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Feltes Michèle

Wildes Herz, der Technik zum Trotz



Wieso nur? Wieso? Der schlimmst mögliche Ausnahmezustand war eingetreten, da mein Vater beschlossen hatte, einen Wanderausflug an diesem Wochenende zu machen. Anstatt in aller Seelenruhe die neuesten Videospiele herunterzuladen, musste ich mich also hier in der brütenden Nachmittagssonne abmühen, um danach irgend so eine bescheuerte Sehenswürdigkeit anzustarren. Die glühend heiße Sonne brannte gnadenlos auf mich hinab und ließ meinen Handybildschirm ihr grelles Licht reflektieren. Na ja, ich versuchte halt das Beste aus dieser verzweifelten Situation zu machen und benutzte meine kabellosen Kopfhörer um meine etwas veralteten Music Playlists wieder zu geben. Mit einem tiefen Seufzer klebte ich meine Augen wieder an den interessanten Handybildschirm, die Außenwelt verschwamm und ich bekam nichts mehr mit. Mein ganzes Gehirn war auf die zahlreichen Apps konzentriert mit denen ich mich einen Großteil meines Lebens beschäftigte. Sie gaben mir Rückhalt und ich konnte nur noch mit ihnen kommunizieren, denn der Umgang mit realen Menschen war mir in der Zwischenzeit einfach zu umständlich geworden. Ich war dessen einfach nicht mehr fähig. Das einzige, was ich noch von der analogen Welt mitbekam war der Kiesel der unter meinem Markenturnschuhen, der bei jedem anstrengenden Schritt knirschte. Ein fataler Fehler. Das, was um mich herum passierte war einfach nicht mehr da, selbst als ich später in meinen Gedanken herumkramte, tastete ich einfach im Dunkeln. Ich bekam nicht mit wie mein Vater mit meinen Geschwistern eine völlig andere Himmelsrichtung abbogen. Offenbar waren sie damit beschäftigt die Karte intensiv zu studieren, währenddessen sie mich, den eher ruhigen Menschen im Hintergrund vergaßen. Jedenfalls stapfte ich ahnungslos weiter, ohne die geringste Ahnung was mich erwarten würde. Diese verräterische, offenbar harmlose Macht mit der dieses technische Gerät mich blendete war zu stark. Auf einmal prallte mein Fuß gegen ein hartes Objekt, es umfasste ihn komplett mit einem eisernen Griff und jegliche versuche mich wieder ins Gleichgewicht zu bringen scheiterten elend. Vor lauter Schreck blieb mir mein Herz fast stehen. Meine Arme ruderten ziellos durch die Luft bevor sich tausende Kieselsteinchen in meine Handflächen bohrten, als mein Körper verzweifelt versuchte die Schäden, den ich bei einem direkten Aufprall davontragen würde zu mindern. Hart landete ich auf dem Boden und nach einigen Sekunden verspürte ich erst den brennenden Schmerz, der sich durch meine Glieder fraß. Zögerlich versuchte ich meinen brummenden Kopf vom Boden anzuheben, aber mein Verlangen danach einfach in diesem Laubbett liegen zu bleiben gewann. Das Laub roch etwas modrig, doch seine Beschaffenheit fing mir an zu gefallen. Langsam entfernte ich die Kopfhörer. Meine Handflächen streichelten über die, angenehm von der Sonne aufgeheizte Erde. Erst jetzt bemerkte ich wie taub mich das Trällern der Musik über Jahre hinweg gemacht hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich in den Genuss, der Natur zuzuhören und das was ich vernahm gab mir das Gefühl, was ein Song mir niemals hätte geben können. Das zarte Rauschen der Baumkronen unterstrich das kraftvolle Zwitschern der Vögel während immer wieder ein geheimnisvolles Rascheln dazwischen funkte. Ich fühlte mich geborgen und richtete mich nach und nach auf. Das federweiche Moos gab langsam unter mir nach als ich mich aufrichtete. Meine, an Bildschirmlicht gewöhnten Augen kamen nicht mehr aus dem Staunen hinaus und ich fragte mich, ob ich träumen würde. Die untergehende Sonne verbreitete ein wunderschönes, orangenes Licht am Horizont. Ich hatte noch nie so einen prachtvollen Farbverlauf in meinem Leben gesehen. Einfach fantastisch. Ich sog die frische Luft gierig ein und genoss dabei den zarten Duft nach Kiefernnadeln und saftigen Gräsern. Wie konnte ich nur tagelang am Stück diese trockene Heizungsluft eingeatmet haben? Ich drehte mich im Kreis und ließ alle Sinneseindrücke auf mich zu kommen. Der Mischwald lebte, ich hatte das Gefühl, dass er sich jeder, von mir ausgehenden Bewegung anpasste. Es war perfekt ausgeglichen, wie bei einem Konzert, bei dem alle Instrumente im perfekten Einklang miteinander waren. Mein Handy glitt bei der Bewegung aus meiner Hand und ich machte keine Anstalten den Prozess irgendwie aufzuhalten. Ich drehte mich so lange energiegeladen um meine eigene Achse bis mir schwindelig wurde. Dieses ganze Ökosystem, diese mächtigen Bäume, die dunkelgrünen Büsche und die vielseitige Tierwelt, alles war so komplex aufgebaut, dass ich mich glücklich schätzte für einen Moment zu ihm zu gehören, mit ihm zu verschmelzen. Elegant ließ ich mich zurück in das federnde Moos fallen. Einige Minuten lang beobachtete ich die im Wind wehenden Blätter der Baumkronen die mich auf eine angenehme Weise hypnotisieren. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und ließ meine Gedanken zur Ruhe kommen. Dieses Erlebnis musste ich einfach genießen, denn jede Faser meines Körpers schrie danach. Jede Sekunde würde ich auskosten, denn das war es wert. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich ein wildes Herz hatte, es war mein Urinstinkt. Ich hatte es schon immer gehabt, auch wenn es tragischer Weise zu lange in einem technischen Käfig gefangen gewesen ist. 

 




Envoyé: 21:09 Mon, 18 March 2019 par: Feltes Michèle