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Klaassen Eline

Mord auf dem Bürgersteig



Ein Messer blitzte auf. Ein Messer in der Hand des Tätowierten. Seine Körperhaltung war drohend. Sein Gesicht in der Abenddämmerung kaum zu erkennen. Seinem Gegenüber schien das Messer Angst zu machen. Ausweichend trat er einen Schritt zur Seite, bewegte leichenblass seine Lippen, als könne er sich damit retten. Der Tätowierte folgte ihm auf der Stelle, packte ihn mit einem Ruck am Kragen. Nun waren seine Gesichtszüge einigermaßen zu erkennen, obwohl die Finsternis Details immer noch verborgen hielt. Er war wütend, das war unverkennbar, und er konnte jeden Augenblick ausrasten. Noch aber verliefen seine Handlungen kontrolliert. Er sprach auf den Anderen ein. Dieser schüttelte sträubend den Kopf, dabei lockerte er den Griff des Tätowierten ein wenig. Dieser ließ ihn nun schlagartig los. Stattdessen hielt er ihm das scharfe Messer an die Kehle. Für den Bruchteil einer Sekunde schwand die Furcht aus der Miene des Bedrohten, wich einer festen Entschlossenheit, doch der Tätowierte schien das nicht zu bemerken. Auch fiel ihm nicht auf, wie die linke Hand des Mannes langsam in seine Hosentasche glitt. Genau in dem Moment, als der Tätowierte einen heftigen, blaffenden Satz ausspucken wollte, tauchte etwas metallisch Glänzendes in der Hand des Gegenüberstehenden auf. Ehe der Tätowierte es entdecken konnte, bellte er ein letztes Wort. Die Angst war nun vollständig aus dem Gesicht des Gegenübers geschwunden. Konzentriert blickte er drein, als er den Finger auf das Metallische legte. Als jedoch der plötzliche Knall ertönte, lächelte er hemmungslos. Der Tätowierte erstarrte, griff sich stöhnend an die Schusswunde, dann fiel er leblos zu Boden. Der Lebende verschwand ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen in der Düsternis. Zurück blieb einzig und allein eine tätowierte Leiche.
Ich mag hier ja nur der Hund sein, einige Dinge aber hatte sogar ich verstanden: Die Männer wollten nicht gesehen werden, taten also etwas Verbotenes, außerdem hatten beide vorgehabt, den Anderen umzubringen. Der Tätowierte hatte außerdem etwas von dem Bedrohten gewollt, aber damit, dass dieser selbst bewaffnet sein könnte, hatte er nicht gerechnet. Was mich als sehr rechtmäßigkeitsbewussten, reinrassigen Dachshund aber am allermeisten aufregte, war, dass der Mörder ungeschoren davongekommen war. Er würde weiterhin eine Gefahr für die Welt, für mich und für mein Herrchen darstellen. Somit war die Sache entschieden: Ich musste ihn unschädlich machen. Am besten, ehe er noch Schlimmeres anrichtete. Wie, das würde ich mir besser morgen ausdenken.
An jenem Abend, als ein tätowierter Mensch sein Leben auf unserem Bürgersteig lassen musste, weil ein Anderer ihm dieses nicht länger gönnte, befand ich mich wie üblich auf der Fensterbank des Zimmers meines Herrchens. Das war so ziemlich der beste Platz im ganzen Haus, denn dort befand sich nicht nur mein Körbchen, sondern zudem das meines Herrchens, außerdem mein Herrchen selbst und sogar ich! So konnte ich abends unbesorgt einschlummern, und sobald ich eine Gefahr wittere, war ich gleich an Ort und Stelle, um mein Herrchen zu beschützen. Solche Dinge bemerkte er nämlich immer zu spät, und auch den Mord auf dem Bürgersteig verschlief er seelenruhig. Erst, als seine menschliche Hundemutter das Zimmer betrat und in ein zärtliches Gurren der Zuneigung ausbrach, öffneten sich seine Augen zum Zeichen, dass er erwacht war.
Nach einem hastigen Frühstück setzte ich mich fest entschlossen vor die Tür und jaulte, als hinge mein Leben davon ab. Raus! Ich musste auf der Stelle raus! Wie sonst sollte ich denn die Welt vor der furchtbaren Gefahr bewahren, die pausenlos von dem Mörder ausging?!
Mein Herrchen jedoch schien leider nicht zu erkennen, welch wichtige Heldentat ich als Dachshund zu verrichten hatte, und ließ sich erst mal reichlich Zeit.
Nach dieser ziemlich haarsträubenden Weile des Wartens legte mir mein Herrchen dann endlich die Leine an und öffnete die Tür. Mit einem Mal wurde mir ganz kribbelig, aber zugleich auch mulmig zumute. War es wirklich so notwendig, rauszugehen? Einerseits musste ich natürlich unbedingt die Welt retten, doch andererseits, das war doch total gefährlich! Dieser Mensch war so viel größer als ich, und er hatte eine Waffe, die tödlich war! Ich war doch lebensmüde, wenn ich mich gegen ihn stellte!
Aber selbst, wenn ich es gewollt hätte, blieb mir gar keine andere Möglichkeit, als meinem Herrchen zu folgen. Es war einfach meine Pflicht, ihn zu beschützen, und selbst, wenn ich nicht die ganze Welt retten konnte, so würde ich immer noch ihn retten. Ich musste nun mal.
Obwohl meine Nase während des gesamten Spaziergangs am Boden klebte, so erschnüffelte ich doch leider nichts, was auch nur im entferntesten Sinn nach Blut oder Tod roch. Es fiel mir schwer, mein Herrchen schließlich gehen zu lassen, als wir wie üblich zu einem Gebäude mit zahllosen Seinesgleichen gelangten. Doch so viele Menschen konnte der Mörder wohl kaum auf einmal umbringen, oder? Wie dem auch sei, auf jeden Fall überredete ich mich selbst auf diese Weise dazu, den Spaziergang fortzusetzen.
Als wir, also ich und die Mutterhündin des Herrchens, das Haus wieder erreichten, beschloss ich, dass ich als Dachshund den restlichen Tag wohl nirgendwo besser als auf der Fensterbank verbringen konnte. Hier war ich nicht nur geschützt, sondern konnte zudem den gesamten Garten mitsamt Bürgersteig überblicken Wenn der Mörder käme, ich wäre bereit zum Kampf! Sollte er sich nur trauen.
Am Abend, nachdem ich den ganzen Tag wachend auf der Fensterbank verbracht hatte, entschied ich mich dazu, dass es an der Zeit war, meine Ermittlungen draußen fortzusetzen. Schließlich war ich ein richtiger, reinrassiger Dachshund, und denen lag der Mut einfach im Blut!
Obwohl mein Herrchen mittlerweile eingeschlummert war, wachte seine Mutterhündin anscheinend noch unten. Zu meinem Glück ließ sie sich sogar dazu herab, mir die Tür zum Garten zu öffnen, wo es ein Leichtes für mich war, den Zaun zu untergraben und hindurch zu schlüpfen. Mein Herz klopfte wie wild. Ich wusste genau, wie verboten es war, was ich hier tat-und wie gefährlich erst! Trotzdem beschnupperte ich unbeirrbar jeden einzelnen Zentimeter Boden, der mir unter die Nase kam. Doch plötzlich hob ich alarmiert ein Schlappohr. Ich verharrte in meiner Bewegung. Es schien, als näherten sich mir zwei Silhouetten in der Düsternis! Lautlos drängte ich mich an die Wand, panisch darauf bedacht, das laute Pochen meines Hundeherzens zu bändigen. Ich verschmolz reglos mit dem Schatten der Wand, wie gelähmt das Schauspiel betrachtend, das sich nun vor mir abspielte.
Drohende Körperhaltung. Das Gegenüber verschreckt ausweichend. Todesangst. Der Drohende beugte sich über den Verängstigten, obwohl dieser seine Körpergröße bei Weitem überschritt. Der Drohende kam ihm so nah, dass der Andere fast auf dem Boden kauerte. Es sah so aus, als halte auch Letzterer eine Waffe in der Hand, doch er verwendete sie nicht. Ein hämisches, zutiefst bösartiges Lachen war aus der Kehle des Drohenden zu vernehmen. Nun erst entdeckte ich, dass in seiner Hand fast dieselbe Waffe glänzte, die den Tätowierten umgebracht hatte. Ein letzter Angstschrei aus dem Hals des Bedrohten. Die Waffe des Drohenden richtete sich auf ihn. Ein Knall. Ein Stöhnen. Dann sank der Bedrohte kraft- und leblos zu Boden. Der Drohende lächelte zufrieden, dann verschwand er in der Dunkelheit. Zurück blieb eine Leiche, aus der eine heiße, dunkle Flüssigkeit quoll. Und ich.
Ich habe, als ich mich der Abwesenheit jeglicher lebenden Anwesenden sicher war, versucht, dem Drohenden zu folgen. Lange Zeit habe ich alles nach möglichen Spuren abgesucht, habe alles in meiner Macht Stehende unternommen, doch als die Dunkelheit dem Licht zu weichen begann, wusste ich, dass es zwecklos war. Ich war ein Dachshund, ich hatte meine Pflicht als Dachshund zu erfüllen, ich musste zu meinem Herrchen zurück. So begab ich mich zugegebenermaßen recht niedergeschlagen zurück zur Gartentür, in der Erwartung, jemand würde mir die Tür öffnen. Wieder ein Tote. Wieder Fragen. Wieder keine Antworten.
Als das Licht einkehrte und mein Herrchen mich an die Leine schnallte, wusste ich eigentlich schon, dass ich auch diesmal nichts herausfinden würde, solange die Sonne die Welt erleuchtete. Dennoch konnte ich es nicht lassen, während des gesamten Spaziergangs meine Nase über den Boden wandern zu lassen; für alle Fälle, man konnte schließlich nie wirklich wissen…
Jedoch kam es, wie es kommen sollte, somit verbrachte ich auch dieses Mal den Nachmittag nach einer missglückten Schnüffel-expedition auf der Fensterbank. Anders als am vergangenen Tag hingegen blieb der Bürgersteig heute nicht unbetreten; Ganze 7 Leute liefen an meinem Fenster entlang! Die alte Frau Zitterbein samt ihrem Gehstock, der Herr Glatzkopf mit seinem Briefebeutel, die Frau Katzenliebhaberin von gegenüber, die beiden Fußballjungs von der Nummer 16, und die Besitzerin von Murphy, dem Border-Collie, gemeinsam mit ebendiesem Murphy, dem Border-Collie. Irgendwann allerdings übermannte die Erschöpfung meinen Willen, und ich schloss wohlig die Augen, ohne weiter über die Welt und Rettungen und Morde nachzusinnen.
Mitten in der Nacht wurde ich abrupt aus meinem tiefsten Schlaf gerissen. Alarmiert setzte ich zum Bellen an - ich bin eine guter Wachhund -, da jedoch stieg mir der beruhigende Geruch meines Herrchens in die Nase, und ich verstummte sofort. Einen Moment erfüllte mich ungeheure Erleichterung, er wollte sicher nur einen kleinen Nachtspaziergang mit mir unternehmen, aber gleich darauf packte mich eine besorgte Panik. Nachtspaziergang?! Er war noch nie mitten in der Nacht mit mir zu einem Spaziergang aufgebrochen! Angsterfüllt verfolgte ich, wie er die Leine an meinem Halsband einhakte. Genau in dem Moment, als er sich zu mir hinunterbeugte, sah ich es. Es lag in seinen Augen. Es war sein Blick. Er war nicht wie sonst, aufgeweckt und klar. Er war glasig, glasig und verschwommen. Mit einem Mal überkam mich ein fürchterliches, schauderndes Gefühl, wie ich es noch nie gefühlt hatte. Das Herrchen war nicht wach. Es schlief noch. Es wandelte das berüchtigte Schlafwandeln.
Als ich noch ein Welpe war, ein kleiner, hilfloser Welpe, der noch von seiner Hundemutter gesäugt werden musste, da erzählte sie mir und meinen Geschwistern eine Geschichte, die sie wiederum selbst als Welpe von ihrer Hundemutter erzählt bekommen hatte. Darin kam ein Herrchen vor, der ein wahrhaftig traumhaftes Gespür für Hunde hatte, und ein Dackel meinesgleichen, der als unglaublich klug und auch wagemutig gegolten haben musste. Eines stürmischen Nachts hingegen überkam ihm etwas Fürchterliches: Das Herrchen begann zu schlafwandeln. Er führte ihn in einen dunklen Wald, bis er an einen Abhang gelangte. Dort soll er fünf grausame Worte gesprochen haben, die meine Hundemutter mir um keinen Preis verraten wollte. Schließlich hat er sich schweigend in die Tiefe gestürzt. Mit dem Hund an der Leine.
Mein Herrchen führte mich zur Haustür, aus dem Haus hinaus. Mit jedem einzelnen Schritt, den er versetzte, wurde mir mulmiger zumute, bis ich regelrecht angsterfüllt beobachtete, was er tat. Doch entgegen meinen Befürchtungen ging er nicht weiter; Er blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen. Erleichtert, wie ich war, traute ich mich endlich, mich genauer umzuschauen. Er stand an haargenau der Stelle, an der der Drohende gestern und der Bedrohte vorgestern gestanden hatten. Dass mein Herrchen sich nun an genau dieser Stelle befand, vermittelte mir ein solch schlotterndes Gefühl der Gänsehaut, dass ich mich unbewusst hinter seinen Beinen verschanzte.
Noch schlimmer allerdings schockte mich die Tatsache, dass gegenüber uns nun eine Gestalt auftauchte. In ihrer linken Hand blitzte eine Waffe auf. Sie war auf mich und das Herrchen gerichtet.
Für einen winzig kleinen Augenblick zuckte mein Herrchen zusammen, doch dann fasste er sich schon wieder. Kaum merkbar setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Drohende murmelte irgendetwas, es klang ganz und gar nicht freundlich, grollend, knurrend. Das Herrchen erwiderte etwas, es war allerdings so leise, dass ich es in meiner Angst nicht genau verstehen konnte. Der Mann legte einen Finger auf einen Knopf an der Waffe. Er wiederholte seine Worte. Offenbar wollte er etwas vom Herrchen. Dieser schüttelte hingegen trotzig den Kopf. Ich sah genau, wie der Mann den Finger anspannte und den Knopf eindrückte. Kurz bevor der Knall ertönte, huschte mein Herrchen flink zur Seite. Der Schuss ging ins Leere. Mein Herrchen zückte nun plötzlich ebenfalls eine Waffe. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, starrte auf die benommene Gestalt vor ihm, die noch nicht genau begriff, was vor sich ging. Dann schoss er.
Ich konnte es einfach nicht glauben. Mein Herrchen, der Mörder sämtlicher Toten! Er hatte völlig kaltblütig und ohne eine Miene zu verziehen drei Menschen getötet, er, der er keinen Schritt ohne seine Mutterhündin versetzte!
Wie in Trance betrachtete ich, wie er die Leiche zu einer Wiese brachte, dort ein Loch grub und den Toten hineinwarf. Er buddelte das Loch flüchtig zu, dann bewegte er sich wieder auf sein Haus zu. Als sei nie etwas geschehen lag er kurze Zeit später in seinem Bett und schlummerte friedsam, während ich auf meiner Fensterbank benommen die Geschehnisse zu verarbeiten versuchte.
Am folgenden Tag verließ ich mein Körbchen nicht. Ich schlief viel, fraß kaum und verbrachte den größten Teil des Tages damit, mich der verzweifelten Hilflosigkeit hinzugeben, die mich innerlich zerfraß. Warum musste bloß gerade mein Herrchen, das ich so innig geliebt hatte, sich als Mörder herausstellen? Was in aller Welt hatte ich getan, dass mir dieser Albtraum widerfuhr?
Am Abend legte ich mich absichtlich so, dass ich keinen Blick auf die Straße werfen konnte. Einen weiteren Mord würde ich nicht ertragen.
Punkt Mitternacht regte sich mein Herrchen plötzlich und riss mich somit aus dem Schlaf. Er stand aus seinem Bett auf, lief schweigend zur Zimmertür. Ich erhaschte einen Blick auf seine Augen; sie schimmerten ebenso glasig wie in der vergangenen Nacht. Ich hörte genau, wie sich seine Schritte allmählich entfernten. Die Haustür wurde kaum hörbar geöffnet, dann verschwand mein Herrchen lautlos in der rabenschwarzen Nacht. Er kehrte nie wieder zurück.
 




Envoyé: 18:06 Sat, 17 February 2018 par: Klaassen Eline