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Weber Maxime

Chaudron fêlé



Linus fixiert das Walross an der gegenüberliegenden Wand. Er weiß nicht, wie lange er es schon angestarrt hat, als die Tür des Cafés sich plötzlich öffnet und Bernhard eintritt. Linus schaut auf - ihre Blicke kreuzen sich, und er zuckt zusammen. Einem stockenden Uhrwerk gleich setzen sich seine Muskeln in Gang, um ein Lächeln auf seine Lippen zu befördern und die Hände zu einem mäßig festen Gruß nach vorne schnellen zu lassen, als Bernhard an seinen Tisch tritt.
Und, wie geht’s?, fragt Linus. Und wirft gleich hinterher: Gut, und dir?
Sonderbare Stille. Dann antwortet Bernhard: Auch gut.
Linus nickt, setzt seine Tasse Tee an die Lippen und wendet sich von Bernhard ab, um gleich wieder in der Betrachtung des Walrosses zu versinken.
Was machst du hier?, fragt Bernhard auf einmal.
Linus lässt die Teetasse etwas zu hastig herabsinken.
Warten.
Auf wen?
Linus tippt mit seinem Zeigefinger in unregelmäßigem Rhythmus gegen den Rand seiner Tasse Tee.
Gordon.
Bernhard nimmt gegenüber von Linus Platz und bestellt seinerseits ein Getränk. Linus öffnet den Mund - klappt ihn dann jedoch wieder zu.
Wann kommt er?, fragt Bernhard.
Linus zückt sein Smartphone und konsultiert die Uhr. Er betrachtet sie einige Zeit; dann merkt er, dass Bernhards fragende Blicke ihn durchbohren.
In zwei Minuten.
Das ist ja noch eine ganze Weile.
Ja.
Kann ich mit dir warten?
Bernhard lächelt erwartungsvoll. Linus blickt geradewegs durch ihn hindurch, während er sich mit gerunzelter Stirn eine Antwort zurechtlegt. Schließlich zuckt er mit den Achseln.
Warum nicht.
Gleich nachdem er die Worte ausgesprochen hat, gleitet Linus Blick wieder in die Ferne. In der erstickenden, betonlastigen Trostlosigkeit des Cafés ist das Jugendstilwalross das einzige Treibgut, an das sich Linus nach diesem Fauxpas noch festklammern kann.
Ich glaube, wir besuchen das gleiche Seminar, sagt Bernhard plötzlich.
Wer?
Wie wer?
Wer besucht das gleiche Seminar?
Wir.
Wer ist „wir“?
Wir beide.
Du und Gordon?
Nein. Du und ich.
Ach so. Ja, stimmt.
Wie findest du’s?
Was? Das Seminar.
Welches meinst du?
Das über Adorno.
Da bin ich nicht drin.
Dann besuchen wir doch nicht das gleiche Seminar.
Stimmt.
Bruchstücke eines Zitats, das Linus vor langer Zeit gelesen hat, hallen auf einmal in seinem Kopf wider: Die menschliche Sprache ist ein gesprungener Kessel, mit dem man verzweifelt Musik fabrizieren möchte … So oder so ähnlich muss es gewesen sein. Linus weiß weder, wie es weitergeht, noch von wem es stammt. Gedankenversunken starrt er wieder das Walross an. Es beginnt zurück zu starren.
Linus stürzt seine Tasse in einem Zug hinunter, während Bernhard weiter redet.
Nach einiger Zeit lässt er seinen Blick zum großen Fenster, das auf die mit Pflastersteinen ausgelegte Straße zeigt, schweifen. Mittlerweile herrscht Nacht, und die Musik ist berstend laut geworden. Linus sieht, dass Bernhard etwas zu ihm sagt, aber er kann den Inhalt nicht aus dem dichten Lärmteppich um ihn herum heraus destillieren. Bernhard setzt sich schließlich auf den Platz neben Linus, und führt seinen bierbeseelten Atem dicht an dessen Ohr.
Du studierst doch Philosophie, oder?
Linus muss sich von seiner Götze abwenden.
Ja. Wir besuchen doch das gleiche Seminar, über Adorno.
Stimmt! Er pausiert. Ich liebe es nämlich zu philosophieren.  Er lässt das Bier in seinem Glas bedeutungsvoll herum kreisen. Das ist das Gute an so Abenden hier im Café, so wie mit dir gerade - irgendwann denkt man weiter als die meisten Leute. Beispielsweise frage ich mich gerade, wieso man den Menschen „Mensch“ nennt, und nicht etwa … „Walross“.
Er blickt Linus an, lässt einige Augenblick verstreichen - und bricht dann in schallendes Lachen aus. Ehe Linus es vereiteln kann, schließt sich sein Zwerchfell Bernhards an. Auf halbem Wege in seinen Lachanfall hinein realisiert er, dass er das Ganze gar nicht witzig findet.
Bernhard kommt schleppend zur Ruhe, während er sich eine Träne aus den Augen wischt.
Genug davon. Er wird schlagartig ernst. Wo wir gerade beim Menschen waren: …
Die scheppernde Snare-Drum des aktuellen Lieds übertönt seine Frage und Linus’ Antwort.
Was? Ich verstehe dich nicht.
Linus sagt es ihm noch einmal. Bernhard runzelt die Stirn; dann verfallen beide in Schweigen.
Linus’ Handy vibriert plötzlich dezent. Er zückt es. Gordon hat abgesagt. Im Licht des Bildschirms beginnen sich Linus’ Züge zu verhärten.
Ich muss gehen, sagt er.
Schon?, fragt Bernhard. Kommt Gordon nicht mehr?
Nein.
Schade. Danke jedenfalls für das tolle Gespräch.
Linus ist bereits halb durch die Tür, als ihm doch noch ungewollt eine halb gemurmelte Antwort entgleitet.
Danke, dir auch.
Er seufzt. Gerade als er in die nächtliche Kälte tritt, läuft Mirela an ihm vorbei. Ein warmes Gefühl, das Bernhard in weite Ferne rücken lässt, breitet sich in seinem Brustkorb aus, als ihr Parfüm seine Nase hochsteigt und einen farbenfrohen Schwall aus Erinnerungen auslöst. Er berührt ihren Arm; sie wirbelt erschrocken herum - dann glätten sich ihre Züge.
Hallo Linus!, begrüßt sie ihn, Wie geht es dir?
Linus’ Gedanken singen wortlos in prächtigen Farben, während er sich die Antwort dieses Mal sorgfältig zurechtlegt.
Gut. Und dir?
Er senkt hastig den Blick, und streicht gedankenverloren über seine kalten Finger.
Auch gut.
Sie scheint auf eine weitere Bemerkung seinerseits zu warten, doch Linus Lippen rühren sich nicht von der Stelle. Schließlich lächelt sie zaghaft.
Wir sehen uns.
Sie verschwindet hinter der nächsten Straßenecke. Linus ballt die Fäuste, und bleibt noch eine Weile stehen. Dann eilt er nach Hause.
Das Firmament schweigt über ihm, während er die Schimpftirade seines Bewusstseins über sich ergehen lässt. An einem einzelnen, entlaubten Baum inmitten eines öden Felds unweit seines Elternhauses legt er auf einmal den Kopf in den Nacken, um doch noch Trost in den sternübersäten Tiefen des Alls zu finden. Suchend streift sein Blick umher, bis er schließlich beim Großen Bären stehen bleibt und dort verharrt. Nach einiger Zeit scheint es Linus, als ob das aus Sternen geformte Tier sich auf einmal aus seinen von den Naturgesetzen auferlegten Fesseln lösen würde; die abgelegenen Welten beginnen sich zu bewegen, bis sie sich schließlich in einen höhnischen, lautlosen Tanz hinein steigern.
Da fällt ihm auf einmal doch noch ein, von wem das Zitat mit dem gesprungenen Kessel stammte.
Flaubert. Es war Flaubert gewesen.
Nach einiger Zeit wendet Linus den Blick vom Firmament ab und zieht schweigend weiter.

 




Envoyé: 08:38 Fri, 11 March 2016 par: Weber Maxime