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Loes Melanie

Die Trösterblume


Es war einmal ein Wandersmann. Er hörte viel über die weite Welt und über die Abenteuer, die andere erlebten, an denen er aber selbst nicht teilhatte. Er führte nämlich ein ruhiges Leben mit seiner Familie, die er über alles liebte. Doch etwas in seinem Leben schien zu fehlen. Etwas, was ihm die Genugtuung verschaffen würde, in Zufriedenheit und Weisheit zu altern. In seinen Büchern las der Mann über wilde Tiger, tiefe Schluchten, schneebedeckte Gipfel und gefährliche Pflanzen, die so manchem unvorsichtigen Wanderer das Leben gekostet hatten. Er wusste, dass er erst inneren Frieden finden konnte, wenn er diese Dinge mit bloßen Augen sehen, mit blanken Händen fühlen, mit der eigenen Nase atmen und mit den eigenen Füßen besteigen würde.

Und so ließ der Mann seine geliebte Frau und seinen geliebten Sohn zurück, um die Welt zu sehen, die ihn so faszinierte. Auf seiner Reise erklomm er die höchsten Berge und kroch durch die tiefsten Höhlen. Weder Dunkelheit noch Kälte oder Hunger konnten ihm etwas anhaben und so wanderte er mehrere Wochen und Monate bis in den wildesten, bisher unerforschten Dschungel, wo die Lianen ihm stetig den Weg versperrten und giftige Insekten es auf ihn abgesehen hatten. Hier standen die Bäume so hoch, dass er die Baumkronen nur sehen konnte, wenn er den Kopf in den Nacken legte, und die Sonnenstrahlen kaum durch das dichte Blätterdach schienen. Alles lebte in diesem Dschungel, alles krabbelte, schlängelte, hangelte oder segelte herum. Der Wanderer war nie unbeobachtet, denn es gab ständig irgendwelche einheimische Tiere, die auf ihn aufmerksam geworden waren und ihm folgten. Doch der Wanderer fühlte sich nicht bedroht oder verängstigt, nein, er war glücklich mit den Tieren zu krabbeln, zu schlängeln, zu hangeln und zu segeln. Der Gesang der Vögel, das Summen der Mücken, der Keckern der Affen, das alles erfüllte ihn mit Freude.

Eines Morgens entdeckte der Wanderer einen kleinen Schmetterling, der sich im Netz einer Spinne verfangen hatte. Das geflügelte Tier zuckte panisch und wickelte sich dabei immer weiter in den Spinnenfäden ein. Seine sonnenorangenen, zwarten Flügelchen flatterten im Todeskampf. Die Spinne wartete bereits darauf, dass ihre Beute aufhören würde sich zu regen, um sie dann zu verspeisen. Der Wanderer empfand Mitleid mit dem Tier, das mit dem Tode rang, und befreite es aus seiner Falle, um es vor der hungrigen Spinne zu beschützen. Der kleine, orangfarbene Falter erholte sich schnell in der beschützenden Geborgenheit, die die Hände seines Retters boten, und streckte seine Flügel zu seiner vollen Größe aus, sodass sie weit über die Finger des Mannes hervorragten.

"Ich bin dir zu Dank verpflichtet, mein Herr.", sprach der Schmetterling, "Für das Geschenk des Lebens biete ich dir ein Geschenk meinerseits an. Es ist die Trösterblume aus dem Reich der Feen. Sie erblüht in Zeiten tiefster Not und wird dir ein Licht in die Dunkelheit deines Herzens zaubern. Sie blüht nur ein einziges Mal, also verwende sie weise. Wenn du sie in Zeiten größter Trauer brauchst, dann sprich die Worte:

O Blume des Trosts,

Stern der Engel,

Zauber der Feen.

Vertreibt das Dunkel und lasset blühen

ein Licht in meinem Herzen,

auf dass ich wieder glücklich werde."

Nachdem der Schmetterling geendet hatte, übergab er dem Wanderer einen kleinen Samen und flog davon. Der Mann merkte sich die Worte und hütete den Samen sorgfältig in der Brusttasche seines Hemdes. Dann führte er seine Reise fort.

Nach vielen Tagen nun begann der Wanderer an sein Zuhause zu denken und empfand Sehnsucht nach einer Umarmung seiner Frau und der Stimme seines Sohnes. Er hatte genug von der Welt gesehen und ausreichend Geschichten zu erzählen. Es war Zeit für ihn, zu seiner Familie zurückzukehren. Doch zu seinem Bedauern fand der Wanderer den Weg aus dem Dschungel nicht mehr. Er irrte Tage und Wochen orientierungslos umher, ohne dass ein Ende in Sicht kam. Schon bald hielten ihn die Geräusche vom Schlafen ab und die Mücken machten ihn ganz wahnsinnig im Kopf. Er hatte die Dunkelheit am Erdboden satt und sehnte sich nach einem warmen Bett. Der ewige Tau ließ seine Knochen schmerzen und seinen Seelenzustand ermüden.

Eines Abends, als schwere Regentropfen von den Blättern auf seinen Scheitel tropften und das Anzünden eines Feuers unmöglich machten, dachte er verzweifelt, dass er seine Familie nie wiedersehen würde. Er fror, war müde und hungrig und dachte an sein Ende, als ihm die Trösterblume einfiel. Er nahm den Samen aus der Brusttasche und betrachtete ihn eine Weile, steckte ihn dann aber wieder zurück. Vielleicht kam eines Tages eine Zeit, zu der er den Trost der Blume eher brauchte.

Der Mann ging noch vier Wochen und vier Tage lang weiter und fand schließlich den Weg aus dem Dschungel und kehrte zu seiner Familie zurück. Sein Sohn war in der Zeit, in der er weg war, älter, aber nicht stärker geworden. Der Junge schien in seiner Abwesenheit eine Krankheit entwickelt zu haben, die stark an seinem Leben zehrte. Der Mann und seine Frau suchten einen Arzt nach dem anderen auf, doch keiner konnte ihnen helfen oder auch nur bestimmen, an welcher Krankheit ihr Sohn litt. Die Sonne ging auf und unter und der Junge verlor immer mehr an Lebensenergie, solange bis seine Haut aschfahl wie altes Papier wurde und seine Augen tief und dunkel waren. Eines Nachts verstarb der Junge in seinem Krankenbett, die Hände seiner Eltern haltend. Der Mann ward von Trauer ganz zerrissen und wusste sich keinen Sinn mehr, um weiterzuleben. Er erinnerte sich an die Trösterblume. Seine Hand hob sich zu seiner Brust, um zu fühlen, ob sich der Samen immer noch in seiner Brusttasche befand. Das tat er, doch der Mann, der seinen Sohn verloren hatte, ließ die Blume wo sie war. Vielleicht kam eines Tages eine Zeit, zu der er den Trost der Blume eher brauchte.

Der Mann und seine Frau beerdigten den Jungen und lebten fortan alleine in dem Haus. Der Mann fand einen Weg, die Trauer über den Verlust seines Kindes zu überwinden, und lebte sein Leben weiter, auch wenn kein Tag verstrich, ohne dass er an seinen Sohn dachte. Die Frau des Mannes jedoch lebte in ihrer Trauer weiter, wurde jeden Tag deprimierter und zog sich immer weiter in sich zurück. Der Mann konnte kaum noch zu ihr durchdringen und sie ließ auch nicht mit sich sprechen. Die Frau verschloss sich in ihrem Zimmer und blieb Tage und Nächte dort. Irgendwann verließ sie ihr Zimmer, um das ihres Sohnes aufzusuchen und sich dort zu erhängen. Der Mann fand ihren baumelnden Leichnam, als er noch gezuckt hatte, aber jede Hilfe kam zu spät. Nun war auch seine Frau tot und wurde bald neben seinem Sohn begraben. Der Mann erlebte wieder eine Zeit tiefster Trauer, die sein Herz vergiftete und der Dunkelheit die Möglichkeit bot, sich in seinem Kopf einzunisten. Sein Haus blieb gespenstisch still und er musste sein Dasein in Einsamkeit fristen. Er erinnerte sich an die Trösterblume, die ihm der Schmetterling geschenkt hatte, doch verwarf jeden Gedanken daran. Vielleicht kam eines Tages eine Zeit, zu der er den Trost der Blume eher brauchte.

So lebte er noch eine Weile in dem stillen Haus, ganz alleine. Nach einiger Zeit fraß die Trauer ihn von innen auf und entzog ihm jeden Lebenswillen. Er wurde kränklich und schwach und verstarb eines natürlichen Todes einsam in seinem Zimmer.

Sein Leichnam wurde mit dem Samen in seiner Tasche begraben. Nachdem Regen durch die Erde gesickert und bis zu ihm durchgedrungen war, fing die Blume an zu wachsen. Es dauerte ein paar Tage, bis sich eine Knospe entwickelte, die aus der Erde stieß und sich an der Sonne satt aß. Dann erblühte sie das erste und das letzte Mal in einem zauberhaften, orangefarbenen Licht, das drei Tage und drei Nächte anhielt und in der Dunkelheit funkelte wie ein kleiner Stern.

 




Envoyé: 20:38 Tue, 28 January 2020 par: Loes Melanie