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Reuland Carmen

Wasserstoffblond



Kennt ihr diese Geschichten, in denen zu Anfang alles perfekt scheint und dann, BÄÄMM, kommt irgendetwas berauschend anders, als man es sich je erwartet hat? Dann gibt es Drama und vor allem vieel "Probleme". Ich persönlich kann solche 08/15 Bücher überhaupt nicht ausstehen. Ist wohl Schicksal, dass mein Leben für genau so ein Buch die ideale Vorlage wäre.

1

Es ist noch ganz früh am Morgen, die Luft ist grau und kühl und die Vögel schlafen noch tief in ihr Federkleid gekuschelt in den Hecken und Büschen. Ich sitze auf meinem Bett und schaue zum Fenster hinaus. Auf dem kleinen Stück Wiese vor der Plattenbauwohnung liegt wieder Georg. Georg ist unser Viertelpenner. So nennen wir ihn seit der Grundschule. Er schläft oft in den Vorgärten oder den Eingängen von den Mehrfamilienhäusern und schlägt die Zeit tot, indem er die Wiesen in denen er schläft, von leeren Bierflaschen und anderem Abfall sauber hält. Irgendwie finde ich es mittlerweile mehr als nur respektlos gerade ihn als den Viertelpenner zu bezeichnen. Er mag zwar obdachlos sein, aber er ist der einzige, dem etwas an dem Ort hier liegt und nicht zulassen will, dass er noch weiter herunterkommt. Vielleicht nur weil es für ihn ein Zuhause ist. Er jedenfalls putzt und sammelt als einziger die leeren Dosen hinter trinkenden Teenagern ein. Nach Silvester ist er der einzige, der sich die Mühe macht die Kartonhüllen der Böller aufzusammeln und wegzuwerfen. Wie jeden Morgen um diese Zeit schaut er zu meinem Fenster hoch und ich winke ihm zu. Noch eine Viertelstunde, dann muss ich zum Bus.

Ich ziehe mich nach einer kurzen Katzenwäsche an und gehe in die Küche. Dort auf dem kleinen Tisch liegt mein Pausenbrot, fein säuberlich in Brotpapier eingepackt. Meine Mutter hat etwas gekleckert und es ist Butter an der Seite des Brotpapiers hängen geblieben. Ein kleiner Fettfleck auszubreiten beginnt sich um die Stelle auf dem dünnen Papier auszubreiten. Ich schnappe mir das Brot und meine Schultasche aus der Diele, gemeinsam mit den Schlüsseln und der Mülltüte, dann verlasse ich die Wohnung und versuche dabei die Tür so leise wie nur irgend möglich hinter mir zu schließen.

Unten angekommen wartet Georg bereits auf mich. "Hey Kleines", begrüßt er mich wie immer, "was hat dir Mami denn heute mitgegeben?" Er beginnt zu lachen und auch ich muss lächeln. "Wir machen einen Deal", schlage ich vor. "Du bekommst mein Pausenbrot, dafür trägst du die Mülltüte zu den Tonnen. Ich muss auf den Bus." Er willigt ein und schaut begierig zwischen die beiden Brotscheiben, nachdem er die Stulle fein säuberlich vom Papier befreit hat. Scheibenkäse, den mag ich eh nicht. Ich winke ihm nochmal zum Abschied und gehe zum Häuserblock 3. Hier wohnt Matze; bei ihm vor der Tür treffen wir uns immer auf dem Weg zum Bus.

Doch Matze scheint nicht zu Hause zu sein, jedenfalls wartet er nicht wie gewohnt auf mich und auch auf das Klingeln reagiert keiner. Vielleicht schläft er auch nur seinen Rausch aus. Immerhin, er kann es sich erlauben, morgens vollkommen verkatert und miefend aufzuwachen. Er ist so ziemlich der einzige hier in der Gegend, der eine Zukunft zu haben scheint. Er geht zur Uni, erstes Semester BWL und kennen gelernt haben wir uns eigentlich nur durch Zufall. Beziehungsweise durch Georg. Denn scheinbar bin ich nicht die einzige, die ihm regelmäßig Brote und auch ab und an eine Flasche Bier gibt. Wobei er den Alkohol wirklich größtenteils nur von Matze erhält.

Ich blicke auf meine Uhr. 7:43. Das kann ich vergessen, selbst wenn ich rennen würde, würde ich den Bus nur noch wegfahren sehen können. Ich schlendere also langsam in Richtung Kiosk; vielleicht kann ich Rosa eine Zeitung abluchsen und mir damit die Zeit totschlagen, bevor der nächste Bus kommt. Oder aber ich bleibe einfach ganz hier. Die Lehrer mögen es nicht, wenn man mal zu spät ist, da ist nicht zu erscheinen wohl die bessere Möglichkeit. Wenn Matze doch nur da wäre, dann wäre es sicherlich nicht ganz so langweilig.

Ich knüpfe Rosa also eine Bild ab und setze mich damit auf die Bank gegenüber Matzes Wohnblock. Ich habe ja Zeit, also, was soll's. Ich bin genau am Sportteil angekommen und hatte schon vor den großzügig zu überspringen, da öffnet sich die Balkontür zu Matzes Wohnung und er tritt in Boxershorts raus, um eine zu rauchen. Ich verstecke mich hinter der Zeitung und mache mich klein. Es ist irgendwie lustig ihn zu beobachten, wenn er sich so unbeobachtet und sichtlich frei fühlt. Doch dann kommt eine junge Frau, ungefähr in seinem Alter - 22 vielleicht? - durch die Tür zu ihm und stellt sich in ihrem viel zu kurzen T-Shirt, das absolut nichts verdeckt, hinter ihn und küsst ihm den Nacken. Er reagiert nicht und starrt einfach stur in die Ferne.

Ich frage mich wer sie ist. Normalerweise hat Matze keinen Frauenbesuch, er hat nicht einmal viele weibliche Freunde, mit denen er zu tun hat. Das hat mich eh immer gewundert, er hat nämlich ein äußerst ansehnliches Äußeres. Er ist groß, hat breite Schultern und ein irgendwie aristokratisch fein wirkendes Gesicht. Theoretisch müssten ihm die Mädels die Bude einrennen, doch sein ganzes Interesse galt immer nur der Uni, seinem Studienplan, den allabendlichen Zügen durch kleine Bars und seiner Spielekonsole. Er hat nie irgendwelchen Mädels hinterhergesehen oder gar -gepfiffen. Ich habe irgendwie immer geglaubt, wenn er nicht an Mädchen interessiert ist, dann muss er wohl schwul sein. Anscheinend nicht, anscheinend hat er doch Interesse an Mädchen.

Matzes Besuch geht wieder nach drinnen und er schaut nach unten, genau zu meiner Bank. Ich halte mir schnell die Zeitung vors Gesicht, doch ich weiß, dass es nichts nützt. Ich höre ihn vom Balkon aus rufen: "Hast du keine Schule heute?" Ich schaue hinter der Zeitung hervor, schüttele den Kopf und versuche dabei betont unschuldig auszusehen. Er zieht nur eine Grimasse und geht nach drinnen, die Tür lässt er offen. Nur wenige Minuten später steht sein besuch gänzlich bekleidet im Eingang und schaut mich wütend an. Offensichtlich hat sie mitbekommen, dass er mit mir geredet hat. Ich falte die Zeitung, stecke sie in die Tasche und stehe auf. Ich gehe langsam in Richtung des Gebäudes und versuche diese dumme Trine zu ignorieren, die mir ein "Bitch" zuraunt. Was kann ich denn dafür, dass Matze sie rausgeschmissen hat?

Ich steige die Treppen hoch zu Matzes Wohnung und stoße die angelehnte Tür vorsichtig auf. "Wegen mir hättest du sie aber nicht wegschicken müssen." Ich stehe zögern in der Diele, während er im Bad ist und sich die Zähne putzt. Betreten schaue ich auf den Boden. Ich weiß genau, was jetzt kommen wird. Er wird mich sicherlich bis hin zur Schule begleiten und darauf achten, dass ich auch wirklich in meine Klasse gehe. Letztes Mal hat er mich sogar im Sekretariat abgeliefert und mir gleich eine krakelige Entschuldigung von meiner "Mutter" mitgegeben. Ich will eigentlich nicht, dass er das macht, immerhin ist er nicht mein Bruder. Dabei könnten wir, rein optisch, wirklich Geschwister sein. Wir haben beide ähnliche Gesichtszüge, eine ähnliche Statur und vor allem die gleichen Wasserstoffblonden Haare, die uns auf den ersten Blick wie ein Geschwisterpaar wirken lassen. Allerdings haben wir bis auf diese Attribute einfach nichts gemeinsam.

Matze kommt zu mir in die Diele, schnappt sich seine Jacke und schlüpft in seine ausgelatschten Sneakers. Ich hatte ihn immer eher für den Wildleder-Typen gehalten, aber offensichtlich liebt er Turnschuhe zu einer gebügelten Jeans mit Hemd und Sakko. „Ja, ich hätte sie nicht wegen dir raus schmeißen müssen, aber ich wollte die Peinlichkeit umgehen, dass ich sie mit ihrem Namen ansprechen müsste – den ich wie du dir denken kannst nämlich nicht mehr weiß. Ich glaube die klettet, das Risiko ist es mir nicht wert.“ Matze lächelt mich etwas verlegen an und deutet dann auf die Tür. "Komm, wir gehen in den Park. Ich habe heute keine Lust auf Vorlesungen. Oder diese dumme Trine aus der Uni, ich glaube von da kenne ich sie."

Wir schlendern also gemeinsam bis zur Bushaltestelle und müssen nicht mal lange warten bis der nächste Bus ins Zentrum fährt. Dort steigen wir aus, kaufen uns unterwegs einen Coffe to go - wobei es für mich eher ein Kirsch-Banane-Smoothie ist und für ihn einen Moccachino - und gehen in den kleinen Park hinter dem Museumsgebäude. Dort lassen wir uns auf unseren Stammplatz unter der alten und schiefen Kiefer fallen und schauen von dort den einzelnen Menschen zu, wie sie entweder joggen und ihren Hund ausführen oder mit dem Kinderwagen spazieren fahren.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch glücklicherweise übernimmt Matze das für mich. "Also, wenn das wirklich das war, wovon alle schwärmen, dann hat die Menschheit einen Knall." Ich muss lachen. Er ist einfach nicht die Art Mensch, die vor sich hin sinniert und nach dem Sinn des Lebens sucht, dafür ist er viel zu spontan. "Wo hast du die denn aufgegabelt?", frage ich. Matze zuckt mit den Schultern. "Irgend so 'ne Studentenbar. War kaum was los und sie hat sich an mich geschmissen, da hatte ich noch nicht mal die Karte in der Hand um was zu bestellen. Irgendwie hat es sich ergeben. Ich meine, sie sah ja nicht schlecht aus." Matze schaut mich ratlos an. Ich lache. "Matze, du bist viel zu romantisch veranlagt und verkrampft darauf die richtige zu finden, so geht das doch nicht." Er schüttelt bloß den Kopf und sagt nichts weiter dazu. Vielleicht weil er einsieht, dass ich Recht habe. Wobei das mir ein Wiederspruch an sich scheint. Er ist hoffnungslos romantisch obwohl er ganz genau weiß, dass er doch immer nur die mit nach Hause nimmt, die sich nach nur einem Bier billig von ihm davon schleppen lassen.

Ich trinke meinen Smoothie aus und werfe den Becher in die nächste Mülltonne. Dann schnappe ich mir meine Schultasche und sehe Matze erwartungsvoll an. "Ich habe jetzt Kunst, das will ich nicht verpassen. Wir arbeiten nämlich in Pappe. Vielleicht baue ich Georg ein Haus." Mit den Worten verabschiede ich mich und trotte langsam in Richtung Schule. Eigentlich stimmt das nicht. Wir haben erst am Nachmittag Kunst und auch nur Theorie. Aber Matze ist mir wieder zu seltsam, dass ich seine Anwesenheit einfach nicht ertragen kann. Ich könnte den Fehler auch bei mir suchen, aber ich denke er hatte für heute genug komische Erlebnisse, dass er der Seltsame sein darf.

2

Ich sitze im Bus und blicke auf die Plakatscheibe vor mir. Rauchen ist im Bus nicht erlaubt. Alkohol trinken auch nicht. Und Hunde müssen angeleint werden. Immer und immer wieder lese ich das Plakat – sofern man die kleinen Comicbildchen lesen kann – und falle dabei immer wieder zurück auf die Mahnungsschriften für Schwarzfahrer. Zwei Haltestellen vor der Schule steige ich aus. Eigentlich will ich da ja nicht hin. Ich trotte langsam in Richtung des Schulgebäudes und suche krampfhaft nach einem Grund doch nicht gehen zu müssen. Immerhin ist der Weg bis dorthin lang genug und ich bin kreativ, ich müsste es also schaffen mir noch vor dem Schultor eine Ausrede überlegt zu haben.

Ich stehe an der Ecke zum Häuserblock, in dem sich die Schule befindet. Wenn ich jetzt nach links abbiegen würde, dann könnte ich zum Bäcker gehen. Ich krame in meiner Tasche und muss missmutig feststellen, dass ich nur noch 20 Cent von meinem heutigen Essensgeld übrig habe. Schließlich habe ich ja vorhin diesen bescheuerten Smoothie mit Matze trinken müssen. Wütend schnaube ich und gehe doch in die Schule. Was bleibt mir auch anderes übrig, wenn ich mir Schwänzen nicht leisten kann.

Mein Geographielehrer, Herr Weber, nimmt meine Ausrede ich hätte verschlafen widerstandslos hin und bittet mich dann auch gleich den für heute zu lesenden Text zusammenzufassen. Ich zucke nur mit den Schultern. "Ich hatte keine Zeit dafür." Herr Weber schließt die Augen und atmet einmal tief durch, sagt aber nichts weiter dazu außer "Setz' dich einfach hin und stör' nicht." Ich setze mich in die vorletzte Reihe und spüre alsbald eine Papierkugel meinen Kopf treffen. Die letzte Reihe beginnt zu kichern und tuscheln, doch ich ignoriere sie gekonnt. Ich brauch mich wirklich nicht umdrehen um zu sehen, von wem sie ist, ich kann es mir bei der spärlichen Besetzung in der letzten Reihe wirklich denken.

In der Pause gehe ich auf direktem Weg in Richtung der Bibliothek. Dort verschanze ich mich in der hintersten Ecke der historischen Abteilung und krame nach dem kleinen Büchlein ganz unten in meiner Tasche. Auf der ersten Seite mache ich einen Strich hinter "Papiergeschosse". Wie gewohnt ist es die unangefochtene Nummer 1 mit rund dreißig Einträgen für diesen Monat. Ich lasse den Kopf in meine Hände fallen und will nichts anderes tun als heulen. Wann hat das nur alles begonnen? Und wann hat es begonnen mich derart zu stören und fertig zu machen?

Ich nehme einen Stift aus meinem Mäppchen und beginne zu schreiben.

Rot und blau und grün und gelb.

Rot und schwarz und pink und weiß.

Adieu

Wütend knalle ich den Stift auf das Buch. Das hat doch keinen Sinn. Würden sich meine kranken Wünsche bewahrheiten, dann würde dieses kleine Was-auch-immer wenigstens zutreffen. Aber nein, mir schmerzt die Seele und nicht der Körper. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die körperliche Pein leichter zu ertragen wäre als eine fortgreifende psychische Folter. Ob ich sie wohl fragen sollte, sich endlich der körperlichen Schikane zuzuwenden? Doch genau in dem Moment klingelt es zum Ende der Pause und ich würde am liebsten einfach nur hier sitzen bleiben und nichts tun. Ich muss an einen Comic denken und frage mich, ob ich wohl bei lebendigem Leibe vermodern könnte, wenn ich einfach gar nichts tun würde. Und gleichzeitig stellt sich mir die Frage, was wohl mit mir passieren würde, wenn ich einfach jetzt in diesem Moment aufhören würde zu atmen. Vor allem, wer nach mir suchen würde. Matze weiß zwar dass ich in der Schule bin, aber er weiß auch dass mich dort nichts länger als nötig hält. Er würde also sicherlich nicht hier nach mir suchen. Und meine Mutter würde es eine Weile nicht mal merken. Den anderen wäre es sicherlich egal.

Ich raffe meine Sachen zusammen und gehe in den nächsten Unterricht, wohl darauf bedacht mit dem Lehrer gemeinsam dort aufzukreuzen. So entgehen mir wenigstens die dummen Bemerkungen der anderen vor dem Unterricht. Während der Stunde sind die dummen Kommentare nämlich wesentlich leiser und kürzer, damit auch bloß niemand was mitbekommt. Als würden sie sich dafür schämen, was sie über mich lästern und erfinden. Als wollen sie nicht, dass jemand außer mir etwas von ihrem Gespräch mitbekommt - und schon gar nicht der Lehrer. Die Kommentare kann man am besten ignorieren. Ich versuche den Tag so gut es geht zu überstehen und freue mich kurz vor dem Klingeln zur Mittagspause sogar fast schon auf die danach anstehende Kunststunde. Da ist es immer am ruhigsten, weil die meisten dann mit sich selbst und der Rettung ihrer schlechten Note beschäftigt sind.

In der Mittagspause schnappe ich mir in der Kantine einen Apfel aus der Schale mit dem Gratisobst und gehe nach ganz oben unter das Dach der Schule. Eigentlich ist es nur eine Weiterführung der Treppe, die an einer Tür endet, die hinaus aufs Dach führt. Und genau da, wo niemand mich finden und stören kann, verbringe ich meine Mittagspause. Ich schnappe mir wieder mein kleines Büchlein und beginne zu zeichnen. Uhren, am liebsten Taschenuhren, im Stil wie dem von Dalì. Als würde die Zeit dahinfließen. Dabei habe ich keine Angst vorm Verfall der Zeit, sondern vor ihrer Endlosigkeit.

In Gedanken versuche ich zu rekapitulieren, was eigentlich dazu geführt hat, dass ich nun in der Situation bin, wie sie eben ist. Nie hatte jemand ein Problem mit mir. Ich habe in der Schule mitgearbeitet, wenn es mich interessierte und schrieb mittelmäßig bis gute Noten. In Bezug auf die schulische Leistung war ich nie jemand mit vielen Neidern. Mein soziales Umfeld war auch egal, ich bin nicht die einzige, die nur noch eine Mutter hat und auch nicht die einzige mit Problemen in der Familie, selbst wenn sie sich bei uns hauptsächlich aus finanziellen Sorgen und Schnaps zusammensetzen. Und vor allem hatte ich nie Streit mit jemandem. Ich war nie beliebt in dem Sinne, aber man konnte mich gut gebrauchen, ich hatte einige Freunde und nach der Schule haben wir ab und an auch mal etwas zusammen unternommen. Und dennoch, irgendetwas muss sich verändert haben. Doch die einzige Veränderung ist lediglich Kira, die Neue.

Aber das scheint mir utopisch. Kira ist nett, Kira hat oft mit mir geredet und war auch öfters mal in der Clique mit dabei, wenn wir ins Kino oder Eiscafé gegangen sind. Und vor allem ist sie die letzte, die so etwas anzetteln würde, da es ihr nicht wesentlich anders geht als anderen von uns. Und dennoch, seit sie da ist, spinnen alle und machen mir die Hölle heiß. Ich versuche zu verstehen und fühle mich machtlos und schwach. Ich weiß, dass ich Matze eigentlich schon längst davon erzählen hätte können, immerhin ist er mein bester Kumpel und hilft mir immer. Aber ich schäme mich zu sehr zugeben zu müssen, dass irgendetwas nicht stimmt und ich nicht weiß, woran es liegt.

Ich mache mich langsam und weiter vor mich hin grübelnd auf den Weg in Richtung des Kunstsaales. Ich bin gerade im zweiten Stock angekommen, als ich höre wie mir bekannte Stimmen im Treppenhaus hoch klingen. Ich laufe schnell noch die letzten Stufen in den ersten Stock runter, komme leider gleichzeitig mit den anderen an. Ich versuche sie zu ignorieren, doch es ist schwer jemanden nicht zu beachten, der neben einem her geht und beginnt dumme Sprüche zu klopfen. "Na, da ist unser Assi-Kind ja. Warst ja nicht in der Kantine. Habt ihr etwa kein Geld, um etwas zum Essen zu kaufen?" Sie lachen wie bescheuert. "Na, auch besser so, so fett wie sie ist. Kleines rundes Fettkügelchen." Ich versuche nicht hin zu hören, doch es ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Als wäre in meinem Kopf eine große Grotte klingen die Worte nach. Alles schallt und schreit laut in mir, was sie zu mir sagen. Und auch wenn ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, so weiß ich doch, dass es schmerzt und sie genau das erreichen, was sie bezwecken wollen.

Im Kunstunterricht, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, hatten ausnahmsweise mal ein paar Zeit mir den Kleber auf die Pappe zu kippen und somit mein Werk zu ruinieren. Wobei das kleine Papphaus für Georg wirklich keine Kunst an sich wäre. Aber es geht doch um das Prinzip. Doch enttäuscht bin ich nicht, irgendwie habe ich es ja sogar erwartet. Ich gehe nach oben in den Klassenraum für Medien, mein Wahlpflichtfach. Schön wäre es, wenigstens da alleine zu sein, aber leider ist dem nicht so. Torben steht schon oben an der Treppe und wartet auch mich.  „Hey, Spinner, fang auf“. Er wirft mir seinen Schulranzen runter und lacht wie dämlich.

Ich versuche der Tasche auszuweichen, doch sie kracht mir in die Beine und ich falle, in dem Versuch doch noch zur Seite zu springen, die Treppe hinunter. Ich schlittere über die Stufen und versuche mich am Geländer festzuhalten, doch ich remple fast unten angekommen jemanden an, der mir mit einem „Hey!“ einen kräftigen Stoß in den Rücken gibt. Mein Gleichgewicht ist komplett im Eimer und ich merke wie ich in der Drehung das Geländer loslasse und kopfüber den nächsten Treppenabsatz runter purzle. Dann tut es weh, so schrecklich weh und irgendwie ist dann nichts mehr.

3

Ich schwebe, ich tauche, ich dehne mich im Raum und der Umgebung aus. Wie in Watte gepackt liege ich im warmen Wasser. Seich ist es und irgendwie zäh, klebrig. Neben mir raschelt es und ich fühle wie leichte Federn sich auf mich legen. Wie Engelsküsse. Ich will lachen, doch ich schaffe lediglich ein Husten. Ich schrecke auf, wie aus einem schlimmen Albtraum. Um mich herum ist es hell, weiß, steril. Ich weiß nicht wo ich bin und was ich hier tue, wie ich hier her kam. Neben dem Bett, auf dem ich liege, steht ein klobiger Sessel. In ihm sitzt Matze und schaut mich mit traurigen Augen an. "Was tust du hier?" Matze beginnt zu langsam zu lächeln, doch ich sehe, dass es ihn etwas quält. "Du weißt nicht wo du bist - und streite es nicht ab, ich weiß wie du aussiehst, wenn du dich verloren fühlst - und willst wissen warum ich hier bin ... Du hast dir den Kopf als doch nicht so stark gestoßen wie anfangs angenommen. Was ist überhaupt passiert?"

Ich wende den Kopf ab, was mir ein scharfes Ziehen im Nacken beschert. Matze seufzt. "Die Schule hat bei dir zu Hause angerufen. Ich ... habe dich gesucht, ich wusste nicht wo du warst. Deine Mutter hat mir Bescheid gegeben, sie war nicht gut genug um selbst her zu kommen. Da dachte ich mir, ich tu‘ es an ihrer Stelle. Die Schule meinte es sei ein Unfall gewesen, du wärst in der Treppe gestürzt." Matze nimmt meine Hand und drückt sie. Ich weigere mich weiterhin ihn anzusehen und starre zur Tür des Krankenzimmers. "Was war denn so schlimm, dass ich hier her musste?" Matze schweigt, das kann er gut. Das kann er eigentlich so gut, dass ich meist nach nur kürzester Zeit nachgebe. Irgendwann werde ich sauer und drehe mich zu ihm um, will ihn anfahren, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Matze hat Tränen in den Augen stehen. Als seien seine Augenränder verschwommen liegt auf den unteren Lidern ein dicker Wasserfilm, der droht über den Rand zu brechen. Ich will ihn nicht weinen sehen müssen. Ihn weinen zu sehen ist irgendwie schlimmer, als wenn ich meinen Eltern dabei zusehen müsste. Als hätte ich das nicht eh schon getan – zumindest bei meiner Mutter.

Er macht mir Angst und das will ich nicht. "Spuck es aus, ich liege schon", versuche ich zu spotten, doch die drückende Stimmung sowie Matzes ernster Gesichtsausdruck bleiben. "Das sollte dir doch vielleicht besser der Arzt sagen." Matze weicht mir aus und mich überkommt es wissen zu müssen, was los ist, was passiert war. Ich will wissen was mit mir ist. Wie auf Kommando, die Szene gibt mir das beklemmende Gefühl in irgendeiner schlechten Krankenhaussoap gefangen zu sein, kommt ein Arzt mit Krankenschwester im Schlepptau ins Zimmer. Matze erhebt sich und geht zur Tür. Bevor er verschwindet meint er nur trocken "Ich komme nach der Visite wieder, ich warte vor der Tür."

Eigentlich will ich, dass Matze hier bleibt. Ich weiß nicht, was ich hier soll, was ich sagen soll, was man von mir verlangt, und denke mich sicherer zu fühlen wenn ich wenigstens ein bekanntes Gesicht an meiner Seite habe. Doch ich schaffe es nicht etwas zu sagen, bevor er zur Tür raus ist und sie hinter sich verschlossen hat. Der Arzt stellt sich ans Fußende meines Bettes und schaut auf das Klemmbrett, das er mit sich führt. "Sie sind seit einer Woche hier, dies ist das erste Mal, dass sie scheinbar bewusst wach sind. Wie fühlen Sie sich?" Ich schnaube. "Eigentlich ganz gut, wenn ich mal wüsste worum es hier geht." Ich versuche ungeduldig die Arme vor der Brust zu verschränken, doch irgendwie klappt es nicht. Nicht schlimm, ich weiß Leute mit meinem Blick zu durchdringen. Dabei fühle ich mich gerade gar nicht nach Superman-Röntgen-Blick. Eine Woche schon?

Der Arzt schaut mich nur stumm an, während die Schwester beginnt um mich herum zu wuseln, die Decke aufzuschlagen und mich aufzurichten. Der Arzt beginnt mir mit scheinbar gezwungen ruhiger Stimme zu erklären, was vorgefallen ist. "Sie sind hier eingeliefert worden mit dem Vermerk, dass Sie in den Treppen gestürzt sind. Können Sie sich daran erinnern?" - "Ja -", ich ziehe das Wort in die Länge. "Gestürzt." Der Arzt schaut genervt und lässt sich auf den Sessel, auf dem zuvor Matze saß, fallen. Ich frage mich, ob er als Arzt überhaupt so ein Verhalten zutage legen darf, jedenfalls sieht das alles andere als seriös aus. Ich habe mir nie viel aus Krankenhausserien gemacht, vielleicht ist es mittlerweile üblich mit dem Patienten auf Augenhöhe zu sprechen? "Was wollen Sie damit andeuten?" Ich zucke mit den Achseln. "Nichts. Wie würden Sie es denn verstehen?". Ich weiß, dass er das als Provokation nehmen könnte, aber es ist mir egal. Ich will keine Spielchen, ich will Antworten und wie es aussieht, bekomme ich die eh nicht so bald. "Gut, das klären wir später. Sie sind die Treppen runter gefallen und haben sich den Kopf gestoßen. Dass Sie anscheinend keine Schmerzen spüren hat damit zu tun, dass die Schmerzmitteldosierung von heute Morgen noch wirkt. Sollte sie vor heute Abend sechs Uhr ablaufen, rufen Sie nach einer Schwester. Die Klingel befindet sich zu Ihrer rechten Seite. Beim Sturz haben Sie sich aber nicht nur den Kopf gestoßen, sondern sind ziemlich ungünstig auf den Rücken gefallen. Ein Wirbel ist beim Aufprall auf einer Kante gesplittert. Man hat Sie offensichtlich gleich nach dem Sturz bewegt, was diese Verletzung zur Folge hat, doch Sie können von Glück reden, dass es ziemlich weit unten im Rücken ist. Mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit kann dieser Splitter in einer Operation entfernt werden, ohne gesundheitliche Folgen für Sie zu haben."

Ich versuche klar zu denken. "Wer zahlt?" Der Arzt seufzt, wahrscheinlich hat er schon mit der Frage gerechnet. "Das wird ihre Krankenkasse vorerst zahlen, allerdings werden Sie einen Großteil des Betrags zurückzahlen müssen, da die Krankenkasse die OP nicht als wichtig genug ansieht. Allerdings sage ich Ihnen sofort: Wenn Sie auf die OP verzichten, leben Sie mit einer tickenden Zeitbombe im Rücken. Dieser Splitter kann bei jeder Bewegung in Ihr Rückenmark dringen und Sie partiell lähmen." Natürlich, kein Druck, kein Stress. Ich nicke. "Ich muss das erst mit meiner Mutter absprechen. Bis wann sollte ich mich entschieden haben?" Der Arzt lächelt, wahrscheinlich glücklich darüber mit mir Geld verdienen zu können. "So lange Sie hier im Krankenhaus sind wird natürlich auf Sie geachtet, allerdings sollte man die OP nicht zu lange schleifen lassen. Eine Woche wäre das Maximum. Aber keine Sorge, wir haben wirklich kompetente Chirurgen, die diese OP ohne weitere Komplikationen durchführen können."

Der Arzt, nachdem ich keine weiteren Fragen mehr habe und nicht gewollt bin noch weiterhin seiner nervenden Stimme zuzuhören, untersucht noch meine Reaktionen, meinen Kopf und meine Schulter, die ich mir beim Sturz nur angestoßen habe. Dann verlässt er den Raum wieder und Matze kommt zurück. Noch bevor er sitzt meine ich nur "Es hätte wesentlich schlimmer kommen können." - "Na wenigstens ist dir dein Optimismus und unverwechselbarer Humor noch geblieben." Er lässt sich auf den Sessel plumpsen und erinnert mich dabei an eine jüngere und irgendwie sympathischere Version des Arztes. Außerdem sieht das Fallen bei ihm auch wesentlich eleganter aus, als beim Arzt selbst. "Hat meine Mutter sich schon dazu geäußert?" Matze schüttelt den Kopf. "Ich hielt es für weise ihr noch nichts von der OP zu sagen, das sollte sie von einem Arzt hören." Ich schnaube. "Und wann denkst du wird sie nüchtern sein und sich ins Krankenhaus bequemen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich die OP will." Mal ganz davon abgesehen, dass meine Mutter ins Haus zu bringen wirklich ein Problem sein wird.

Matze nimmt wieder meine Hand. "Du weißt nicht, was du sagst. Du kannst in jedem Moment Querschnittsgelähmt sein. Ist dir das überhaupt bewusst? Deine Chancen stehen bedeutend besser, wenn du die OP machen lässt. Dann entfernen sie den Splitter, du bist noch ein paar Tage mehr hier im Krankenhaus und dann ist alles wieder gut. Naja, also ... dann bist du wieder gesund." Matze vergräbt das Gesicht in den Händen. "Das ist so kompliziert." Ich schaue ihn skeptisch an. "Du führst dich schlimmer auf, als ein Bruder. Man könnte meinen wir wären zusammen und du müsstest lebensbestimmende Maßnahmen ergreifen, oder wie man das auch immer nennt. Das ist meine Entscheidung, ich muss damit klar kommen. Meine Mutter hat bis zu einem gewissen Grad auch mitzuentscheiden, doch du hast nun wirklich nichts damit zu tun." Ich hoffe mein Ton klingt so entschuldigend, wie es sich in meinem Kopf anhört. "Aber das ist egal, warum bist du nicht in der Uni?" - "Semesterferien, weißt du doch." Stimmt, ich habe vergessen, dass ich schon länger hier bin. Irgendwie war mir das, als der Arzt es erwähnte, überhaupt nicht bewusst. Ich weiß zwar schon was eine Woche ist, aber zu merken dass einen sieben ganze Tage fehlen, das versteht man nicht einfach so mit der Erwähnung der Tatsache. Ich stupse Matze mit großer Kraftanstrengung mit dem Finger an. "Denkst du, du kannst mir eine Tafel Schokolade besorgen? Ich habe irgendwie Lust darauf."

4

Matze kommt am ersten Tag nach den Ferien mit einer Bescheinigung meiner Mutter ins Krankenhaus. Ich bin mir sicher, wie er sie dazu überredet hat das bescheuerte Formular auszufüllen. Selbst wenn sie getrunken hat, war sie nie so benebelt, dass sie nicht wusste, was sie tat. Der Alkohol vergiftet das, was noch von ihrem Hirn übrig ist, vernebelt es. Aber regelrechte Aussetzer hatte sie noch nicht. Matze hingegen ist siegessicher. Er freut sich bereits über die OP. Doch er scheint zu vergessen, dass wir nicht zahlen können. Er lebt in einer glorreichen Welt. Selbst wenn er auch in den Platten wohnt, so ist das doch nur, weil sein Vater ihm das Geld dazu gibt. Matze meinte mal, er könne theoretisch auch woanders leben, doch er möge es einfach lieber Geld für zusätzliche Seminare und den Lieferdienst seines Lieblingschinesen am anderen Ende der Stadt auszugeben. Er ist ein typischer Sohn von reichen Leuten, die meine Mutter und mich nicht mal sehen und unsere Existenz nicht wahrnehmen wollen. Sein Vater würde nicht mal verstehen, wie ein Mensch eine Operation verweigern kann, nur weil das Geld nicht da ist. Zum Teufel, der Typ schenkt seinen Freundinnen doch eine Brustvergrößerung und Botoxkur nach der anderen. Was irgendwie eine Beleidung ist, aber die Nervengift-Tussen scheint das nicht wirklich zu stören. Mein Leben hängt nicht davon ab, also warum sollte ich es mir nur unnötig schwer machen und auf die OP beharren. Die Krankenkasse wird so oder so nicht dafür aufkommen und dann lieber die Kosten so niedrig wie nur irgend möglich halten. Doch für Leute wie Matze und seinen Vater gab es da keine Diskussion. Die Ironie bei der Sache ist aber immer noch Matzes Unverständnis über die Flucht seiner Mutter zu einem Schönheitsfarmenguru in Florida. Das Leben in einer glorreichen Welt hält einen also nicht davon ab, sich nach noch glorreicherem zu verzehren.

Matze nimmt wie üblich den Stuhl neben meinem Bett in Beschlag und erzählt von seinen Plänen, die er eigentlich für seine Ferien hatte, und wegen meiner hatte absagen müssen. Als müsse er auf mich Rücksicht nehmen; im Grunde genommen halte ich ihn doch schon genug von seinem Leben ab. „Matze, was willst du? Hör bitte auf so dämlich zu grinsen, da wird einem ja schlecht.“ Matze, der die ganze Zeit dümmlich grinsend auf dem Hocker saß, während die Schwester mir die Spritze mit dem Beruhigungsmittel gab, hat irgendwann begonnen nur noch dämlicher zu grinsen. Ich hatte wirklich bezweifelt, dass dies irgendwie noch möglich wäre, aber scheinbar schon.  „Ach, ich bin einfach nur zufrieden. Weißt du, wenn du nicht immer so griesgrämig gucken würdest, dann säh‘ dein Leben auch schon viel schöner aus.“ - „Freundlich gucken schenkt mir aber keine trockene Mutter und saubere Wohnung, sowie einen Schulabschluss und echte Freunde.“ - „Das hat weh getan.“ Matze gibt sich entrüstet und legt sich die Hand an die Brust, aber so ganz ernst kann auch er nicht bleiben. Er weiß, dass er mein Freund ist, vielleicht sogar mein einzig wahrer. Er versucht mich also noch eine Weile abzulenken und erzählt vollkommen belanglos von einer neuen Studentenbar, die nach nur drei Tagen wegen Ungeziefer wieder schließen musste.

Kurz bevor ich in den Anästhesieraum gefahren werde, murmelt Matze mir noch zu, dass er mir die Daumen drückt. „Wünsch lieber den Ärzten Glück, außer wie tot rumliegen tu ich da eh nix.“ Er sieht richtig beschissen aus, wie ich da mit dem Bett aus dem Zimmer gefahren werde und er alleine auf seinem Stammplatz sitzen bleibt. Vielleicht hätte ich mich doch netter von ihm verabschieden sollen. Es ist zwar höchst unwahrscheinlich, dass ich bei dieser OP drauf gehe, aber ich denke, dass es ihn sicherlich beruhigt hätte. Ich bekomme eine Maske auf und muss tief atmen. Das kann ich, grad so kompliziert ist es nun auch nicht. Wirklich, ich finde es lächerlich, dass man den Patienten sagt, dass sie es gut machen sollen. Was machen die schon großartig? Und selbst wenn einer hops geht, da kam noch nie jemand auf die Idee dem Patienten die Schuld dafür zu geben. Als hätte er sich nicht genug angestrengt. Nein, dann ist der Arzt der Dumme dabei. So ist das Leben halt. Ich hatte eh nicht vor Ärztin zu werden.

Ich merke wieder, wie ich durch diesen stickigen Nebel laufe und spüre als würde er mit mir ringen. Herrlich, den Nebel kenne ich mittlerweile. Ich wache auf. Erst höre ich wieder; Matze ist dabei zu telefonieren, ziemlich laut sogar. Er ist in der Toilette, doch die Tür scheint nur angelehnt zu sein, denn ich kann eine leise Telefonstimme ausmachen. Wahrscheinlich streitet er sich wieder mit seinem Vater wegen irgendeiner unnötigen finanziellen Anschaffung, die sein Vater sich geleistet hat und die Matze nicht dulden kann. Der Streit erinnert mich an die Diskussionen mit den Lehrern, wenn wir mit dem Prüfungsplan nicht einverstanden sind. Wir können zwar meckern, aber großartig was ändern tun wir nicht wirklich. Dann beginne ich langsam zu schmecken und zu riechen. Darauf könnte ich nun wirklich verzichten. Mein Mund schmeckt, als hätte sich Schimmel darauf gebildet und fühlt sich auch so an und es riecht dezent nach Schweiß und abgestandener Luft. Dann spüre ich … nicht viel. Die Schlaufe des Krankenhaushemdes drückt nervend in den Nacken und meine Hände fühlen sich kalt an. Ansonsten ist alles taub. Ich versuche die Augen zu öffnen und nach gefühlten drei Stunden gehen sie endlich, wenngleich schwer und klebrig, auf. Ich sehe nicht viel, es ist verschwommen, als wäre ich eben erst nach einer Nacht im Waschbärlook aufgewacht. Ich wiederstrebe dem Drang das nicht vorhandene Mascara abzuwischen und versuche mich aufzurichten. Vergeblich, ich fühle mich müde und schlaff und schon allein durch die Anstrengung des Augenöffnens könnte ich mich schon wieder schlafen legen. Matze zetert derweil weiter.

„Nein, ich hab dir tausend Mal gesagt, es ist mir egal was du auf deiner dämlichen Yacht in Montpellier machst, aber ich will einfach nicht, dass du mich jedes Mal belästigst, mit deinen Fragen, wann ich denn endlich mal wieder mit dir die Ferien dort verbringe. Meine Ferien sind schon vorbei, ich hab Schule und eine Freundin braucht meine Hilfe. Außerdem habe ich keine Lust deine neue Freundin mit den falschen Titten und den gebleichten Zähnen und Hairextensions den ganzen Tag im Bikini ertragen zu müssen.“ Kurze Stille, eine Wohltat. „Nein Vater, ich bin nicht schwul! Dein Geschmack für Frauen ist einfach inexistent. Ich habe keien Lust das wieder mit dir auszudiskutieren. Tschüss.“

Matze kommt ins Zimmer und sieht mich an. „Oh, du bist wach. Wie geht es dir?“ Sofort kommt er zu mir und setzt sich auf seinen Stuhl, den er nun auf die andere Seite des Bettes gestellt hat. Ich drehe meine Zunge im Mund, die sich immer noch anspürt wie eine fette, haarige und ungelenke Raupe. „Ganz ok“, nuschle ich und versuche mir den Mund abzuwischen. Ich sabbere, wahrscheinlich ist die Narkose wohl doch besser gewesen, als ich dachte. Matze schnappt sich ein Taschentuch und wischt mir den Mund ab, nachdem meine Hand zweimal zurück auf das Laken gefallen ist, ohne überhaupt in die Nähe meines Mundes zu kommen. „Schlaf doch noch ein bisschen. Ich geb‘ den Schwestern mal Bescheid, dass du aufgewacht bist.“ Damit bin ich wieder weg und falle zurück in diesen ekelhaften Nebel, der immer anhänglicher zu werden scheint.

Das nächste Mal, dass ich wieder zu mir komme, ist eine Schwester gerade dabei meine Werte zu überprüfen. „Guten Tag junges Fräulein, na, wie haben wir geschlafen?“ Ich grummel‘ leise etwas in meinen nicht vorhandenen Bart und versuche unbeteiligt zu blicken. Die Krankenschwester ist nett, keine Frage, aber diese Nettigkeit ist einfach nur erdrückend und viel zu intim. „Da du ja jetzt wach bist, kann ich dich diesmal auch ohne Hilfe einer zweiten Schwester waschen. Na, wie wär es? Dann kommst du auch aus dem lästigen Nachthemd raus und wir können dir wieder deinen eigenen Pyjama anziehen.“ Die Frau meint es gut, ohne Frage, warum sonst sollte man die nicht passende Zusammensetzung von einem alten T-Shirt mit verwaschenem PacMan-Aufdruck und einer dazu nicht wirklich passenden Leggins als Pyjama bezeichnen. Ich nicke und helfe der Schwester, indem ich einfach still bleibe und mich teilweise mitstütze. „Dein Freund wird bald vorbeikommen, er kommt ja immer erst gegen 5 Uhr.“ Ich nicke. „Ja, dann ist seine letzte Lerngruppe vorbei. Und er ist nicht mein Freund.“ Doch ich bin mir sicher, dass sie nicht zuhört.

Als Matze da ist, kommt auch gleich der Arzt mit. Wahrscheinlich wollen sie mir das Feedback nicht ohne moralische Unterstützung geben. Das kann ja nur heißen, dass was schief gelaufen ist. Doch der Arzt versichert uns, dass alles nach Plan verlief und ich nach zwei Wochen sicherlich schon wieder fit genug wäre, um mich ans Aufstehen und kleine Spaziergänge zu wagen. Ich verdrehe die Augen, doch es folgt kein weiterer Kommentar. Als wäre ich schwerstbehindert und könnte mich nicht bewegen. Nachdem der Arzt weg ist, erzählt Matze mir von dem, was derzeit alles passiert ist.

„Stell dir vor, die Polizei war letztens in den Platten und hat nach Drogen gesucht. Du weißt doch, die kleinen Pisser, die immer neben dem Sandkasten in den Hecken Gras rauchen. Irgendeiner hat sie verpetzt. Die kleinen Hosenscheißer haben Georg das Zeugs in die Jacke getan, als er noch geschlafen hat. Da kam der gute Georg mal für ein paar Tage in die Zelle, bis die Jungs sich dann doch getraut haben und sich gestellt haben. Markus, der Bulle aus Block E hat ihnen bestimmt gedroht, er würde sie verpfeifen, wenn sie es selbst nicht tun. Oder Schlimmeres. Er geht übrigens immer noch morgens früh joggen. Hat mich letztens fast umgepflügt.“ Ich hebe die Hand und unterbreche ihn. Bei aller Liebe zum neuesten Klatsch aus dem Viertel, ich habe gerade ein wesentlich dringenderes Problem. „Matze, das ist ja super nett, dass du mir das erzählst, aber ich muss mal. Denkst du, du kannst mir hoch helfen, dass ich mal aufs Klo kann?“ Matze steht sofort auf und greift nach dem Schalter. „Nein, lass gut sein, nerv doch keine Schwester dafür, ich schaff das, ich bin wieder fit.“ Er schaut mich abwägend an. Dann hilft er mir hoch und begleitet mich bis zum Klo. Im Moment als ich mich setze, spüre ich, wie es in meinem unteren Rücken ganz kalt wird. Und dann falle ich seitlich von der Schüssel. Mann, wie peinlich. Matze kommt geschockt zu der Tür, die nicht abgesperrt ist, und schaut mich besorgt an, ehe er die Schwester ruft.

5

Ehrlich, wenn ich könnte, ich würde vor Scham sterben. Natürlich geht das nicht, leider, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Matze ist immer noch total aufgeregt. Im Ernst, wer lag den vor seinem besten Kumpel in der Pisse neben dem Klo? Ich wünsche mir echt, er würde sich verziehen, doch ich traue mich nicht so recht etwas zu ihm zu sagen. Der Arzt und die Schwester - eigentlich eher ein Trupp an Ärzten und mindestens dreimal so viele Schwestern - sind immer noch im Beratungszimmer und müssen sich ... beraten. Worüber auch immer, ich wusste ja von Anfang an, dass die OP eine doofe Idee war. Aber nein, Matze musste sich ja durchsetzen und dieser bescheuerte Arzt von Ich-plumps-mal-eben-lässig-unelegant-in-den-Sessel auch. Jetzt haben wir hier einen Fall von Ärztepfusch und Querschnittslähmung. Ist mein Leben nicht toll? Ich würde gerne tauschen, der Meistbietende bekommt es auf der Minute. Wenn ich gnädig bin, schreibe ich auch noch einen Überlebensguide: Achtung, ich bin ein wandelndes Klischee. Scheiße, ernsthaft. Weiter als meine persönlichen Probleme habe ich die letzten zwei Stunden noch nicht gedacht. Matze wohl schon, immerhin ist er gerade dabei zu diskutieren welche Farbe mein Rollstuhl haben soll. Hat der vielleicht Probleme …

"Sag mal, hast du ein Rad ab, ich diskutier mit dir doch jetzt nicht über die Farbe eines Rollstuhls!" Matze seufzt. "Irgendwann musst du dich aber damit auseinander setzen und je früher desto besser. Man, jetzt kommt der Treuhandfonds meines Vaters wirklich günstig. Glaub nicht, dass die Kasse das alles übernimmt, da werden riesige Beträge an Rechnungen auf dich zukommen. Scheiße, deine Mutter muss echt mit saufen aufhören." Ich verdrehe die Augen gen Decke. "Wieso, ist doch Pfand drauf." Matze schaut mich an, als wolle er mir eine runterhauen. "War'n Spaß, reg' dich nicht auf. Aber ich will noch keine lebensverändernden Entscheidungen treffen, wenn die Ärzte sich noch nicht mal sicher sind, wo überhaupt das Problem liegt. Außer beim Chirurgen, das steht ja schon mal fest." Matze lässt sich neben mich aufs Bett fallen. Irgendwie bedaure ich, dass sie mich schon gewaschen haben. Wäre sicherlich eine tolle Methode um ihn los zu werden. "Deinen Humor wollt ich gern haben. Erstens ist eine Rollstuhlfarbe nichts Lebensveränderndes und ich nerv dich ja auch nicht jetzt schon mit der Auswahl eines passenden medizinischen Seniorenheims für dich. Aber ich will einfach, dass du dir bewusst wirst, was da für Probleme auf uns zukommen. Vielleicht kann man das Krankenhaus ja anklagen, das würde dir einen gewissen Teil an Schmerzensgeld einbringen und wir hätten ein wenig mehr Geld für eventuelle Neuanschaffungen. Du müsstest auch umziehen, eure Wohnung ist nicht behindertengerecht und das ganze Gebäude ..." Ich unterbreche ihn. "Sag mal spinnst du, ich zieh' doch nicht deshalb um! Sagtest du nicht selbst gerade, dass da viel zu hohe Kosten auf mich zukommen? Und was soll dieses Gerede von „uns“? Wir sind Freunde, da darf es dich eigentlich auch nicht weiter interessieren als die Tatsache, dass ich immer noch verdammte Schokolade brauche!" Matze lässt nicht locker. "Ich kann dir helfen und ich bin mir sicher, dass mein Vater auch kein Problem damit hat, euch zu unterstützen."

Ich muss lachen, das ist doch wohl ein schlechter Scherz. Natürlich hatte sein Vater ein Problem damit, immerhin konnte er mich und meine Mutter noch nie so wirklich leiden. Deshalb ist er auch immer über Matze hergefallen, wenn er davon sprach, dass er sich mit mir abgibt. Das ist nicht sonderlich nett, aber so war er schon immer und er war halt ein riesen Arsch. Da konnte man Matze auch nicht helfen, das war eher ein Problem zwischen den Beiden. Und ich wollte da auch nicht mit einbezogen werden. Alles, was ich mir die letzten zwei Stunden wirklich gewünscht habe, war dass ich vor Wochen schon den Mut gehabt hätte einfach Tschüss zu sagen. Aber wenn ich Matze oder einem des Krankenhauspersonals davon erzähle, dann gibt es auch noch Psychodoc dazu und darauf kann ich jetzt echt verzichten. Irgendwie war es ja noch nie so richtig mein Leben mit meinen Entscheidungen und so. Ich hatte auch nie diese typischen pubertären Phasen, in denen ich unbedingt meinen Weg gehen wollte. Ich war froh für jeden Tag, an dem ich mich nicht vollkommen verlaufen hatte, so wie meine Mutter. Doch man kann doch nicht von mir verlangen, dass ich mich jetzt vollkommen dem hingebe, was irgendjemand mit mir vorhat. Noch dazu jemand ohne Stil. Ich meine, würde mein Leben ein Film oder ein Buch, das würde doch kein Schwein sich antun wollen. Überall Mist und einfach nur Klischeekacke.

Wenn alles gut ausgeht, dann schlafe ich in fünf Wochen mit Matze – wie auch immer das gelähmt klappen soll, aber ich muss es ja nicht wirklich toll finden oder als super Gefühl in Erinnerung haben – und werde mit 20 eine Drogenabhängige. Irgendwie zwar unpraktisch, wie soll ich denn mit dem Rollstuhl zu den Spritzenmenschen die Treppe runter in die Unterführung des Bahnhofes kommen? Verdammt, ich schmiede ja jetzt doch schon Pläne bezüglich meines verkorksten Lebens. Das ist unfair und ungerecht und blöd. Ich kann nicht mal mehr gescheit darüber fluchen, es ist einfach nur noch blöd, so primitiv und einfach. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und schreie frustriert los.

Matze, der wieder begonnen hat seine Runden durch das Zimmer zu drehen, kommt mir schweren Schritten auf mich zu und reißt mir die Decke vom Kopf weg. „Hör auf durchzudrehen und steh‘ deine Frau. Wenn du sonst immer so though und stark tun kannst, dann reiß‘ dich zusammen und zieh das durch. Ich helfe dir, aber wenn du weiterhin ein kleines Miststück bist, dann gehe ich zu dieser verdammten hässlichen Tür heraus und werde dich sobald nicht mehr besuchen kommen. Hast du mich verstanden?“ Ich nicke und merke, wie mir langsam sie Tränen die Wangen hinunter laufen. Jetzt wird es fast noch peinlicher, als der Moment auf dem Klo. Matze hat mich noch nie weinen gesehen, zumindest nicht so. Klar, er war schon dabei, als ich in die Scherben meiner Mutter gefallen bin und mir das Knie aufgeschlagen habe und er war auch schon dabei, wenn ein schlechtes Zwischenzeugnis durch den Briefschlitz geflattert war, aber er hat noch nie gesehen, wie ich vollkommen am Ende und einfach nur verzweifelt und hilflos war. Ich selbst habe vergessen, dass es diese Seite an mir gibt.

Matze setzt sich wieder zu mir aufs Bett und nimmt mich in den Arm. „Ach komm schon, so ist das doch nicht gemeint. Ich merke ja, wie du dich zusammen nimmst und versuchst alles so locker und lustig wie möglich zu nehmen, aber ich komme nicht so ganz damit klar, dass du so lustlos und fast schon apathisch wirkst. Du sollst nicht aufgeben, immerhin bin ich ja da, um dir zu helfen.“ Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und drückt mich fest an sich. Jap, es wäre ein Fehler. Ich kann aber nicht anders, als es zu genießen, dass mich mal jemand umarmt, ohne dass eine starke Alkoholfahne mir die Luft zum Atmen nimmt. „Ich bin schwach und gar nicht so though, wie du das meinst. Nur mal so nebenbei bemerkt.“ Ich schließe die Augen und versuche auszublenden, dass ich nicht spüre wie die Matratze sich neben mir unter seinem Gesicht senkt und dass die Decke schwer auf meinen Beinen liegt und die kalte Zimmerluft mir die Füße abkühlt. Mein Leben wird sich fortan nur noch oberhalb meines Bauchnabels abspielen und ich werde alles daran legen die Moment, die Gefühle in meinen Armen, zu genießen. Auch wenn es viel Muskelkater mit sich bringen wird, durch das Rollstuhlfahren.

Fuck, mein Leben ist wirklich endgültig in seine Bahn gerückt und es gibt keinen Ausweg mehr aus dieser Scheiße. Aber hey, ich habe einen guten Freund, der mich unterstützt wo er kann und der versucht mir zu helfen. Auch wenn ich ihn irgendwie davon abhalten muss, Geld für mich aus dem Fenster zu werfen. Außerdem komme ich so halbwegs von meiner trinkenden Mutter weg, muss nicht mehr bei diesen abscheulichen Wesen von Klassenkameraden sein und lerne vielleicht neue Leute kennen. Sehen wir es als kleine Wendung in meinem Leben und eine Möglichkeit neu anzufangen und alles besser zu machen. Ich halte kurz die Luft an. Gut, der Schmerzmittelgehalt in meinem Blut und Gehirn ist sicher noch zu hoch, warum sonst sollte ich so einen gefühlsduseligen Matsch von mir geben, aber es macht mich glücklich und ich will grinsen. Ich halte es auch nicht auf, immerhin ist es das einzig schöne Gefühl, dass jetzt noch unwillkürlich kommen kann. Wobei ich die Fußmassagen von kaltem Gras und kleinen Steinchen im Sommer auf dem Kurpfad sicherlich vermissen werde.

6

Nach nur einer Woche habe ich mich soweit an das Leben im Krankenhaus angepasst, dass ich mich nicht mehr an dem ekelhaft faden Schokopudding oder dem Katheter und die Darmentleerung gewöhnt habe. Irgendwie eigenartig, wenn man daran denkt. Bisher wurde mir nie bewusst, wie unregelmäßig mein Stuhl immer war und wie selten ich eigentlich wirklich aufs Klo ging, im Vergleich zu dem, wann ich eigentlich müsste. Ich frage mich, ob das nicht durch einen verkrampften Lebensstil und eher unpraktische Umstände kam und in wie fern das eigentlich gesund war. Dass ich jetzt kein anderes Thema habe, außer die Toilette und den doofen Pudding, liegt daran, dass Matze sich wieder an der Uni eingeschrieben hat und neue Kurse besuchen muss. Sein Vater hat eingewilligt, mir mit den Krankenhauskosten zu helfen – offensichtlich hat der Kerl seine soziale Ader gefunden und ist nun hoffnungslos am Verbluten oder aber er hat sich dazu aufgerafft seinem Sohn auch einmal einen Gefallen zu tun – und dafür muss Matze sein Studium in den nächsten zwei Jahren beenden und sich für eine Stelle bewerben. Den genauen Vertrag hat Matze nicht mit mir durchgekaut, aber es scheint ihm ernst zu sein. Und irgendwie ist das auch süß von ihm. Nicht nur, dass er seine Affären meinetwegen fallen lässt, nein er macht für mich auch sein Studium fertig. Im Ernst, es war wirklich eine miese Idee.

Da Matze aber nun wenig Zeit mit mir verbringen kann, bin ich gezwungen mir meine sozialen Kontakte im Krankenhaus zu suchen. Anfangs wollte ich nicht und habe tagelang in meinem Zimmer gehockt und mich von den Schwestern bemuttern lassen. Denen ging das aber ziemlich offensichtlich bald auf den Keks, immerhin bin ich nicht ihre einzige Patientin gewesen. Deshalb haben sie mich zu den anderen Trauma Patienten auf den Stock geschoben und dort in ein Zimmer mit Samira gesteckt. Samira ist eigentlich Samantha, aber sie findet ihren Namen beschissen und irgendwie kann ich das auch nachvollziehen. Wobei Samira mir dann doch ein wenig zu durchgeknallt ist, so als Spitzname. Samira hatte jedenfalls einen Autounfall, weil ihre Mutter betrunken über die Autobahn gerast ist. Wenigstens das haben wir gemeinsam und vielleicht verstehen wir uns auch wegen unserer familiären Situation so gut. Eigentlich ist Samira auf dem Stock für Suchtbehandlung, allerdings haben ihre Ärzte sie nach hier unten verlegt, damit der Beinbruch sich besser in Beisein eines Spezialisten ausheilen kann. Die Psychologen haben immerhin weniger Probleme damit den Lift zu benutzen, um sich nach unten zu bequemen, als sie mit dem Rollstuhl.

Samira ist nämlich magersüchtig und schon ziemlich schlecht. Die Ärzte können sie aber nicht wirklich zwingen zu essen und die Zwangsernährung hilft auch nur bedingt, da sie sich gegen den Schlauch wehrt. Eigentlich hat sie nur ein gebrochenes Bein und gerissenes Knie, allerdings kann ihr Körper sich durch die Mangelernährung nicht wirklich selbst heilen, weshalb es bei ihr viel länger braucht, als bei den anderen. Auch sie fährt immer im Rollstuhl rum und gemeinsam liefern wir uns manchmal kleine Wettrennen durch den Flur, wenn wir tagsüber in den Gemeinschaftsraum müssen. Dort sind Computer und Gesellschaftsspiele, Zeitschriften und bequeme Sessel, auf die ich mich nicht setzen kann. Samira liebt es, mich deshalb aufzuziehen. Sie tut ständig, als würde ich irgendetwas verpassen, dabei habe ich schon oft genug auf bequemen Sesseln gesessen und vermisse das Gefühl auch nicht wirklich. Dafür kann sie aber normal aufs Klo gehen, wofür ich sie und viele andere der hier anwesenden Patienten beneide. Das erste Mal, dass Samira und ich gemeinsam im Gemeinschaftsraum saßen, kam Matze mich nach langer Zeit wieder besuchen. Ich hatte ihm in einer Mail von Samira erzählt, aber er konnte sich nicht so wirklich ein Bild von ihr machen. Als er sie aber vollkommen abgemagert und im Rollstuhl neben mir sitzen sah, wie sie ihn breit anlächelte und ihm die zierliche Hand entgegen streckte, da blickte er nur auf ihr Bein, an dem der Gips nur wie ein riesen Klotz wirkte. Alles, was er sagte, war „Ich verstehe den Rollstuhl, wie würdest du das Ding denn rumschleppen können.“ Irgendwie hasse ich ihn für die Bemerkung.

Aber Samira ist cool und wirklich ganz pflegeleicht. Ihr ist es egal, was andere Menschen von ihr halten. Wäre sie nicht glücklich, so sagt sie immer, dann würde sie sich ja sicherlich auch von ihrem Psychologen dazu überreden lassen, dass sie endlich wieder „normal“ würde und ordentlich essen könnte. Sie hat mir nie wirklich erzählt, warum sie die Magersucht gewählt hat. Ich traue mich auch nicht wirklich zu fragen, denn ich bin davon überzeugt, dass sie sich mir irgendwann öffnen wird, wenn sie sich bereit dazu fühlt. Oder wenn ihr Psycholog ihr es erlaubt. Für mich reicht es im Moment schon, dass wir einfach gemeinsam Spaß haben können und gemeinsam über die unterschiedlichsten Dinge reden. Sie ist irgendwie die einzige richtige Freundin, die ich habe, was mir vor allem dann bewusst wird, wenn sie wieder einen schlechten Tag hat, an dem sie nicht aufstehen und sich kaum bewegen kann. Mir wird dann immer wieder bewusst, wie nahe sie dem Tod ist und dass ich, so beschissen es mir auch geht, es doch noch gut und irgendwie menschlich habe. Der einzige Unterschied liegt darin, dass sie es sich selbst ausgesucht hat.

Heute ist wieder einer ihrer schlechten Tage, wobei sie gut genug ist, um mit mir zu reden, zu scherzen und zu lachen. Ich weiß, dass sie es genießt, wenn ich so direkt und auch ein wenig kaltherzig bin. „Dann vergesse ich immer wieder, wie blöd alles ist und wie scheiße mein Leben sein kann. Du machst das auf eine sehr erfrischende Art, bei der ich nicht mal mit mir selbst böse sein kann.“ Aber darüber reden wir selten, da es einfach zu deprimierend ist. Meist redet sie von ihrem Freund und ich von Matze. Es ist lustig, wie ähnlich wir uns in diesem Aspekt sind. Aber Samira ist mir wohl einen Schritt voraus, wie bei so manchem in ihrem Leben. „Ich sage dir, es gibt nur wenige Fehler, die du in deinem Leben begehen kannst und der wohl größte davon, ist mit deinem besten Freund zu schlafen. Glaube mir, tu‘ das bloß nie! Toby und ich haben es im Vollsuff auf einer Party getrieben, was die Sache nur noch schlimmer macht. Wäre nicht das dumme Gespräch unserer Freunde und die recht einschlägigen Bilder – im Ernst, wer schießt Fotos von seinen Freunden, wenn die am Knattern sind? – gewesen, dann hätte ich es nicht mal geglaubt. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern und er laut eigener Aussage auch nicht. Ich weiß nicht ob ich ihm glauben kann oder nicht, … ich sollte wohl, oder? Aber irgendwie kann ich das nicht so richtig, nicht wenn ich daran denke, wie verklemmt und gehemmt er sich in meiner Gegenwart benimmt. Ich glaube kaum, dass es etwas mit meiner Krankheit zu tun hatte, immerhin wusste er schon länger davon. Vielleicht, weil er denkt er hätte Erinnerungen wach gerüttelt. Aber dann wäre er dumm.“

Nur zwei Wochen danach, eigentlich zu dem Zeitpunkt, an dem die Reha für mich fast vollständig abgeschlossen war und an dem meine psychologische Begleitung auch dafür gesorgt hatte, dass ich halbwegs mit dem Leben außerhalb des Krankenhauses klarkommen würde, hat sie mir dann auch verraten welche Erinnerung das war. Ihr Stiefvater hatte sie vergewaltigt als sie fünfzehn war und ihre Mutter hatte sich trotz des Verfahrens gegen ihn nicht von ihm scheiden lassen wollen. Samira ist von zu Hause weggelaufen und auf die schiefe Bahn geraten. Ihr vermeintlicher Freund hat sie zum Drogenkauf und –verkauf angeheuert und sie hat, nachdem sie sich endlich von ihm lösen konnte, eine Magersucht entwickelt. Sie war fest davon entschlossen durch Hungern ihren Verstand und ihre Erinnerungen ausschalten zu können. Aber scheinbar waren die stärker als ihr Wille. Zwei Tage vor meiner Entlassung starb sie an Herzversagen. Das viele Brechen ihrer Bulimie hatte für Wasser in ihrem Herzen gesorgt und es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie nicht mehr da war. Die Ärzte ließen mich dennoch nach Hause gehen, aber nicht ohne mir das Versprechen abzunehmen, dass ich mindestens einmal die Woche zur Therapie bei ihnen vorbeischauen musste.

Ich weiß immer noch nicht, wie ich mit dem Rollstuhl im Bus zum Krankenhaus kommen sollte, doch Matze hat mir versprochen, dass er mich die ersten Male begleitet. Die wohl kleinste Veränderung von uns allen unterlief meine Mutter: Sie trinkt weiter wie zuvor und lässt sich jetzt kaum noch von der Flasche wegbringen. Ich bin froh für jede Minute, in der sie nur mit Bier in der Hand herum läuft und mich weitestgehend in Ruhe lässt. Ich weiß, dass sie frustriert ist. Wir bekommen zwar staatliche Unterstützung, da ich jetzt ein Pflegefall bin, dennoch reicht das Geld jetzt nur noch weniger für den Alk und sie hat gehörig die Nase voll. Sie ist sich sicher, dass ich mich mit Absicht die Treppe runtergeschmissen habe, in dem verzweifelten Versuch sie vom Trinken abzuhalten und schreit mich deshalb täglich an. Ich versuche sie größtenteils auszublenden und lebe fast ausschließlich noch in Matzes Wohnung. Er bringt keine Freundinnen mehr mit und kommt zum Lernen immer nach Hause, damit ich nicht alleine bin. In kürzester Zeit werde ich wieder in die Schule gehen können, aber ich weiß noch nicht so recht, ob ich das will. Mal sehen, vielleicht findet sich eine öffentliche Einrichtung, die mit Rollstühlen klar kommt.

7

Nach nur kurzer Zeit habe ich alles überwunden. Ich war auf der Beerdigung von Samira und habe mich mit Matze darauf geeinigt, dass wir nicht woanders ziehen müssen und dass ich eigentlich auch bei uns zu Hause wohnen bleiben könnte - wenn meine Mutter nicht wäre. Wir haben auch eine neue Schule für mich gefunden, die mich jeden Morgen mit dem Privat-Minibus abholt, damit ich nicht mit dem öffentlichen Verkehr fahren muss. Diesen Luxus bekommt man also wenn man offiziell behindert ist. Ich weiß noch immer nicht so ganz, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Ich schreibe auch einmal die Woche Briefe an Samira, obwohl ich weiß, dass sie mir nicht mehr antworten wird. Aber so vergesse ich nie, was sie mir auf ewig für tolle Tipps gegeben hat und wie sehr sie mir geholfen hat die Welt und mich selbst zu verstehen. Offensichtlich braucht es Menschen, die krank im Kopf sind und laut Gesellschaft nicht mehr richtig ticken und geheilt werden müssen, um zu verstehen warum wir lange nicht wirklich glücklich werden können und was uns in unserem Leben eindeutig fehlt. Ich für meinen Fall wäre wirklich glücklich darüber einen wieder funktionierenden Darmtrakt zu haben, aber das ist nun wirklich utopisch von mir. Die Briefe bringt Matze dann Montags auf dem Weg zur Uni zu Samiras Grab. Irgendjemand nimmt die Briefe immer von da weg und antwortet darauf. Ich weiß nicht wer und wieso, aber fest steht, dass diese Person Samira gekannt haben muss, denn so sehr wie die Briefe nach ihr klingen, ist nur ein sehr naher Freund in der Position auf meine Briefe zu antworten. Matze traut der ganzen Aktion nicht, doch es gehört zu unserem Pakt, dass er sich nicht weiter dazu äußert. Ich nehme stillschweigend die Almosen und finanzielle Unterstützung seines Vaters an und er hält sich sonst weitestgehend aus meinem Leben raus und versucht nicht ständig für mich zu entscheiden, sondern entscheidet mit. Ich bin kein Kleinkind mehr, was sich vor allem in den hilflosen Momenten zeigt. Ich kann alleine meinen Katheter leeren und ich weiß auch wie und was ich essen kann, ohne gleich Probleme wegen der nur noch halbwegs funktionierenden Verdauung zu bekommen. 

Meine Mutter hat sich auch irgendwann vor einigen Tagen dazu entschlossen, halbwegs trocken werden zu wollen. Da sie das aber im Vollrausch entschieden hat und ich ihr nicht so ganz glauben kann - der Gin zum Frühstück spricht doch eigentlich für sich - habe ich mir dennoch die Mühe gemacht, ihr die Adresse eines Therapeuten für Alkoholsucht aus dem Internet zu suchen und ihr dort einen Termin zu fragen. Sie weiß zwar noch nicht, dass ich ihre Aussage so ernst genommen habe, aber damit sollte sie jetzt lernen zu leben. Ich habe nämlich vor wesentlich entschlossener zu sein, als ich es je in meinem Leben war. Ziemlich viel Gesülze für so eine kleine Person, das weiß ich auch, aber immerhin kann ich so endlich dafür sorgen diejenige zu sein, die ich immer schon sein wollte. Gut, ich hab nen Rollstuhl im Schlepptau, aber abgesehen davon geht es derweil bergauf. Kommt wohl doch gut, dass ich mittlerweile so viele Mukkis im Arm habe. 

Ich habe mir übrigens auch vorgenommen ein Buch zu schreiben. Ich weiß, dass viele Teenager gerne solche dramatischen Geschichten lesen - The fault in our stars sagt ja schon alles, auch wenn ich nicht mit einer unheilbaren Krankheit und einem netten Freund anspaziert kommen kann - und es sicherlich ein großer Verkaufsschlager wird. Allerdings bin ich mir noch nicht so sicher, ob ich das überhaupt machen mag. Was, wenn es erfolgreich genug wird und verfilmt wird? Dann müsste ich mir ja Leute aussuchen, die perfekt für meine Rolle geeignet sind ... Ich kann mir niemanden in der Rolle meines Lebens vorstellen und meine Schauspielkünste lassen leider sehr zu wünschen übrig. Matze meinte, ich solle mich nicht so aufspielen, aber er weiß ja auch nicht, was auf dem Spiel steht. Er könnte ja schlimmstenfalls sich selbst spielen, ich weiß dass er als kleiner Junge Schauspielunterricht bekommen hat. Okay, vielleicht übertreibe ich wirklich, aber außer der Schule, der Therapie und meinen absurden Tagträumen bleibt mir im Leben nicht mehr viel. Samiras Geist, jap, aber der hilft auch nicht mehr bei alltäglichen Entscheidungen, wie beispielsweise der bequemsten Erwachsenenwindel. 

Ich frage mich manchmal wie sehr ich mich daneben benehme und wie viel eigentlich jetzt von mir verlangt wird. Verlangt man von mir ernster und erwachsener zu handeln, weil ich jetzt einen Reifeprozess abgeschlossen habe? Bin ich gezwungen mich zu ändern, um so vielleicht besser mit meinem Leben klar zu kommen? Ich weiß es nicht so genau und ich kann es auch nicht in Worte fassen. Ich weiß nur eines: Bis zu diesem Punkt war ich unglaublich stolz auf mich und meine Entscheidungen und auch jetzt noch kann ich sagen, dass ich nichts großartig bereue oder das Gefühl habe leiden zu müssen. Ich habe Fehler begangen und wenn ich so daran zurück denke, dann hat mein ganzes Leben aus einem einzigen Fehler bestanden. Begonnen mit dem Fehler meines Vaters meine Mutter zu schwängern. Aber von all den Fehlern, die ich selbst verschuldet habe und für die ich selbst verantwortlich zu machen wäre, bin ich froh einen einzigen nicht begangen zu haben. Denn den einzigen Fehler, den ich in meinem Leben nie begangen habe, war mit meinem besten Freund zu schlafen. Auch wenn das größtenteils daran liegt, dass ich das für anatomisch nicht mehr tragbar halte.




Envoyé: 08:16 Fri, 3 April 2015 par: Reuland Carmen