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Elsa Hengel

Treue Geschwisterliebe

 

  
   „Du kriegst mich nicht!“, rief Aria und lief lachend weiter. Dann drehte sie sich um, um nach ihrem kleinen Bruder Ausschau zu halten, aber sie konnte niemanden in den Weiten des Weizenfeldes erblicken. „Thaley?“, fragte sie ängstlich.
   In völliger Einsamkeit stand die neunjährige nun dort. Der Wind wehte durch ihre langen, blonden Haare und ließ sie frösteln. Um sich selbst Mut zu schenken ballte sie die Fäuste, falls Gefahren auftauchen würden. Da hörte sie ein Rascheln in ihrer Nähe. Aria bekam Panik, doch sie gab sich ganz gelassen.
   „Thaley? Bist du es?“, rief sie.
   Das Rascheln näherte sich ihr. Ängstlich sprang sie nach hinten und begann zu zittern.
   „Ist da wer?“ Sie erkannte eine kleine Gestalt zwischen den Weizenpflanzen und ihre himmelblauen Augen weiteten sich vor Schreck. „Hilfe!“
   Lachend zeigte die Gestalt ihr Gesicht. Es war ein kleiner, pummeliger Junge mit braunem Haar und kräftigen Sommersprossen. Seine Kleidung zeugte von Armut, genau wie die von Aria. Das lag daran, dass die beiden aus dem gleichen Bauernhaus stammten.
   „Feigling! Feigling! Du hattest Angst!“, spottete der Junge. „Feiges Huhn! Gib es doch zu!“
   „Thaley? Du dummer Misthaufen!“, rief Aria wütend und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war überhaupt nicht witzig!“
   „Oh doch und wie!“, kicherte ihr kleiner Bruder und hielt sich den Bauch vor Lachen. „Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen! Es war so blass wie der Mond!“
   „Das sage ich Mutter!“, rief Aria schmollend.
   Augenblicklich verschwand das Lachen auf Thaleys Gesicht. „Nein! Nicht! Das war doch nur Spaß!“
   „Oh doch!“, sagte Aria schmunzelnd, da sie Thaleys Schwachstelle entdeckt hatte. „Und auch Vater wird davon erfahren. Dann bekommst du seine Hand zu spüren!“
   Der  siebenjährige Junge schluckte. „Aria, bitte nicht“, flehte er und unterdrückte seine Tränen. „Tu das nicht. Du weißt, wie schmerzhaft das ist!“
   „Und du weißt, wie schreckhaft ich bin“, konterte sie und stapfte entschlossen Richtung Bauernhaus los.
   Thaley stellte sich ihr in den Weg, doch sie drückte ihn beiseite. Mit all seinen Kräften versuchte er, seine Schwester davon abzuhalten, nach Hause zu gehen, doch sie war aufgrund ihres höheren Alters stärker als er. Schließlich begann der Kleine zu heulen, aus Angst von dem Vater als Strafe geschlagen zu werden. Schluchzend ließ er sich auf einem großen Stein nieder. Die große Schwester gab guten Herzens nach und versprach Thaley, sie würde schweigen und nichts von dem Vorfall hier berichten. Sofort erschien wieder das freudige Grinsen auf seinem Gesicht und er sprang wie neugeboren auf.
   „Lass uns weiter Fangen spielen!“, schlug er vor und erhielt ein Nicken als Antwort. 
   Die beiden Kinder spielten wieder im endlos großen Weizenfeld, während die Sonne sich in glänzend oranges Licht getaucht dem Horizont näherte. Die Geschwister bemerkten nicht, wie die Zeit verrann und sich der Mond an seinen nächtlichen Platz im Himmel begab. So erblickten sie auch nicht die dunklen Reiter, die auf ihren finsteren Pferden durch die Weizenpflanzen trabten. Die junge Aria lief im Spiel vertieft in ihre Richtung und fiel ihnen fast in die Arme. Einer der drei düsteren Reiter packte sie am Kragen und hob sie auf sein Pferd.
   „Thaley! Hilfe!“, schrie das kleine Mädchen und schlug um sich herum, wodurch sie sich nur selber wehtat, wenn sie die robuste Rüstung des Ritters berührte.
   „Aria!“ Ihr Bruder eilte zu ihnen, doch die Pferde drehten sich um und ritten los. Der aufgewühlte Sand, in den er hineinlief, ließ ihn ordentlich husten, aber er rannte weiter. „Ariaaa!“
   Thaley folgte ihnen bis in den Wald, den tiefen dunklen Wald, fast so dunkel wie die Reiter, denen er hinterherlief. Die Entfernung zwischen ihm und seiner grossen Schwester wurde immer größer und schon bald verschluckte sie der Horizont. Er glaubte, ihre Stimme zu hören, wie sie seinen Namen rief, doch das bildete er sich wohl nur ein. Seine Füße taten weh und das Atmen wurde immer schwerer. Schließlich wurden die Schmerzen unerträglich und er ließ sich auf einen alten Baumstumpf fallen.
   Er konnte nicht fassen, dass seine Schwester entführt wurde. Warum gerade sie? Traurig blickte sich der Junge um. Da wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nicht wusste, wo im Wald er sich befand. Den Weg nach Hause zurück zu finden erschien unmöglich, da für ihn jeder Winkel, jeder Baum gleich aussah. Tränen der Verzweiflung kullerten seine roten Wangen herunter und platschten auf seine zerrissene Hose mit braunen Flicken drauf. Er befürchtete, in diesem dunklen Wald zu verhungern, nie wieder seine Eltern wiedersehen  und niemals seine Schwester retten zu können.
   „Warum weinst du, junger Kämpfer?“, fragte eine alte Stimme, die aus dem Gebüsch kam.
   Thaley sah auf und erblickte einen kleinen Mann in einem dunkelgrünen Gewand. Sein weißer Bart war so lang, dass er sogar den Waldboden berührte. Während die gebrechliche Gestalt sich dem kleinen Jungen langsam näherte, stützte sie sich auf einen braunen Gehstock.
   „Warum weinst du?“, wiederholte der Mann seine Frage.
   „I-Ich…“ Thaley war ein wenig mulmig zu Mute, als er die faltige und manchmal befleckte Haut des Alten sah. „Ich habe mich h-hier im Wald verlaufen…“
   „So.“ Der bärtige Mann blieb vor ihm stehen und legte den Kopf schief, den Kleinen genau betrachtend. „Und warum bist du in diesen Wald gegangen, junger Kämpfer?“
   „Ein paar dunkle Wesen kamen zu unserem Bauernhof und entführten meine Schwester“, erzählte Thaley leise. „Ich wollte sie retten und bin den Reitern in den Wald gefolgt, aber sie waren schneller.“ Traurig blickte er zu Boden.
   „So.“ Der Alte nickte langsam. „Junger Kämpfer, ich kenne mich in dieser Gegend gut aus, jedoch weiß ich nichts von einem Bauernhof in der Nähe“, bedauerte er. „Du musst sehr lange gelaufen sein.“
   Thaley konnte sich nicht erinnern, wie lange er den Entführern seiner Schwester gefolgt war. An der Sonne konnte er sich auch nicht orientieren, da bereits Nacht war. Und das schon sehr lange. Verzweifelt ließ er den Kopf hängen, weil er keinen Hinweis auf einen Weg nach Hause besaß.
   „Sag, junger Kämpfer, trugen die Reiter, von denen du berichtet hast, dunkle Rüstungen und waren auf schwarzen Pferden unterwegs?“, fragte der Mann.
   Thaley nickte.
   „Waren es drei von ihnen gewesen?“, fragte er weiter.
   Wieder nickte der kleine Junge.
   „So. Dann kann ich dir wenigstens sagen, wo sich deine Schwester jetzt befindet“, teilte er ihm mit.
   Das runde Gesicht sah auf. Hoffnung formte sich darauf.
   „Aber bevor ich dir mehr darüber erzähle, folge mir doch bitte zu meiner bescheidenen Hütte. Hier draußen erkältest du dich ja noch.“
   Liebevoll hielt ihm der Mann die runzelige Hand hin. Erst zögerte der kleine Bauernjunge, doch schlussendlich griff er danach und begleitete den Alten durch den dunklen Wald bis zu einem kleinen schäbigen Häuschen neben einer Lichtung. Sie betraten den weit von der Zivilisation abgelegenen Unterschlupf. Der Besitzer der Hütte kochte warmen Tee über der dortigen Feuerstelle, während er seinem Besuch einen Platz am Holztischchen anbot.
   Als beide an dem heißen Getränk schlürften, berichtete der Alte dem Jungen alles, was er über die Entführer seiner großen Schwester Aria wusste. Auf dem hohen Finsterberg stand eine mächtige Festung, die einem Mann namens Ofturo gehörte. Dieser war ein sehr böser Mensch, so erzählte er, denn er ließ seine Krieger kleine Kinder entführen, um sie anschließend zu versklaven. Das erledigte eine ganz besondere Truppe von Rittern, Die drei Schatten genannt.
   Der kleine Thaley hörte gebannt zu und stellte sich alles mit seiner kindlichen Fantasie vor. Er war fest entschlossen, seine Schwester von dort zu befreien, jedoch bedachte er nicht, dass der finstere Ofturo sie nicht einfach hergeben würde.
   „Ich werde Aria retten“, sagte er laut und ballte seine Hände zu kleinen Fäusten.
   „Dafür bist du zu schwach, junger Kämpfer“, entgegnete der Alte.
   Thaley verzog das Gesicht. „Und warum nennst du mich dann junger Kämpfer?“
   „Weil ich vorhabe, dich auszubilden.“
   „Ich heiße aber Thaley“, flüsterte der Junge und sah zum Alten hinauf. 
   Dieser lachte. „Gut, Thaley, dann nenne ich dich so. Mein Name lautet Wintonio.“
   „Ich möchte aber trotzdem von dir ausgebildet werden“, fuhr Thaley weiter und versuchte ernst und erwachsen zu wirken.
   „So, möchtest du das?“
   Der Kleine nickte eifrig. Wintonio strich ihm liebevoll durchs Haar und meinte:
   „Dann legen wir Morgen gleich los. Komm, ich zeig dir, wo du schlafen kannst.“
   „Ich will aber heute anfangen!“, quengelte Thaley und gähnte aber kurz darauf.
   „Wer ein Kämpfer sein will, muss ausgeschlafen sein“, erklärte sein Mentor und hob lehrend den Finger. „Und vergiss nicht, dass du immer auf mich hören musst.“
   Thaley schwieg und ließ die die Worte in seinem kleinen Köpfchen herumschwirren. Natürlich wollte er alles tun, um Aria zu befreien, also lautete die Schlussfolgerung seines Gehirns, tatsächlich das zu tun, was der Alte verlangte. Schließlich nickte er und begleitete Wintonio zu seinem Schlafplatz, den er für eine lange Zeit halten würde.
   In all den Jahren, die Thaley bei seinem Mentor verbrachte, wurde ihm das Handwerk des Kampfes gelehrt. Anfangs konnte sich der kurzhaarige Junge nicht vorstellen, wie ein solch alter Mann wie Wintonio kämpfen sollte. Wie gut sein Meister aber tatsächlich dieses Handwerk beherrschte, zeigte sich erst nach langer Zeit, da Thaley zuerst einen Haufen voller Übungsschritte durchgehen musste. Danach aber zahlten sich die anstrengenden Tage aus, denn Wintonios Kampfkünste wurden zu seiner größten Inspiration, als er sie das erste Mal vorgeführt bekam.
   Jeden Tag übte er eifrig, um genau so schnell und kräftig wie sein Mentor zu werden. Dazu gehörten das Stemmen von Gewichten, Langstreckenläufe, Gleichgewichtsübungen auf Baumstämmen über der Lichtung, so dass jeder Fehler ein kaltes Bad bedeutete, und schlussendlich die Kampfübungen selbst. Thaley lernte sich sowohl mit den eigenen Fäusten, wie auch mit Stock, Speer und Schwert zu verteidigen. Am Anfang hatte er einige Schwierigkeiten, doch der überragend große Wille des Jungen, seine Schwester aus den Händen Ofturos zu befreien, ließ ihn niemals aufgeben.
   Schon bald schlug Thaley so fest zu, dass Wintonio fast an seine Grenzen geriet. Aus dem kleinen, pummeligen Bauernjungen war ein erwachsener, kräftiger und flinker Krieger geworden. Selbst gebildeter als vorher war er, denn neben seinen großartigen Kampfkünsten zeichnete auch das große Wissen die Fähigkeiten seines Mentors aus. Er hatte ihm unter anderem das Schreiben, das Lesen sowie viele verschiedene Weisheiten beigebracht.
   Nach dieser langen Zeit des Lernens war aus Thaley ein völlig neuer Mensch geworden. Er war muskulös, ging alleine jagen, wusste, wie man kochte und Medizin herstellte. Außerdem lernte er, seine innere Ruhe zu finden und verbrachte so manchmal einen ganzen Tag  balancierend auf einem Baumstamm, von dem aus er in das klare blaue Wasser blicken konnte. Die Streiche Spielerei von damals war vergessen.  Dem unhöflichen Bengel hatte man Manieren beigebracht und ihm den Ernst des Lebens gezeigt. Wahrscheinlich hätte niemand gedacht, dass er sich je so erwachsen benehmen könnte.
   Es kam der Tag, an dem Thaley es schaffte, seinem Mentor das Schwert an die Gurgel zu halten. Seit diesem Moment und dem, in welchem sich beide das erste Mal getroffen hatten, waren ganze elf Jahre vergangen. Der junge Knabe war nun bereits achtzehn Jahre alt. Nach diesem Ereignis folgten einige weitere Tage, an denen klar wurde, dass er nun genauso gut oder sogar besser als sein ausgezeichneter Mentor war. Beide wussten, was dies bedeutete: Thaley war bereit dazu, sich Ofturo zu stellen.
   Wintonio riet ihm, noch eine Nacht zu schlafen, bevor die Reise beginnen sollte, doch sein Schüler bekam kein Auge zu. Die Aufregung hielt ihn zu sehr wach. Am Morgen packte er Proviant ein und überlegte, welche Waffe er mit sich nehmen würde. In all den Jahren hatte sich eine richtige Sammlung angehäuft; er selbst hatte sogar sein eigenes Glück am Amboss versucht und das ein oder andere Messer geschmiedet. Der Alte, dessen Bart in der langen Zeit nur noch mehr gewachsen war, nahm ihm die schwere Entscheidung ab, indem er ihm etwas schenkte.
   „Für dich, junger Thaley“, sagte er lächelnd und hielt ihm einen silbernen Gegenstand vor die Nase.
   Der Krieger betrachtete die von Wintonio geschmiedete Waffe genau und bemerkte, dass sie nicht nur aus hochwertigem Eisen bestand, sondern auch noch mit Runen verziert war. Mit einer sehr hohen Genauigkeit hatte sein Meister Platz für die kleinen Smaragdteilchen im Eisen geschaffen und sie dann einzeln eingesetzt. Ein liebevolleres Geschenk hätte er ihm nicht geben können.
   „Danke, verehrter Mentor“, wisperte Thaley und wischte sich eine klitzekleine Träne aus dem rechten Auge.
   „Sag Wintonio zu mir“, flüsterte dieser lachend. „Mittlerweile bist du der stärkere von uns beiden. Es gibt keinen Grund mich höher zu setzen als dich.“
   „Eigentlich schon, da ich ohne dich damals alleine im Wald verhungert wäre“, entgegnete Thaley und befestigte das Schwert an einem Halter auf seinem Rücken. 
   „So? Du bist sehr klug, deshalb bin ich mir sicher, dass du auch ohne mich noch heute am Leben wärst“, meinte Wintonio und hüpfte auf einen Baumstumpf, um seinem Schüler stolz auf die Schulter zu klopfen. „Es wird Zeit zu gehen, Thaley.“
   Der Kämpfer senkte den Kopf. „Ich bin immer noch traurig darüber, dass du mich nicht begleiten wirst“, gestand er.
   „Ich weiß. Aber diese Reise musst du alleine gehen“, erklärte er.
   Thaley nickte. „Danke für alles, Wintonio. Ich werde dir Aria vorstellen, wenn ich sie dort rausgeholt habe“, versprach er.
   Mit einer tiefen Verbeugung von beiden Seiten verabschiedeten die Freunde sich. Dann machte sich Thaley auf den Weg durch den dunklen Wald. Er rastete selten, nicht einmal bei Nacht, um schneller voranzukommen. Schließlich erreichte er den Fuß des Finsterbergs und der Weg wurde steiler und anstrengender. Doch dem ausgebildeten Krieger schadeten solche Strapazen nicht mehr viel und somit erreichte er an einem Mittag den Gipfel, auf dem die mächtige Festung Ofturos thronte.
   Zu seiner Verwunderung traf er auf keine Wachen und das große schwarze Tor ließ sich ganz leicht öffnen. Thaley trat ins Innere und staunte nicht schlecht über die Innenarchitektur. Alles war in Grau- oder Schwarztönen gefärbt und die Wände und Decken waren mit verschnörkelten Runen verziert. Er fragte sich, wie lange man wohl für diesen Bau gebraucht hatte, verschwendete aber keine Zeit damit, weiter drüber nachzudenken.
   Sein Gefühl steuerte ihn durch die unbewachten Gänge bis zu einem weiteren großen Tor, das ihn in einen riesigen Raum führte. Dort befand sich eine Treppe, an dessen Ende ein Thron stand. Auf diesem saß ein etwas älterer Mann mit lockigen schwarzen Haaren und einem Bartflaum im Gesicht. Seine ebenso schwarze Rüstung glänzte im Kerzenlicht. Es war Ofturo.
   Auf einem etwas ärmlicheren Platz saß eine Frau mit blondem Haar, das in einer komplizierten Frisur festgehalten wurde. Ihre Augen waren himmelblau und ließen Thaleys Mund offen stehen. Aria! Er staunte über die entwickelte Schönheit seiner großen Schwester. Nicht nur er hatte sich während den letzten elf Jahren verändert, auch sie war in der Zwischenzeit erwachsen geworden.
    „Sei gegrüßt, Fremder!“, rief Ofturo und hob die Hand. „Nenne uns deinen Namen!“
   „Thaley.“
   Er bemerkte, wie sich Arias Gesichtsausdruck schlagartig änderte. Sie runzelte die Stirn und versuchte in dem erwachsenen Mann mit ungewohnt langen Haaren ihren kleinen Bruder wiederzuerkennen.
   „Oh, welch seltener Name“, sagte Ofturo leicht beeindruckt. „Wer ich bin, weißt du ja sicher. Jeder weiß das.“ Eingebildet reckte er die Nase nach oben.
   Während der Vollführung dieser Geste blickte Thaley kurz in die Richtung seiner Schwester, die ihn ebenfalls ansah. In ihrem Blick erkannte er, wie sehr sie litt. Sie versuchte ihm mittzuteilen, wie schlecht es ihr an diesem Ort während diesen zahlreichen Jahren ergangen war, obwohl sie in einem wunderschönen Gewand an der Seite eines reichen Mannes war.
   „Nun, erzählst du uns, was du hier willst?“, fragte Ofturo.
   Thaley räusperte sich. „Ich bin hier, um meine Schwester Aria abzuholen“, erklärte er ernst.
   Ofturo hob die Augenbrauen. „Aria? Meine Gemahlin?“ Bei diesem Wort zuckte Thaley zusammen. „Oh nein, das kannst du schnellstens vergessen. Hau ab, wenn es nur das ist, was du willst.“ Er wedelte mit der Hand, als könnte er den ungebetenen Gast damit wegwedeln.
   „Es ist nur das, was ich will, doch ich werde nicht gehen“, rief Thaley standhaft und blickte Aria an. „Nicht ohne sie. Lass meine Schwester mit mir gehen und ich verschone dich.“
   „Wie bitte?“, lachte Ofturo und drehte sich zu seiner Gemahlin um. „Der Witzbold will, dass du mit ihm gehst, ist das nicht komisch?“
   „Nein“, erwiderte Aria und fasste all ihren Mut zusammen, um endlich die Wahrheit sagen zu können. „Das ist überhaupt nicht komisch, Ofturo.“ Sie stand auf. „Ich werde meinen Bruder nämlich begleiten!“
   „Ich hätte den Mistkerl damals bei deiner Entführung töten sollen!“, rief ihr Gemahl und sprang ebenfalls auf. „Dafür wirst du büßen!“ Mit voller Kraft verpasste er Aria einen Schlag auf die Wange.
   Schreiend brach die Frau zusammen.
   „Aria!“, schrie Thaley wutentbrannt und rannte die Treppe hoch.
   Dort zog er Wintonios Geschenk hervor und forderte Ofturo zum Duell heraus. Bösartig lachend nahm dieser sein eigenes Schwert in die Hand und fuchtelte damit herum. Der Kampf konnte beginnen.
   Thaley holte aus und schlug zu, doch Ofturo wehrte ab. Daraufhin startete er selbst einen Angriff und scheiterte ebenso. Hartnäckig kämpfte Thaley weiter und versuchte schneller als sein Gegner zu sein. So streifte er ihn bald darauf an der Schulter, was dem jedoch nicht viel ausmachte. Dessen nächster Angriff war so kräftig, dass Thaley ihn nicht blocken konnte, sondern mit einem Salto nach hinten ausweichen musste. Ofturo war sichtlich begeistert von dem Kunststück, machte es ihm aber wie ein Angeber direkt nach.
   „Niemand besiegt den mächtigen Ofturo“, lachte er siegessicher.
   Mit einem lauten Kampfschrei stürmte Thaley auf ihn los und schlug gegen sein Schwert. Während der Gemahl seiner Schwester damit beschäftigt war, diesen Angriff sauber abzublocken, stieß der Bruder mit seinem linken Bein gegen das Schienbein des anderen. Der stoppte seinen Block für einen Moment und machte Thaley freie Bahn. Erst schnitt er ihm den rechten Arm samt Schwert ab, dann stach er ihm kurz ins Bein, damit er auf die Knie fiel.
   „Es hat sich gezeigt, wer der bessere von uns beiden ist“, sprach er mit fürchterlichem Ernst und blickte Ofturo tief in die Augen; Furcht war in ihnen zu erkennen. „Einen solch schlechten Menschen wie dich braucht diese Welt sicher nicht mehr.“
   Nach diesen Worten schlug er ihm mit einer kräftigen Bewegung den Schädel ab. Dieser rollte kurz darauf die Treppe runter und besudelte den Teppich mit roten Flecken. Der leblose Körper sank zu Boden und hinterließ ebenfalls eine rote Blutlache.
   „Mein Retter! Thaley!“, rief Aria und umarmte ihren Bruder. Sie weinte vor Glück. „Danke, oh, wie soll ich dir das je zurückgeben!“
   „Das musst du nicht“, flüsterte ihr Bruder sanft und blickte in ihre blauen Augen. „Verlasse nur mit mir die düstere Festung und begleite mich in den Wald, denn dort muss ich dir einen guten Freund vorstellen, ohne den deine Rettung niemals möglich gewesen wäre.“
   „Und Vater und Mutter? Wissen sie, dass du hier bist?“, fragte Aria hoffnungsvoll.
   Thaley blickte zu Boden. „Nachdem ich dir gefolgt war, verlief ich mich im Wald. Nach einigen Jahren versuchte ich, unseren Bauernhof wieder zu finden, doch das Haus war samt den Feldern komplett abgebrannt und von unseren Eltern fehlte jegliche Spur“, erzählte er.
   „Oh“, erwiderte sie traurig und beide schwiegen für eine Minute. Dann aber sprach sie weiter: „Ich weiß, wo sich noch weitere Sklaven befinden. Lass sie uns schnell befreien!“
   „Gute Idee“, entgegnete er. „Für diesen hochnäsigen Ofturo zu dienen musste wirklich grauenvoll sein.“
   „Ja“, bestätigte Aria und nahm ihn bei der Hand. „Ich danke dir von ganzem Herzen, Thaley. Du bist so erwachsen geworden in der Zeit.“
   Er lachte. „Du aber auch.“
   „Aber sieh dich nur an!“ Sie strahlte. „So viele Muskeln und so lange Haare… Ich habe meinen niedlichen kleinen Bruder ja fast nicht mehr wiedererkannt!“
 




Envoyé: 19:05 Sun, 5 April 2015 par: Elsa Hengel