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Feltes Michèle

Nur ein Anruf



Die ersten Strahlen des anbrechenden Nachmittags fielen durch die verstaubten Fensterscheiben und ließen einige Staubkörner träge in der Luft umherschwirren. Das Licht flutete den schneeweiß angestrichenen Raum und die dazu unpassend scheinenden, altmodischen Möbel, die ihn trotzdem etwas gemütlicher wirken ließen. Auf einem ebenso so altmodischen Polsterstuhl saß zusammengekrümmt die ältere Frau, die in diesem Zimmer verweilen musste. Die konvexen Brillengläser blitzten unruhig auf, als Hildegard ungeschickt ihre Sehhilfe aufsetzte und anschließend unbeholfen in der antiken Kommode nestelte, bis sie schließlich ein zerfleddertes Adressheftchen hervor nahm. So unscheinbar lag es in ihren durchfurchten Händen — qualitativ schlechtes Papier, gräuliche Tinte aus einem billigen Kugelschreiber und ein ramponierter Kunstledereinband, der das Ganze auch nicht edler wirken ließ — für uns wertlos, doch für Hildegard ein Sammelpunkt für die unzähligen Freundschaften und Bekanntschaften, die sie in ihrem letzten Jahrzehnt sorgsam darin aufgehoben hatte. Kurz schielte sie auf das Telefon. Verlockend stand es da, nahezu wartend, dass man es vom Gewicht des Hörers befreite. Die alte Frau schnappte ihn sich und hängte ihn schon mal aus. Grinsend kam sie wieder auf ihr Adressbuch zurück. So vorsichtig es eben ging, blätterte sie die vergilbten Seiten um, bis sie schließlich den gesuchten Abschnitt vor sich hatte. Mit der liebevoll krakeligen Handschrift hatte sie dort die wichtigsten Telefonnummern mit den dazugehörigen Kontakten niedergeschrieben. Glücklich die wertvollen Ziffern vor Augen zu haben überflog sie die Liste. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ihr Lächeln bröckelte. Die Hoffnung auf ein Telefonat schwankte. Keine der Personen schien ihr für einen Anruf geeignet. Zum Beispiel die Erste der Auflistung, Liliane, bei der wusste sie, dass die Nummer nicht mehr stimmte. Ach, Liliane, sie war eine ihrer besten Freundinnen gewesen. Zusammen hatten sie sich die dämlichsten Daily Soaps angesehen und wie wild gekichert. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als ihr, stets von der Arbeit gestresster Stiefsohn beschloss, sie in ein anderes Altersheim, jenseits der luxemburgischen Grenzen zu geben. Er selbst sprach von einer "besseren Betreuung" in der anderen Residenz, doch auch wenn man die beiden Freundinnen immer voreilig wegen Gedächtnisschwund abstempelte, wussten sie ganz genau, dass es ihm nur um eine niedrigere Pflegegebühr ging. Lilianes Umzug ging schnell vonstatten, wie bei einem nervigen Haustier, was man ohne viel Umschweife beim örtlichen Tierheim entsorgte. Entgeistert beäugte Hildegard die zweite Person der Liste, was gar nicht so einfach war, wenn man von grünem Star geplagt wurde. Mit Dorothé hatte sie sich auch immer gut verstanden. Sie konnte sich noch hervorragend daran erinnern, wie sie sich aus den Fenstern ihrer Häuser gelehnt hatten um den neusten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Das war noch eine andere Ära gewesen, die Ära in der sie noch in ihrem eigenen vier Wänden gelebt hatte. Kurz nach Hildegards Umzug ins Heim hatte sie vom Tod von Dorothés Ehegatten gehört, sogar eine Kondolenzkarte hatte sie geschrieben. Leider lag diese noch immer auf dem Couchtisch, da kein Pfleger sich ihrer erbarmt hatte. Respektiv hatte ein Großteil des Personals sie durch die Sprachbarriere nicht verstanden. Dorothé wurde jedenfalls immer verbitterter, zog sich von der Außenwelt zurück und ließ sich von der Vorstellung, nun völlig alleine und kinderlos auf dieser Welt zu sein, verschlingen. Schlussendlich wählte Hildegard eines Tags ihre Nummer und fand sich nur in wirren Gebrabbel, ausgesprochen von Dorothés Stimme, wieder. Zurückgeschreckt wand Hildegard sich von ihrem Heftchen ab. Sie wollte diese Frau so in Erinnerung halten, wie sie sie vor ihrem Umzug gekannt hatte, nicht als Opfer der Demenz und vor allem der Ignoranz ihrer restlichen Familie. Auch in den nächsten Zeilen fand Hildegard keinen Gesprächspartner. Entweder verstorben, schwer krank oder umgezogen. Selbst ihre Kinder und Enkel kamen nicht in Frage, zu beschäftigt. Klar, die jungen Leute sollte man ihr Leben leben lassen, doch nur ein paar Minuten würden Hildegard ausreichen… Bei der letzten Person angelangt seufzte Hildegard auf. Günther. Ihres Wissens gammelte er noch immer in seiner luxuriösen Mietwohnung vor sich hin und hatte außer Rückenschmerzen eigentlich nichts zu beklagen. Eigentlich. Wenn es aber nach ihm ging hatte er jeden Tag eine andere seltene Krankheit. Dieser Mensch hatte Streit mit sich und der ganzen Welt. Meckerte wegen des Lärms der nahen Straße, beschwerte sich über die Jugend oder machte die moderne Technik runter, ließ sich aber auch nichts zeigen. Irgendwann hatte seine Familie aufgegeben, Hildegards Meinung zu Recht, diesem Greis konnte keiner helfen. Manchmal war eben nicht das Umfeld schuld, sondern die Person selbst. Sie hatte keine Lust sich ihre Situation noch schlechter reden zu lassen. Trübselig packte Hildegard ihr Adressbuch wieder weg, schloss die knarrende Schublade, wandte sich wieder dem Telefon zu und legte den Hörer schweren Herzens wieder auf. Ihre Erinnerung an ihr letztes Telefonat war schon verblasst. Verblasst wie sie, eine der vielen Vergessenen in unserer Gesellschaft?

 

 




Envoyé: 17:13 Mon, 3 February 2020 par: Feltes Michèle