal mein Eigener war, verschwand alles um mich herum in Dunkelheit.

Jetzt liege ich hier, in dieser Reha-Klinik..der wievielte Klinikaufenthalt es ist, weiß ich nicht. Als ich damals aufwachte, konnte ich kaum meine Augen offen halten, das Licht war zu grell. Es roch nach Desinfektionsmittel. Ich versuchte mir einen Überblick zu beschaffen. Was war passiert und wo war ich? Egal wie sehr ich mich versuchte zu erinnern, da war nichts. Panik stieg in mir auf. Die Geräte um mich herum fingen laut an zu piepsen, dann Schritte, dann Stimmen. Vier Ärzte standen um mich herum, versuchten mich zu beruhigen. Sie sagten mir, ich läge im Krankenhaus, ich hätte die Operation gut überstanden und großes Glück gehabt. Man würde meine Eltern benachrichtigen und es würde alles gut werden. Ich war noch zu benommen und schlief wieder ein. Als ich erneut aufwachte, saß meine Mutter schluchzend neben mir und hielt meine Hand. Warum weinte sie? Sie haben doch gesagt, es wird alles gut. Als ich sie fragte, schüttelte sie den Kopf und verließ das Zimmer. 10 Minuten später kam sie zurück, gefolgt von einem Arzt. Als ich dessen Blick sah, wusste ich, es würde nichts mehr gut werden.

An dem besagten Abend hatte mich die Polizei am Bahnsteig gefunden. Allein, Bewusstlos. Auf dem Bauch liegend, stark blutend und mit einem Messer im Rücken. Ein Krankenwagen hatte mich in eine Ambulanz gebracht, wo ich sofort not-operiert wurde. Das Messer hatte nicht nur eine große Stichverletzung hinterlassen, sondern das Rückenmark durchbohrt und die Nervenwurzeln im Bereich der Brustwirbelsäule unwiderruflich verletzt. Sie sagten mir, ich müsse abwarten und Geduld haben. Erst nach mehreren Wochen würde man sicher sagen können, welchen Verlauf die Querschnittslähmung annimmt. Sie machten mir Mut, indem sie sagten, in meinem Fall könnten die erhaltenen Nervenzellen die Arbeit der gestörten teils übernehmen. Ich könnte ein halbwegs normales Leben führen.

Zwei Jahre später hatte sich immer noch nichts getan. Die Therapeuten, die Ärzte, meine Familie alle haben versucht mir zu helfen. Aber Tatsache war folgende: Ich war gelähmt – und dass nicht nur körperlich, sondern auch mental.

Morgen werde ich 18. Was habe ich mir früher ausgemalt, wie ich meine Volljährigkeit feiern werde. Alleine Autofahren, eine riesen Party schmeißen, Alkohol ohne Ende trinken, Fastfood und keine Eltern, die mir etwas vorschreiben können... Ich starre auf die Wanduhr. 23:59. Gleich ist es soweit und nichts von meinen Wünschen wird wahr. Ich bin allein, die Besuchszeiten machen selbst am Geburtstag keine Ausnahme. Kein Kuchen, keine Kerzen, keine Luftballons. Da fällt mein Blick auf den Glückskeks, der auf meinem Nachtisch als übriggebliebenes Dessert vom Abendessen liegt. Normalerweise glaube ich nicht an diesen Hokospokus. Und doch greife ich danach, breche ihn auseinander und ziehe vorsichtig den Zettel heraus. „Willst du den Körper heilen, musst du erst die Seele heilen“. Was für ein Quatsch. Ich zerknülle den Zettel, schließe die Augen und verfalle in einen seltsamen Traum. 

Selbst hier sitze ich im Rollstuhl. Ich bin alleine im Wald, überall liegen Äste und umgefallene Bäume. Unmöglich mit einem Rollstuhl zu passieren. Und dann taucht sie auf. Das Mädchen, dass ich damals gerettet habe und an ihrer Hand, ich kann es nicht fassen, läuft der Mann, der Irre, das Monster, dass mein Leben zerstört hat. Wie kann sie mit ihm Hand-in-Hand-laufen? Wie kann es sein, dass sie ihm verziehen hat und ihm vertraut? Ungläubig löse ich meinen Blick von ihren Händen und schaue ihnen ins Gesicht. Das Mädchen lächelt, er weint. Und sie kommen immer weiter auf mich zu. Ich gerate in Panik, ich versuche zu fliehen, aber das einzige, was ich mit meinem wilden Umherfuchteln bewirke, ist, dass der Rollstuhl umfällt. Ich liege am Boden und bin völlig ausgeliefert. Ich drehe mich so gut es geht weg, um die beiden nicht weiter zu sehen. Ich warte, aber es passiert nichts. Vorsichtig drehe ich mich um und sehe, dass mir die beiden ihre Hand hinstrecken. Niemals. Eher bleibe ich hier für immer liegen. Das Mädchen scheint meine Gedanken zu erraten und flüstert mir zu: Verzeih mir. Verzeih mir, dass ich dich in diese Lage gebracht habe, verzeih mir, dass ich weggelaufen bin. Verzeih ihm, dass er im trunkenen Zustand einen unverzeihlichen Fehler begangen hat. Bitte verzeih uns....und...verzeih dir, denn du hast nichts falsch gemacht. Hör auf wütend auf dich zu sein, weil du glaubst, nicht nochmal so zu handeln. Denn du weißt, es ist nicht wahr. Verzeih uns und du wirst gesund“. Wie stellte sie sich das vor?! Ich verschränkte meine Arme und gab ihnen zu verstehen, dass ich ihnen niemals verzeihen würde. Im selben Moment wurde es eiseskalt, es fing an zu donnern und zu blitzen und faustgroße Hagelkörner schossen auf mich zu. Ich wusste: würde ich ihre Hilfe nicht annehmen, würde ich hier im Wald elendig verrecken. Einen Moment haderte ich noch, bis ich ihnen widerwillig die Hände entgegenstreckte. Als sich unsere Hände berührten, jagte ein gellender Schmerz durch meinen ganzen Rücken. Meine Beine zuckten. Übermütig sprang ich aus dem Rollstuhl. „Ich kann stehen“ rief ich jubelnd aus und drehte mich immer schneller und schneller im Kreis bis alles um mich verschwand.

Im nächsten Moment erwachte ich aus dem merkwürdigen Traum. Noch immer drehte sich alles im Kreis. Ich wagte es nicht, meine Augen zu öffnen... da hörte ich die vertrauten Stimmen meiner Liebsten ein Geburtstagslied für mich singen. Zum ersten Mal konnte ich so etwas wie Freude empfinden. Als sie fertig waren, sprang meine kleine Schwester zu mir aufs Bett, um mich zu umarmen. Versehentlich traf sie meine Beine und ich schrie auf. Erst vor Schmerz und gleich ein zweites Mal vor Glück – denn das bedeutete, dass ich wieder etwas spüre. Fassungslos schaue ich zu meinen Beinen hinab. Bewegen kann ich sie nicht, aber ich spüre ein deutliches Kribbeln. Da entdecke ich auch den zerknüllten Zettel wieder mit der Aufschrift „Willst du deinen Körper heilen, musst du erst deine Seele heilen“.

 




Envoyé: 18:41 Sun, 4 March 2018 par: Kroggel Lena