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Klaassen Eline

Max im Märchen



Das Buch war ziemlich hoch und ziemlich dick. Es war in rissiges, altes Leder gebunden und es sah nicht danach aus, als hätte in den vergangenen 100 Jahren jemand es aufgeschlagen. Komisch sah es aus, so verstaubt und mit Spinnweben umzogen, inmitten eines Regals, das prall gefüllt war mit leuchtend bunten Abenteuerbüchern. Eigentlich war Max ja auch zur Bibliothek gekommen, um sich was Spannendes zu Lesen zu holen, damit er sich in den Ferien nicht langweilte. Er schüttelte verwundert den Kopf und ging in die Hocke, um den Buchtitel dieses merkwürdigen, alten Druckwerks zu entziffern. Die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm. Aha, ein Märchenbuch also. Dabei war die Abteilung für Märchen doch viel weiter vorne… 

„Entschuldigen Sie bitte? Ich denke, dieses Buch steht nicht an seinem rechtmäßigen Platz“, teilte er einer Bibliothekarin mit. Diese bückte sich und zog das Märchenbuch mit dem Ledereinband aus dem Regal. Sie kniff die Augen zusammen, dann schüttelte sie den Kopf und entgegnete schlichtweg:  

„Doch, ich bin sicher, dieses Buch steht hier richtig“. Mit diesen Worten rauschte sie davon.  

Äußerst seltsam, dachte Max irritiert. Er kniete sich abermals vor dem alten Buch hin.  Er zögerte einen Moment, dann fasste er einen Entschluss. Er zog das Buch vorsichtig aus dem Regal und wischte sorgsam den ganzen Staub sowie die Spinnweben vom Einband. In schwungvoller, altmodischer Schrift waren die Worte „Die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm“ erneut zu lesen. Max‘ Mut ließ nach. Sollte er es wirklich wagen? Doch die Neugier war größer als der Verstand und so siegte sie auch. Er schlug vorsichtig den Buchdeckel auf und sah in das Buch hinein.

Mit einem Mal wurde Max nach vorne gerissen. Er versuchte, zu schreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Eine unfassbar starke Kraft zerrte seinen Körper in wilde Verrenkungen. Nach einer schier unendlichen, kaum aushaltbaren Weile wurde er hoch in die Luft geschleudert, dann ließ die Kraft abrupt nach. Mit einer sanften Brise wurde Max schließlich niedergelassen auf einem überraschend sanften Bett aus Laub und Erde.

Überwältigt sah Max sich um. Er saß anscheinend mitten in einem ziemlich finsteren Wald, weit und breit war niemand außer ihm selbst zu sehen. Keine Bibliothek mehr. Keine Bibliothekarin mehr.

Als Max sich einigermaßen gefangen und sich vom harten Aufprall auf dem ziemlich kalten Waldboden erholt hatte, war er erst einmal völlig verwirrt und verstand die Welt nicht mehr. Er rappelte sich langsam auf und fegte eine Menge Laub sowie Erde von seiner Hose. Unsicher sah er sich um. Der Wald sah eigentlich ganz normal aus, nicht viel anders als der Wald in dem er seinen Hund immer spazieren führte. Und doch wusste Max, dass dem natürlich nicht so war. Ein Wald, in den man hineingeschleudert wird-nachdem man in ein Buch hinein- und wieder hinausgesogen wurde-konnte kein stinknormaler Wald sein. Immerhin das war ihm klar.

Es sah nach Frühling aus. Obwohl es vor ein paar Minuten noch Hochsommer gewesen war,  schien es nun Ende März zu sein. Es blühten zwar schon einige voreilige Blumen-bunte noch dazu-, doch das Wetter war bitterkalt. Max fröstelte in seinem kurzärmligen T-Shirt. Hätte er sich doch bloß was Wärmeres angezogen!

Sein Gehirn arbeitete währenddessen auf Hochtouren. Ihm musste doch eine Möglichkeit einfallen, wo er sein könnte! Oder, wenn das wirklich zu viel verlangt war, wenigstens, wie er wieder hinausfinden konnte! Ein Märchenbuch schnappen und hineinspringen wäre das Logischste gewesen, allerdings gab es hier weit und breit kein Buch, mit dem er dies ausprobieren könnte. Er beschloss, wenigstens ein wenig die Gegend zu erkunden. Vielleicht lag der Wald ja an einem Dorf, wo er ein Buch finden könnte.

Mit frischem Mut und nichts ahnend stapfte er durchs Laub und durchs Gestrüpp, immer seiner Nasenspitze nach (beziehungsweise in die Richtung, in der er Osten vermutete. Er hatte so eine Theorie, dass westlich von jedem Dorf ein Wald lag, daher musste er Richtung Osten. Für diejenigen, die alles ganz genau nehmen: Er lief in Wahrheit Richtung Süden)

Als er allerdings eine gute halbe Stunde gelaufen war, ohne aus dem Wald hinausgelangt zu sein, hockte er sich erschöpft neben einen der zahlreich vorhandenen Bäume. Stinkig brummte er: „Was zum Teufel ist das hier eigentlich für ein beknackter Wald?! Hier geht ja gar nix! Total bescheuert.“

„Entschuldigung? Guten Tag! Ich habe eine Frage, eventuell kennen Sie die Antwort darauf?“ erklang da eine glockenklare Kinderstimme,  sie schien gar nicht von so fern zu kommen.

Max fuhr verlegen zusammen, als er das Mädchen erblickte. Es schien jung zu sein, etwa neun, zehn Jahre alt, und trug ein niedliches, rotes Tuch auf dem Kopf. Ihre Haare glänzten goldig blond, und unterstrichen somit ihren märchenhaften Anblick.

„Öh, äh, hm, ja hallo, ich bin hier der Max!“ stotterte Max völlig verdutzt.

„Mein Name lautet Anna Margaretha Emilia Gertraud. Aber ach, wie unhöflich von mir! Wie konnte ich nur so einfältig sein,  so selbstverfallen, dass ich nicht nach Ihrer Bestimmung Erkundigung einzog!“, plauderte sie fröhlich drauflos.

Vollkommen überfordert von all den altertümlichen Ausdrücken brachte Max nicht mehr zustande als: „Das weiß ich selbst eigentlich auch nicht. Ich bin...nur so zufällig in diesen Wald hineingeraten…“

Was war das überhaupt für ein Mädchen? Es konnte doch nicht ernsthaft einen solch langen Namen besitzen! Und erst wie sie aussah-wie Rotkäppchen! Da hätte ihre Mutti sie ja gleich Rapunzel nennen können. Aber in so einem dämlichen Wald konnte man ja nie wissen...

„Fabelhaft! Ganz glänzend, wollen Sie die Bekanntschaft mit meiner Großmutter antreten? Eines sollten Sie allerdings wissen: Gott erbarmt sich ihrer Gesundheit zurzeit leider Gottes nicht, sie liegt, wenn das so weitergeht, baldig auf dem Sterbebett.“

„Hui, klingt ziemlich ernst. Ich hoffe, wir kommen zurzeit mit der Medizin. Du hast doch welche dabei, oder?“, hakte Max möglichst interessiert klingend (und zugegeben ziemlich geschockt) nach. Erst jetzt bemerkte er den großen geflochtenen Korb, den das komische Mädchen im Arm hatte. Sie war wohl wirklich eine Art Wiedergeburt Rotkäppchens. Vielleicht gab es das ja, hier, in dieser verfluchten verrückten Welt... Vielleicht gelangte er ja mithilfe dieses Mädchens ins Dorf. Ihre Omi wohnte doch bestimmt dort. Oder?

Das Mädchen, wie auch immer sie sich nannte, entgegnete halb vergnügt, halb verwirrt: „Wieso entfleuchte  Ihnen eben das Wort Medizin?  Ich bin weder beruflich noch in der freien Zeit des Lebens Arzneiheilmann oder Heilpraktiker, ein solcher wird die werte Frau Großmutter an einem der folgenden Tagen noch einen Besuch abstatten. Aber Himmel, ich drücke mich heute wirklich außerordentlich unhöflich aus, Verzeihen Sie meiner ein letztes Mal! Es war ein einmaliges Versehen, entspringend aus Sorge um meine werte Frau Großmutter. Ich bitte vielmals um Gnade, Herr Maximillian!“

Max stammelte ein wenig verlegen: „Ist schon gut, schon gut. Alles in Butter. Kein Stress. Lass uns endlich losgehen, sonst stehen wir hier morgen noch.“

„Oh, verzeihen Sie nochmals! Sie haben natürlich vollkommen Recht. Ich ersuche Sie höchst freundlich, meiner Wenigkeit zu folgen!“

Mit diesen Worten hüpfte das Mädchen fröhlich los, mit wippenden Zöpfen in den Haaren, den Korb sorglos am Arm baumelnd. Es sah absolut märchenhaft aus, und niemand hätte bei ihrem Anblick gedacht, dass ihre Oma am Sterben war. Max hastete hinterher, eher lump und stirnrunzelnd als frohgesinnt.

Als das ungleiche Paar eines schmächtigen, etwa elfjährigen Jungens und eines unglaublich munteren, etwa neunjährigen Mädchens mit einem roten Käppchen auf dem Kopf eine Weile gegangen war, blieb das Mädchen plötzlich ruckartig stehen. Irritiert drosselte auch Max das Tempo seiner Schritte und kam zum Stehen. „Äh, Annilietha?“

„Anna, Emilia, Margaretha und Gertraud, Verehrtester.“, erinnerte ihn...Anna, oder so.

„Okay, Gertraumarga, warum gehst du denn nicht weiter? Ist irgendwas passiert? Sind wir falsch gegangen?“, erkundigte er sich ein wenig besorgt.

„Anna Emilia Margaretha Gertraud. Ich verspüre trotz aller guten Dinge ein leichtes Unbehagen, wenn Sie der Vorsicht lieb sind, weichen Sie dem Wege ab und verfolgen Ihre Wege dort, wo die Bäume etwas dichter wachsen. Sie können Ihre Wege parallel des Pfades weiterführen. Ich werde, wenn die eventuell drohende Gefahr sich verzogen hat, Ihnen folgen. Ich werde hier verweilen und dem Pfade folgen. Nun gehen Sie, Gott möge Ihnen beistehen!“

Mit diesen Worten scheuchte sie Max mit dramatischen Gesten in den Wald hinein. Obwohl er ihr dramatisches Übertreiben natürlich für Schwachsinn hielt und auch ihrer Warnung kein Wort glaubte, dämmerte es ihm doch langsam, was dieses ganze Getue zu bedeuten hatte. Das alte Buch, durch das er hier hin gelangt war, war doch ein Märchenbuch gewesen, nicht? Das konnte doch kein Zufall sein, oder? Oder?

Da fiel Max etwas Schreckliches ein. Wenn er hier tatsächlich in einem Märchen gelangt war, würde doch bald auch der Wolf kommen! Und er war derjenige, der vom Pfad abgewichen war, nicht Rotkäppchen! Was sollte er bloß tun, wenn gleich hier der Wolf auftauchte? Einfach weglaufen? Wölfe waren doch schnell, oder? Okay, Max spielte Fußball und konnte recht schnell laufen, aber einen Leoparden zum Beispiel würde er nie schlagen, und falls Wölfe ebenso schnell wie Leoparden waren, hatte Max ein kleines Problem. Dann doch auf dem Pfad bleiben? Aber was, wenn das hier irgendeine Variation von Rotkäppchen war, in der ein Junge überlebte, Rotkäppchen jedoch mitten auf dem Pfad mit Haut und Haar gefressen wurde?

So fieberte Max weiter, während er mit zunehmend großen Schritten den Pfad entlangeilte. Selbst wenn er sich schlussendlich dafür entschieden hätte, den Pfad zu verlassen, hätte es im Endeffekt wahrscheinlich überhaupt keinen Zweck gehabt. Gerade als er nämlich schon fast in Panik geriet, tauchte am Horizont plötzlich ein kleines, nettes Häuschen auf. Dankbar wollte Max zuerst wie ein Verdurstender, der Wasser sieht, losspurten, dann jedoch fiel ihm ein, dass in dem Häuschen, wenn er tatsächlich in Rotkäppchen gelandet war, natürlich die Großmutter lebte, und die wurde zum Schluss, wenn er sich richtig erinnerte, gefressen. Keine guten Voraussetzungen also. Andererseits, vielleicht konnte er die Omi warnen und sich eine Falle ausdenken, worin der dumme Wolf sicher tappen würde. Dies wäre allerdings recht riskant, da er keinen blassen Schimmer hatte, wann der Wolf auftauchen würde.

Plötzlich hörte er ein leises Knurren, wie ein Donnergrollen, begleitet von dem Tappen vierer Tatzen. Es war nur sehr leise und sehr unscheinbar, doch es genügte, um bei Max die Alarmglocken auf höchster Stufe schrillen und ihn wie von der Tarantel gestochen aufspringen zu lassen. Mit einem Mal erinnerte er sich wieder an die Stimme seines Vaters, als er seinem kleinen Sohn Rotkäppchen vorgelesen hatte. Und er erinnerte sich, wie der Wolf Rotkäppchen darum bat, den Pfad zu verlassen. Er war in Gefahr!

„Wer mag dort sein?“, wunderte sich die Großmutter, als sie von einem lauten, eindringlichen Klopfen aus ihrem Schlaf aufgeschreckt wurde. Als das Klopfen immer energischer wurde und nicht aufhören wollte, ging sie seufzend zur Tür und öffnete sie mit schwachen, zitternden Knien. Ein Junge mit blonden  Wuschelhaaren sah sie mit großen, verschreckten Augen an. 

„Na, was ist denn dir geschehen, dass du so unaufhörlich an meine Türe klopfst, Lausbub? Ein Unheil mag dir doch nicht wiederfahren sein, ist's nicht?“, fragte die Großmutter den Max verwundert. Dieser hechelte erschöpft: 

„Würden... Sie mich bitte reinlassen? Ich... Rotkäppchen, also, der Wolf, er...“

„Nun komm erst einmal herein, Lausbub, du bist ja ganz erblasst vor Furcht! Hat dich die werte Anna Emilia hergeschickt, dass du von ihrem Spitznamen sprachst?“

Max betrat das kleine, ulkige Haus, das seiner Beurteilung nach eher einer Holzhütte glich. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, als er keuchend hervorbrachte: „Anna-Rotkäppchen, sie wird bald von einem Wolf gefressen werden, und Sie später auch, wenn Sie jetzt nichts unternehmen! Ich-das Märchen, also- Nein, vergessen Sie es. Rufen Sie den Jäger rasch, es bleibt kaum noch Zeit!“

Er zitterte, als er sich bewusst wurde, was das bedeutete. Das Märchen würde verändert werden!

Die Großmutter starrte ihn ungläubig an.

„Bist du, ich meine...Sind Sie ein Bote Gottes?“

„Nein. Sagen Sie dem Jäger, er soll sich hinter dem Haus verstecken und Zeug zum Aufschneiden von Wölfen mitnehmen. Aber beeilen Sie sich, ebenso wie er!“

Die Großmutter war immer noch baff, schien ihm jedoch zu Max' großem Erstaunen zu glauben. 

„Nun denn, ich werde mich dir anvertrauen und deinen Warnungen gerecht werden. Des Jägers Haus befindet sich eine Viertelmeile in südöstlicher Richtung, wenn du deine jungen Beine anstrengst, solltest du es binnen einer Stunde abgelegt haben.“

Max wurde verlegen. 

„Welche Richtung ist das denn genau? Könnten Sie das bitte etwas näher beschreiben?“

„Du folgst immer dem Pfad und weichst niemals vom Weg ab, halte folgende Richtung an.“, erklärte die Großmutter und streckte zitternd ihren Arm gen Südosten aus.

„Gott möge mit dir sein!“, rief sie ihm mit ihrer alten, krächzenden Stimme nach, als er aus der Tür gehuscht und in die angegebene Richtung gerannt war. Er murmelte kopfschüttelnd: „Ebenfalls, ebenfalls. Dummer Aberglaube.“

Als er etwa eine halbe Stunde pausenlos gerannt war und schon ein gutes Stück seines Weges abgelegt hatte, ging ihm so langsam die Puste aus. Er verlangsamte mit beunruhigtem Gefühl seine Schritte. Hatte er denn auch wirklich die richtige Märchenversion im Kopf? Sonst würde er alle Märchen auf einmal verändern!

Seine Schritte beschleunigten sich wieder, und er rannte weiter durch den Wald, Puste hin, Puste her. Er musste tun, was er zu tun hatte, und er würde es tun, auch wenn es sicher einen einfacheren Weg gab.

Die Hütte war etwas baufällig und wimmelte nur so von Waffen und Schrotflinten, doch erschien es Max in dem Augenblick wie ein Palast im Himmel. Er war überglücklich, einen alten Mann mit sehr runzliger, ungesund gelblicher Haut zu erblicken. Ein miefender, ungewaschener Bart umrandete sein trotz allem freundlich, leicht überdreht aussehendes Gesicht. Sein Kopf war rot, und er schien ziemlich betrunken zu sein.

„Guten Tag, sind Sie hier der Jäger?“, stieß Max japsend hervor.

„Jawohl, der bin ich! Was kann ich für dich schießen, knapper Bursche?“, tönte seine laute, tiefe Stimme.

„Kommen Sie mit zum Haus der Großmutter, verstecken Sie sich dahinter, und sobald ein Wolf vor ihrer Tür erscheint, halten Sie Wache vor der Tür, nachdem der eingetreten ist. Sobald Sie ein lautes Schnarchen hören, treten Sie ein und schneiden Rotkäppchen und Großmutter aus seinem Bauch! Danach dürfen Sie den Wolf gern erschießen, nicht jedoch zuvor!“, erklärte Max aufgeregt. Er hoffte nur allzu sehr, dass sich der Jäger auch daran halten und es recht verstehen würde.

„Jawohl, zu Euren Diensten, knapper Bursche! Das erscheint mir als ein Fall für Messer und Flinte, wenn ich mich recht besinne. Recht so?“, fragte der Jäger mit seiner volltönenden Stimme.

„Ja, äh, wohl, Herr Jäger! Das scheint mir ein klarer Fall, äh, dafür...zu sein.“

Der Jäger hob Max auf die Schultern und stapfte breitbeinig in zügigem Tempo los. Der Kerl schien im Gehen schneller zu sein, als Max rennen konnte, und das faszinierte diesen.

Schon bald konnte Max das Haus der Großmutter am Horizont erkennen. 

„Was nun, knapper Bursche?“, fragte der Jäger geradeheraus.

„Verstecken Sie sich unbemerkt  hinter dem Haus, und seien Sie bitte leise!“, kommandierte Max selbstbewusster, als er je von sich selbst erwartet hätte.

„Wenn Gott es so will!“, lautete der barsche Kommentar des Jägers. Er huschte hinters Haus und hockte sich erstaunlich unauffällig hin.

Max kniete sich daneben. Vorerst geschah lange Zeit gar nichts. Das einzige, was zu hören war, war das leise, nervenzerreißende Gezwitscher  der Vögel.

Die erste, die erschien, war Rotkäppchen. Sie hüpfte unbesorgt und schien sich ihrer gefährdeten Situation nicht im Geringsten bewusst zu sein. Doch schon nach wenigen Sekunden erblickte Max den Wolf hinter ihr, es fiel ihm äußerst schwer, nicht laut loszuschreien und auf sie zu zu rennen. Doch er hielt sich zurück und wartete mit klopfendem Herzen ab, was geschehen würde.

Rotkäppchen schien nicht überrascht über die Präsenz des Wolfes zu sein, sie schien es sogar erwartet zu haben. Doch plötzlich riss der Wolf das Maul auf und verschlang Rotkäppchen ganz und gar.

Nun mögt ihr denken: Warum tut der verflixte Max nicht endlich etwas?! Doch Max blieb liegen und wartete seine Rolle, oder besser die des Jägers, im Märchen, das er kannte, ab. Er wartete, bis der Wolf an die Tür der Großmutter klopfte. Die erwartete wahrscheinlich Max, und öffnete ziemlich schnell die Tür.

Der Wolf hatte sich die Kleider Rotkäppchens angezogen und versuchte, ihre Stimme zu imitieren. Heraus kam allerdings bloß ein jämmerliches Quieken.

„Seid gegrüßt, werte Großmutter!“, quiekte er.

„Ah, du bist es, Kind! Ich bin so entzückt, gar gereizt, dass du deine jungen Beine angestrengt hast und ganz bis zu mir gekommen bist! Viel Mut muss es dich gekostet haben, dass du den dunklen, bösen Wald durchquert hast, um deiner kränkelnden Großmutter eine Freude zu bereiten, ist es nicht?“

Mehr bekam Max nicht mit, denn der Wolf schloss die Tür hinter sich. Max war allerdings sein sehr gewölbter Bauch aufgefallen, außerdem hatten blonde Haare aus seiner Schnauze hervorgeguckt. Rotkäppchen war also schon gefressen worden, und er konnte nur hoffen, dass seine Erinnerung ihn nicht täuschte. Und hatte nicht Sophie, aus seiner Klasse, einmal über verschiedene Versionen von Märchen gesprochen? Genau wusste er es nicht mehr, aber die Chance, dass sein Plan klappen würde, war eher klein. Der Jäger fing so langsam zu schnarchen an. So laut hatte Max noch nie jemanden schlafen gehört, was, wenn der Wolf das hörte?!

„Psst! Nicht einschlafen! Wenn der Wolf was hört!“, zischte er dem Jäger zu.

„Aber, das bin gar nicht ich! Das dringt aus dem Hause der Großmutter!“, entgegnete der Jäger. Nun erst fiel Max auf, dass das Schnarchen tatsächlich aus dem Haus der Großmutter kam. Laut seiner Erinnerung bedeutete das, dass der Wolf nun schlief und der Jäger den Bauch aufschneiden musste.

„Nun sind Sie dran, Jäger!“

„Möge die Macht Gottes mit mir sein!“, sprach der Jäger feierlich, dann schlich er sich mit seinen Sachen ins Haus der Großmutter hinein.

Max wäre ihm am liebsten nachgeschlichen, doch plötzlich erfasste eine kühle Brise ihn, er wunderte sich zuerst darüber, und ehe er sich's versah, wurde er von den Füßen gerissen und in die Luft geschleudert.

„Knusper, Knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“, drang eine heiser krächzende Stimme aus der aus Lebkuchen bestehenden Hütte, die sich vor Max‘ Nase erhob.

„Nicht schon wieder!“, stöhnte er verzweifelt auf, dann sank er ohnmächtig zu Boden.
 




Envoyé: 20:47 Sun, 18 February 2018 par: Klaassen Eline