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Lavina Lino

Gibt es ein Wort?



Die sanfte Sommerluft trug eine gewisse Ruhe durch das Fenster ihres Schlafzimmers. Den Besuch und dessen Geschenk erfreuten die Frau sehr, geschwind jedoch entschuldigte sie sich, denn aufgehalten werden wollte sie auf keinen Fall.

Auf dem makellos gemachten Bett lag ihr reisefertiger Koffer. In diesem verstaute sie vorsichtig die Sommerruhe, so dass bloß keine entfliehen konnte. Edles Gepäck, ebenso schön wie die Perlen, die sie trug und das Gesicht, das ihr aufgemalt wurde. Die Armbanduhr, welche auf ihrer Kommode lag, verriet ihr, es sei Mittag, dennoch waren die Augen der Dame stets erschöpft. Im Laufe der Zeit hatten diese schon der halben Welt ins Antlitz geblickt, ihre Stiefel schon zig Straßen überquert. Zahllose Geschichten, niedergeschrieben auf Körper und Geist, nur für sie greifbar und begreifbar. In einem Versuch vielleicht doch den rasanten Rausch zu unterbrechen, strich die Frau mit der Hand über den Rahmen des Wandspiegels, bis ihr Spiegelbild sie daran erinnerte, dass sie trotz jeder Unschlüssigkeit mit der Strömung schwimmen musste.

Sie ließ sich tragen.

Wellenreiterin.

Im düsteren Flur wechselte sie ihre letzten stillen Worte mit den Büchern im Mahagoni Regal, den Porzellanpuppen mit den teuren Gesichtern und tauschte ein eisiges Lebewohl mit der Putzfrau aus. Gemächlich wurde die Reisende durch den Vorgarten und das eiserne Tor der Einfahrt geführt. Sie wollte nicht zurückblicken, auf die Dinge die einst ihr gehörten, die sie, der Gefahr sich zur Rückkehr verlocken zu lassen wegen, so bald wie möglich aus ihrem Kopf verbannen musste. Draußen erwartete die Frau ihr Taxi. Ihre goldene Uhr hatte sie liegen gelassen, aber sie war sich sicher mit dem Minutenzeiger mithalten zu können. So schloss die Dame behände ihren Koffer auf, holte die Sommerruhe hervor, ließ sie behutsam in die Innentasche ihrer Weste gleiten. Und da stand sie nun, betrachtete die dunkelgrünen Wiesen auf der anderen Seite der Landstraße. Die Wiesen, die er gekauft hatte, so wie das Haus, die Perlen, die Uhr, die Stiefel und die Gesichter. Alles hatte er aus einem Bilderbuch herausgerissen und damit versucht Seele, Sinn  und Sicht der Frau zuzukleben. 

Vergeblich? Vermutlich.

Letztendlich war das Taxi eingetroffen. Auf dem Beifahrersitz wollte sie Platz nehmen, sie mochte nämlich die Aussicht, schrankenlos. “So soll es sein.” Der Chauffeur willigte ein. “Wenn ich fragen darf, wie geht es ihnen?” Auf seinen Versuch hin ein Gespräch in Gang zu setzen schwieg die Frau, eisern, doch konnte sie nicht anders, als die Frage in ihrem Kopf herumschwirren zu lassen.

“Gibt es ein Wort”, rätselte sie,

“Gibt es ein Wort für das, was ich heute fühle?”

 




Envoyé: 01:42 Mon, 18 March 2019 par: Lavina Lino