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Spedener Florence

Atlantis

 

Rasche Schritte hallten in den verzweigten Tunneln wider. In einigen Gängen flackerten die Lampen fast geisterhaft auf, doch sie hatte dafür keine Zeit. Ein Strich auf der Schiefertafel und weiter ging es. Ohne stehen zu bleiben, bahnte sie sich einen Weg durch das Tunnelnetz. An den Eingängen waren Nummern eingraviert, um sich nicht zu verlaufen. Doch sie waren für die Frau überflüssig. Zeit ihres Lebens hatte sie in diesen engen Schächten zugebracht und sie konnte sich mittlerweile blind zurechtfinden. Die Luft um sie herum war warm. Vermutlich hatte einer der Generatoren wieder Probleme, ansonsten würde die Klimaanlage auf der Etage funktionieren. Sie knirschte mit den Zähnen. Ein weiteres Problem auf ihrer Erledigungsliste. Ihre Schritte beschleunigten sich. Hektisch passierte sie nun die ‚Erinnerungsmeile‘. Mehrmals hatte sie sich mit dem Historiker Mister Granat gestritten, dass eine Reihe beleuchteter Glaskästen eine Verschwendung von Platz und vor allem Energie sei. Er hatte nicht nachgegeben und sie hatte gereizt kapituliert. Mit dem Mann war wirklich nicht zu verhandeln. Aus diesem Grund ging sie nun zügigen Schrittes an alten Fotos, Gemälden und Büchern vorbei. Menschen vor blauem Himmel. Zeitungsartikel über Wahlergebnisse oder das Leben irgendwelcher Leute. Bücherregale vollgestopft mit dicken und kleinen Bänden. Alle waren sie in bombensicheren Glaskästen untergebracht. Gegen die Hitze. Kopfschüttelnd passierte sie das letzte Exemplar: Atlantis. Sie hatte die Geschichte zig Male vom Historiker selbst gehört. Lächerlich. Aber ihr Herz schmerzte dennoch.

Genervt stemmte sie sich gegen die dicke Stahltür, drehte den Hebel und ließ die ‚Erinnerungsmeile‘ im vereinzelten Flackerlicht der elektrischen Lampen hinter sich.

Immer noch umgaben sie Felswände. Kurz erinnerte sie sich an einen älteren Mann, den sie einmal aufgegabelt hatten. Er hatte Angstzustände durch die engen Gänge bekommen und derartig hyperventiliert, dass er ohnmächtig geworden war. Mister Granat hatte es Klaustrophobie genannt. Sie konnte es nicht nachvollziehen. Es gab nichts anderes für sie als diesen dicken Stein.

Ihre, in dicken Handschuhen steckenden Hände kurbelten an der nächsten Schleusentür und endlich erreichte sie die Treppe, die sie tiefer ins Erdreich brachte. Auf ihrer Schieferplatte machte sie mit ihrem Halskettenstein einen Kratzer für eine weitere Glühbirne, die den Geist aufgegeben hatte. Sie musste den Lagerbestand später kontrollieren. Glühbirnen waren mitunter das Meiste, das sie verbrauchten. Amethyst würde wohl wieder Nachbesserungen vornehmen müssen und vielleicht hatte er endlich seine neue leistungsfähigere und langlebigere Glühbirne fertiggestellt. Es würde vieles verbessern.

Je tiefer sie die metallenen Stufen herabstieg, desto kühler wurde es. Die Gänge wurden breiter und nun hörte sie auch das dumpfe Grollen der Generatoren. Die Mauern schienen zu vibrieren. Die Neonlampen hier waren weiß und vermittelten einem das Gefühl von Frische. Fast wie ein Segen. Mister Granat hatte mal angedeutet, dass er diese Gänge nicht leiden konnte. Das Licht würde ihn an Krankenhäuser und seine verstorbene Frau erinnern.

Sie erreichte eine weitere Schleusentür und wurde auch prompt von einer Welle an Gerüchen begrüßt. Vor allem war es der Gestank vom Mist vieler verschiedener Tierarten und der Geruch von Spagetti am Mittag, der ihr mit der kühlen Luft entgegenschlug. Der Saal war riesig und wie ein gigantischer Dom angelegt. Er verzweigte sich und führte in große Hallen, aus denen der Lärm unterschiedlichen Mitbewohner unschwer zu hören war. Es hatte Jahrzehnte gedauert, diese Höhlen auszuheben, zu stabilisieren und zu einer gigantischen Anlage umzubauen. Kräftige Säulen stützten die massive Decke und waren mit den Namen der Arbeiter verziert, die das alles ermöglicht hatten. Helden. Nicht in Büchern verewigt, sondern in Stein.

Ihr Blick schweifte suchend zu der aufgerichteten Station aus Tischen, Stühlen und Computerzubehör. Einzelne Schirme waren ausgeschaltet und sie konnte Amethysts schwarze Boots unter einem der Kästen ausmachen. Vermutlich war ein Kabel lose und er musste herausfinden, welches denn nun wieder herausgesprungen war. Ab und zu hörte man ihn fluchen. Typisch. Auf einem der Tische im entlegenen Bereich waren Jaspis und Pyrit gerade mit einem Patienten beschäftigt. Das Pumababy hatte ihnen nun schon eine geraume Zeit Sorgen gemacht, weil es nicht trinken wollte. Es war bereits zu schwach, um es wieder zu seiner Mutter und seinen Geschwistern zurück zu setzen. Die würden es unweigerlich irgendwann fressen. Das konnten sie sich nicht erlauben. Jedes Leben war wichtig. Sehr wichtig.

„Lapislazuli. Da bist du ja! Ich habe auf dich gewartet. Was gibt es zu melden?“

Mister Granat schob seine runde Brille zurecht. Der Mann war vermutlich in den frühen Achtzigern und auch wenn er körperlich längst nicht mehr so fit war wie der Rest der Truppe, machte er das mit seinen geistreichen Ideen und seinem Wissen wett. Er war der Älteste hier und bei der Eröffnung damals Teil des Gründungsteams gewesen. Sein Bereich war die Technik gewesen. Jetzt war er lediglich der Historiker. Ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Lapislazuli bekam sich des Öfteren mit ihm in die Wolle. Sie war vierundzwanzig und in seinen Augen ein naives Ding. Er hielt ihr ihre Jugend ständig als Manko vor. Im Gegensatz zu ihm wollte sie nicht recherchieren und war auch nicht neugierig. Sie lebte für das Hier und Jetzt. Etwas, das er nicht leiden konnte.

Ohne augenscheinliche Begeisterung begab sie sich zu seinem Tisch. Er sah nicht auf, als sie vor ihm stehen blieb. Seine Augen verfolgten irgendetwas auf seinem Computerschirm. Vermutlich Nachrichten aus den anderen Anlagen auf der Welt, ähnlich wie ihre hier in Nordamerika. Also begann sie mit ihrem Bericht.

„Es gibt nicht viel Neues. Neunzehn Lampen geben bald den Geist auf. Sieben sind kaputt. Ich hab die Schächte notiert. Amethyst muss sie wechseln. Und die Klimaanlage auf dem 3. Stock scheint wieder ausgefallen zu sein. Das Thermometer hat 26° Grad angegeben.“

„Nichts hält ewig. Wird Zeit, dass er die neue Birne endlich fertig hat.“, grummelte der Alte.

„Das habe ich gehört. Macht’s doch selbst, wenn es nicht schnell genug geht!“, fluchte es unter dem benachbarten Tisch und Lapislazuli musste sich anstrengen, um nicht zu grinsen.

„Wie geht’s dem Puma?“, fragte sie mit einem Nicken in Richtung Krankenstation.

Mister Granat blickte kurz von seinem Schirm auf. Hinter seinen dicken Gläsern wirkten seine grauen Augen noch um einiges größer. Er folgte ihrem Blick.

„Das Junge ist entkräftet. Wir werden es im Auge behalten und deswegen wird es in den Babysektor zurückverlegt. Jaspis kennt die Vorgehensweise und wir haben ihren Terminplan auch schon angepasst. Dafür fällt der Reptiliensektor wieder dir zu.“

Es war keine Frage und sie ballte ihre Hand zur Faust. Es wäre schön gewesen, wenn man sie gefragt hätte. Aber darauf schien niemand zu achten. Innerlich brodelte sie. Er hatte sie absichtlich hoch geschickt, vorbei an seinen Erinnerungsstücken, damit er in Ruhe den Plan ändern konnte. Ohne ihre Einwände. Wie immer. Noch dazu war sie erst letzten Monat mit einem kleinen Alligatorweibchen aneinander geraten. Glücklicherweise waren es nur die Krallen gewesen und nicht etwa die Zähne. Trotzdem waren es neun Stiche gewesen. Der Stationsarzt Pyrit hatte sie ununterbrochen ausgeschimpft, weil sie ihre Armschienen vergessen hatte. Ihn hatte Mister Granat wohl bereits von dem neuen Plan überzeugt. Wie stellte der alte Mann das bloß an? Besagter richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Schirm. Das Gespräch war scheinbar beendet. Sie strich sich seufzend über den rasierten Kopf. Niemand im Team hatte langes Haar oder einen langen Bart. Nicht einmal der Historiker, der kaum mehr am Außendienst beteiligt war. Wegen der Hitze.

Sich mit dem Alten zu streiten würde zu nichts führen. Stattdessen ging sie zur Küchenzeile, um sich ein Glas Wasser zu holen. Auf der Schiefertafel an der Wand machte sie hinter ihrem Namen einen Strich. Wie jeder in der Anlage trug auch sie den Namen eines Heilsteins. So wie ihre Eltern vor ihr. Pyrit hatte ein wachsames Auge darauf, dass jeder genug Flüssigkeit zu sich nahm. Kein Tropfen wurde verschwendet. Anschließend machte sie sich auf den Weg zum Reptiliensektor. Hier war es immer wärmer und die Luftfeuchtigkeit war ebenfalls höher. Die schwere Metalltür fiel hinter ihr zu. Der Gestank von abgestandenem Wasser und Ausscheidungen begrüßte sie auch sofort. Die Alligatoren und Krokodile waren durch einen Zaun voneinander getrennt. Die Gehege hatten kein Gitterdach, um die Fütterung zu erleichtern. Noch dazu gab es hier, wie auch in den anderen Bereichen ihrer Anlage Projektoren, die die Kuppeldecke in einen strahlend blauen Himmel verwandelten. Die Ingenieure hatten sogar Windsimulationen und Regengüsse, die man ab und an per Knopfdruck einschalten konnte. Amethyst war bei weitem nicht ihr einziger Techniker, aber seit dem letzten Fieber hatten sie vier gute Leute verloren. Seither fielen ihm mehr Aufgaben zu. Von der Instandhaltung der vielen Scheinwerfern ganz zu schweigen. Ohne sie würde die Flora eingehen.

Lapislazuli passierte die Terrarien, in denen die Leguane, Schildkröten und Schlangen untergebracht waren. Ihre Aufzucht gestaltete sich nicht annährend so schwierig, wie bei den großen Reptilien. Von jedem Exemplar gab es mindestens zwanzig und bislang hatte man Inzucht und damit Missbildungen und Mutationen vermeiden können.

Sie steuerte zielstrebig ein entlegenes Gehege an. Zwar waren die Teiche, die sie samt Mangroven und Schilf angelegt hatten, recht groß, doch war es vermutlich kein Vergleich zu dem, was vorher dagewesen war. Auf einer Sandbank erblickte sie ihr Ziel: ein über vier Meter langes Alligatormännchen. Ihm fehlten die Zähne und einige Krallen hatte er im Verlauf der Jahre ebenfalls eingebüßt. Nur seine Größe hatte ihn bislang vor den Angriffen der jüngeren Echsen bewahrt. Er war das größte Reptil in ihrer Anlage. Kein anderes Reptil erreichte seine Größe in den kleinen Gehegen. Er war ihr Zuchtbulle gewesen, doch mittlerweile wohnte er abseits der anderen. Zu seinem Schutz. Die kargen Mahlzeiten reichten für den Hunger, aber in seiner Trägheit konnte er zur Beute der jüngeren Generation werden. Ihrer Generation. Die nichts wusste oder verstand. So würde Mister Granat es sehen.

Sie blieb vor dem Gehege stehen. Auf dem Gitter stand sein Name, eingeritzt in Metall. Sobek. Wie der ägyptische Gott mit den Zügen eines Krokodils. Mittlerweile war er zahm geworden und sie konnte sich neben ihn auf der Sandbank niederlassen. Seine trüben Augen musterten sie nicht einmal.

„Sobek, alter Junge. Du wirst uns doch nicht schlapp machen?“

Die Tierärztin Jaspis hatte die Vermutung, dass der Alligator wohl bald sterben würde. Er war mit seinen 51 Jahren einer der ältesten Insassen. Dieses Wort passte perfekt auf jeden hier. Zu Beginn des Projekts war er zur Zucht genommen worden. Er hatte einen großen Beitrag zum Erhalt seiner Art geleistet. Sanft strich sie über seinen Kopf und Sobek öffnete gemächlich die Schnauze. Ein Zeichen, dass er entspannt war. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ die künstlichen Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht scheinen, während sie den Alligator kraulte.

„Mister Granat hat mir Geschichten erzählt. Von vor 50 Jahren, als noch alles in Ordnung war. Blauer Himmel. Wind. Sonne. Regen und grünes Gras. Überall. Ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen. Vermisst du es sehr?“

Keine Antwort. Sobek verweilte weiterhin still im Schein der Lampe, doch seine Augen blinzelten und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, er würde sie ansehen. Unsagbar traurig. Als habe er sie verstanden. Ihr Herz zog sich zusammen.

Es war ein einziger Fehler gewesen. Eine Fehlzündung, die eine Kettenreaktion ausgelöst und die Welt in Rauch gekleidet hatte. Es war die Rede von nuklearen Reaktoren, tektonischen Platten, Magmakammern und unterirdischen Vulkanen gewesen, die fast zeitgleich ausbrachen. Nur der weisen Voraussicht einiger Wissenschaftlerverbände war es zu verdanken, dass Anlagen, wie ihre vor der Katastrophe errichtet worden waren. Zum Schutz der Artenvielfalt. Eingesperrt in einem Berg. Vor der Hitze. Lapislazuli hatte nie den blauen Himmel gesehen oder das Meer. Nur Rauch, als sie mit ihren Eltern an einem Außendiensteinsatz geholfen hatte, die Solarplatten neu zu richten, in der Hoffnung, Rauch und Staub würden sich legen und sie könnten von der Sonnenenergie profitieren. Sie war, wie die vielen Tierjungen, auch im Inneren der Anlage zur Welt gekommen und zu einem Mitglied des 30-köpfigen Teams geworden.

Sobek knurrte kurz. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie innegehalten hatte mit ihren Streicheleinheiten. Lächelnd fuhr sie fort, ihn zu kraulen.

Obwohl sie mit dem Historiker oft aneinander geriet, ahnte sie, dass er nicht wütend auf sie war. Er war nur traurig. Traurig, dass sie wie die Tiere nie die Außenwelt gesehen hatte und in diesem Berg leben musste. Eingesperrt. So wie viele andere Menschen auf der Welt. Sie bekamen E-mails aus anderen Berganlagen. Aus Menschenkolonien, aber vor allem aus Tierrettungsanlagen. Zum Erhalt der Spezies. Sie war stolz auf ihre Arbeit, aber wenn sie in die trüben Augen von Sobek blickte, keimte in ihr der Wunsch, seine Welt gesehen zu haben. Damals vor 50 Jahren. Als noch alles in Ordnung war. Damals, vor Operation ‚Atlantis‘.

 




Envoyé: 10:12 Wed, 21 February 2018 par: Spedener Florence