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Reuland Carmen

Zweitausendvierhundertsechsundneunzig Brücken



Venedig, die Stadt der Brücken. Furchtbar romantisch und unglaublich schön. Eine historische Stadt, wie es sie selten noch einmal gibt. Ich seufze. Es kommt doch schon einer Beleidigung gleich, dass Venedig die Stadt der vielen Brücken genannt wird und noch nicht mal in der Top 20 der Städte mit den meisten Brücken ist. Sie hat nur vielleicht schönere. Ich muss wieder seufzen. Als wolle ich eine neue Seufzerbrücke schaffen. Das bringt mich zum Lächeln.

Mit neuem Elan stoße ich mich am Geländer am und werfe einen letzten Blick ins Wasser unter mir. Die wundervolle Alster. Doch irgendwie reicht sie mir im Moment nicht. Ich beschließe an den Hafen zu fahren und die großen Dampfer zu betrachten. Wie sie an- und ablegen oder mit viel Krach in das Hafenbecken einfahren. Dabei das salzige nach Fisch riechende Meerwasser einatmen und einfach mal abschalten.

Auf dem Weg zur U-Bahn läuft mir eine Drag-Queen über den Weg. Ich wohne schon mein Leben lang in Hamburg, doch immer wieder schaffe ich es nicht, den Blick abzuwenden, wenn einer der Paradiesvögel an mir vorbeischlendert. Ich weiß, sie mögen es betrachtet zu werden, doch sie wollen nicht wie die Tiere im Zoo sein. Begafft werden und ständig einem Finger entgegen blicken, der auf sie zeigt.

Zweitausendvierhundertsechsundneunzig.

Das sagt die Statistik. Venedig hat nur vierhundertsechsundzwanzig. Bedeutend weniger. Am Bahnhof Altona steige ich aus und gehe zu Fuß in die Altstadt. Ich mag die Kanäle und die Backsteinfassaden der alten Lagerhäuser. Vor mir sehe ich wieder eine Brücke.

Irgendwann, dann schnappe ich mir einen Stadtplan und zähle alle Brücken selber nach. Und wenn ich dann das Geld dazu habe, fliege ich nach Venedig und zähle dort alle Brücken. Und dann kommt es nicht mehr auf die Zahlen an, sondern auf die Schönheit und Geschichte der Stadt.

Doch erst muss ich wieder zurück. Pia mag es nicht, wenn ich zu lange weg bleibe. Sie sagt es zwar nie, aber ich kann mir es denken. Es macht sie sicherlich auch irre, dass ich ihr Zimmer mit Brücken vollgepflastert habe. Dr. Kastenhofer sagt es wäre einerseits verständlich. Auf der anderen Seite stehen meine Eltern und die halten es für krank. Deshalb auf Dr. Kastenhofer. Aber auch er kann nichts tun. Erst wenn Pia wieder aufwacht, dann nehme ich alle Brücken wieder ab und dann frage ich sie, über welche sie gegangen ist. Welche von all den Brücken ihr am besten gefallen hat.

Und wenn Pia wieder wach ist, dann werden wir nie wieder von einer Brücke in die Alster springen. Das schwöre ich. All diese Hektik, Panik, nie wieder haben, einfach nur unsere Ruhe. Und unsere Mutproben werden dann auch ruhiger. Wobei, weshalb braucht man mit 17 noch Mutproben?

Bei Pia stellt sich dann etwas Entscheidendes heraus: Ich werde nicht mehr von einer Brücke springen. Sie sicher auch nicht mehr. Ich denke, ich muss gerade an Venedig gedacht haben oder ich war gerade an der anderen Wasserseite der Musicalhalle von König der Löwen, als Pias Eltern entschieden die Maschinen auszuschalten.




Envoyé: 08:19 Fri, 3 April 2015 par: Reuland Carmen