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Elsa Hengel

Die Wut ist eine unbarmherzige Macht

Die Wut ist eine unbarmherzige Macht

   Ein Tropfen Wasser platschte auf meine Stirn. Augenblicklich öffnete ich die Augen und starrte die Decke an. Ein winziges Loch befand sich darin. Wieder tropfte es auf meine Stirn. Ich seufzte. Wie konnte das Dach schon wieder beschädigt sein? Ich hatte doch erst gestern alles repariert.
   Ich richtete mich auf und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht. Schmerzen durchzogen meinen Rücken. Die letzte Nacht war kurz gewesen und wegen der harten Matratze hatte ich auch noch keinen tiefen Schlaf gehabt. Außerdem war es so heiß und stickig hier drin, dass ich mich fragte, wie ich überhaupt noch atmen konnte. Mit meinen rauen Füssen suchte ich vergeblich nach meinen Pantoffeln; bestimmt hatte einer meiner Mitbewohner sie wieder geklaut. Also lief ich barfuß durchs Zimmer und hoffte, dass ich mir keinen Splitter einfing.

   Vor dem Fenster blieb ich stehen. Ich schob den Vorhang beiseite und grelles Sonnenlicht schien mir entgegen. Instinktiv kniff ich die Augen zusammen und bemerkte deshalb zuerst nicht, wer vor unserem Haus stand. Erst als der Stein das Fenster durchbrach und mich im Gesicht traf, konnte ich mir denken, wer dort stand. Brian und seine Gang, bestehend aus ihm, Arnold und Cassandra. Alle drei waren achtzehn und benahmen sich wie sadistische Monster. Dazu gehörte, dass sie die Schwächeren ausschlossen und dafür sorgten, dass keine Menschenseele der Umgebung etwas für diese Personen übrig hatte. Ich wusste zwar nicht warum, aber einer dieser Menschen war ich, obwohl ich ganze zwei Jahre jünger war als sie.
   Mir wurde schwarz vor Augen und ich torkelte hilflos nach hinten, so dass ich gegen Lionels Bett stieß. Lionel war einer meiner Mitbewohner. Der zweite, der hier wohnte, hieß Jonathan. Beide konnten mich überhaupt nicht ausstehen, ließen mich aber für eine hohe Bezahlung bei ihnen wohnen. 
   „Alter, Harris! Geh runter von meinem Bett!“, schrie Lionel und rammte mich mit seinen Füßen. 
   Mit einem lauten Krachen fiel ich auf den Boden. Somit weckte ich auch Jonathan. „Willst du mich verarschen?“, brüllte dieser und stand plötzlich mit gebücktem Gesicht neben mir. „Ich wollte noch schlafen, weißt du? Schlafen wollte ich!“ Er trat mit seinem Fuß gegen mich.
   Draußen hörte ich Gelächter. Es schien, als würden sie sich prächtig an meinem Leiden amüsieren. „Du Pfeife!“, rief Arnold und schwang sich durchs Fenster in den Raum. Mit gehässigem Blick spuckte er mir ins Gesicht. „Schäm dich! Du kannst doch nicht einfach das Fenster kaputt machen!“, spottete er.
   „Ja, verdammt! Du reparierst das noch heute!“, beschwerte sich Lionel und warf mir einen drohenden Blick zu. „Sonst wird etwas Schlimmes passieren. Hast du verstanden?“
   „Ja…“, murmelte ich hustend.
   „Und jetzt verpiss dich, Harris!“, befahl Jonathan und zog mich an meinen Haaren herauf.
   Ich spürte den Schmerz schon fast nicht mehr, schließlich hatten sie das nicht zum ersten Mal gemacht. Ich hatte keine Zeit, meine Schuhe anzuziehen, da sie mich zu dritt packten und aus dem Fenster schmissen. Zum Glück wohnten wir im Erdgeschoss.
   Umgeben von spöttischem Gelächter erhob ich mich und schritt die Straße entlang durch die Slums der Stadt. Ich spürte, wie das Blut aus meiner Wunde auf der Stirn rann, aber es war mir egal. Eine vierte Narbe auf der Stirn wäre auch nicht viel schlimmer als drei. Von allen Seiten her hörte ich Beleidigungen, aber die machten mir schon seit langem nichts mehr aus. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich eben an solche alltäglichen Dinge. Und trotzdem floss eine einsame Träne aus meinem linken Auge, da das rechte dazu nicht mehr in der Lage war.
   Als ich die Slums verließ und in die Natur trat, fühlte ich mich gleich viel besser. Eigentlich zwar noch immer leer, aber nicht mehr so traurig. Zwischen den Wiesen und Feldern war es kälter als in der Stadt, doch ich hatte keine Jacke dabei. Wenn mich die Kälte holen wollte, dann sollte sie es tun.
   Schon bald erreichte ich den Wald. Ich hatte das Gefühl, als könnten mich die Bäume besser leiden als der ganze Rest der Welt. Wahrscheinlich war dies sogar wirklich so. Mit langsamen Schritten wanderte ich durch den Wald. Ziellos und völlig alleine. Das dachte ich zumindest, bis ich plötzlich ein Knacken hinter mir hörte und sofort stehenblieb. Aufmerksam lauschte ich nach weiteren Geräuschen und konnte tatsächlich Schritte hinter mir hören. Ich wartete bis zum richtigen Augenblick und drehte mich dann blitzschnell um; meine Faust reagierte genauso schnell.
   Ich traf Cassandra mitten ins Gesicht und hörte ihre Nase knacken. Verblüfft starrte sie mich an, während ich vor Stolz sogar schmunzeln musste. Jedoch war sie natürlich nicht alleine. Aus dem Gebüsch sprangen Arnold, Brian, Jonathan und Lionel heraus.
   „Das ist aber überhaupt nicht nett von dir, Harris“, knurrte Brian. „Cassandra hat jetzt bestimmt furchtbare Schmerzen.“
   „Von Schmerzen habt ihr doch keine Ahnung!“, schrie ich und spürte die Wut in mir brodeln wie nie zuvor. „Was habt ihr gegen mich? Was habe ich euch getan?“
   „Du lebst!“, rief Jonathan mit gehässigem Lächeln.
   Meine Hände ballten sich zu Fäusten und mein Puls begann zu rasen. „Ich werde euch mal zeigen, wie sich Schmerzen anfühlen!“
   Brüllend lief ich auf Jonathan zu und boxte ihn in den Bauch. Er schlug zurück, aber ich wich geschickt aus. Ich traf ihn erneut am Bauch und er fiel nach hinten auf den nassen Waldboden. Zufrieden sah ich zu ihm hinab, als mich Lionel von hinten packte und zu Boden warf. Augenblicklich richtete ich mich wieder auf und versuchte ihn anzugreifen, aber er blockte meine Schläge ab. Als dann auch noch Brian begann, mich von der anderen Seite zu treten, gaben meine Beine auf einmal nach. Ich sank auf meine Knie, als mir Brian mit voller Kraft den linken Fuß in den Rücken rammte und ich mit dem Gesicht in den Schlamm stürzte. Spöttische Gesichter bückten sich über mich, aber sie waren verschwommen. Plötzlich drehte sich alles im Kreis und mir wurde ungeheuer schwindelig. Dann verlor ich das Bewusstsein.
   In völliger Dunkelheit fand ich mich schließlich wieder. Um mich herum war alles pechschwarz. „Hallo?“, fragte ich laut, aber hörte nichts außer meinem Echo. Da erschienen glühend heiße Flammen direkt vor mir und eine rote Gestalt kam daraus hervor. Sie trug Hörner auf dem Kopf und hielt einen Dreizack in der Hand. Der Teufel.
   „Harris, schön dich endlich mal persönlich kennenzulernen!“, begrüßte er mich lachend. „Ich habe dich schon eine ganze Weile beobachtet und finde es mutig, wie du mit deiner Situation umgehst.“ Er umkreiste mich mit großen Schritten.
   „Wie ist das gemeint?“, fragte ich misstrauisch.
   Der Teufel lachte. „Ach, bald wird alles klar für dich sein.“ Er blieb stehen und blickte mir tief in die Augen. „Ich spüre deinen Hass und deinen Zorn. Beides stärkt dich in deinem Leben. Verwende deine Stärken! Räche dich!“
   Wieder begann alles um mich herum sich im Kreis zu drehen. Der Teufel verschwand und Cassandra, Jonathan, Arnold und Lionel standen um mich herum. Außerdem hielt ich ein scharfes Messer in der Hand. In diesem Moment fühlte ich nichts außer Zorn. Es war, als hätte er die Macht über mein Denken und Tun übernommen. Und so hob ich das Messer und tötete die vier Jugendlichen. Ein bösartiges Lachen erklang aus meinem Mund, was mich selbst erschrak. Aber diese Welt hier fühlte sich nicht echt an, was mein Mitgefühl verschwinden ließ. Da erschien Brian vor mir. Er war der, der begonnen hatte, mich zu hänseln. Er hatte mein Leben zerstört! Brüllend lief ich auf ihn zu und stach ihm das Messer in die Brust.
   Alles Dunkle um mich herum verschwand und ich befand mich wieder im Wald. Verwirrt fasste ich mir an den Kopf, der vor Schmerzen pochte. Ich bemerkte, dass ich ein Messer in der Hand hielt und ließ es fallen. Dann stellte ich das Schockierende fest. Um mich herum lagen die fünf blutüberströmten Leichen der Jugendlichen. Alles war real gewesen.
   Der Teufel erschien lachend neben mir.
   „Du hast mich zum Mörder gemacht!“, schrie ich fassungslos.
   „Nein, Harris. Das warst du, oder besser gesagt deine Wut. Dank diesem starken Gefühl konnte ich die Macht über dich erlangen.“
   „Also warst es doch du!“
   „Dir hat es aber gefallen“, lachte der Teufel amüsiert. „Jedenfalls spüre ich, dass das Feuer des Zorns in dir noch lange brennen wird. Und so lange, wirst du mir als Diener gehorchen!“
   Diese Zeilen machten mich so wütend, dass es wieder geschah. Ich verlor die Macht über meinen Körper und wurde durch meine Wut beeinflusst. Ohne es zu wollen und doch mit einem Lächeln hob ich das Messer auf und schritt Richtung Stadt. Wenn ich dort ankäme, würde ich erbarmungslos alle Bewohner der Slums ermorden. Nein, ich wollte niemanden mehr töten, aber was konnte ich nur dagegen tun? Fieberhaft dachte ich nach, während der Teufel und ich uns immer mehr den Gebäuden näherten. Ich kam zur Erkenntnis, dass es nur eine Lösung gab. Momentan war ich nur in der Lage zu töten, also musste ich es tun, um alle anderen vor mir zu retten. Ich nahm tief Luft, sah noch einmal kurz zum bösartig lachenden Teufel und rammte mir dann mit voller Wucht das Messer in mein mit Wut aufgefülltes Herz.




Envoyé: 14:00 Sat, 14 February 2015 par: Elsa Hengel