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Kohl Joshua

Der Soldat

 


Fünf Tagesmärsche waren wir nun schon unterwegs, mit nur wenigen Stunden, die zum Schlafen gedient hatten. Um die hundert Kilometer hatte unser Trupp, der aus einem dutzend erfahrener Soldaten bestand, nun schon zurückgelegt, und noch immer hatten wir unser Ziel nicht erreicht. Als wir schließlich bei diesem stockdunklen Wald angelangten, von dem ich bereits einhundert Schritt davor das kratzige Knarzen der knorrigen Kadaver von abgestorbenen, kahlen Bäumen zu hören vermochte, hoffte ich, dass es sich hier um den Wald „Domaine de Haye“ , der sich kurz vor Nancy befand, handelte. Ich dachte daran, wie ich unweit von dieser wunderbaren Idylle hier aufgewachsen war. Viele aus dem Trupp und ich waren bereits als Kinder Freunde gewesen, und hier hatten wir oft Räuber und Gendarm gespielt. Ich konnte mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten.

Es war ein wundervolles, einst sehr friedvolles Fleckchen Erde, an dem meine Soldaten nun die Erlaubnis hatten, sich hinzulegen und sich auszuruhen. Irgendwo hörte man leise ein Bächlein plätschern, einige Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch die schneeweißen Wolken, in den Weiden, die ihre Wurzeln zu einem schmalen Pfad formten, hörte man die Vögel ein fröhliches Lied summen, als ob sie es mit der ganzen Welt teilen wollten und selbst der düstere und manchmal so schauerliche Wald erschien nun plötzlich viel einladender. Es war, als würde die Natur eine ganz eigene und einzigartige Sinfonie erklingen lassen.

Hier, wo wir nun endlich ein wenig zu Ruhe kamen, ließ ich meinen Erinnerungen der letzten Jahre freien Lauf. Wir waren damals der erste Trupp gewesen, der sich dem Führer entgegengestellt hatte, seit dem Angriff auf Polen waren wir dabei. Das Ganze waren unerträgliche Strapazen gewesen, die ich jetzt noch einmal Revue passieren ließ. Anfangs waren wir in Frankeich stationiert. Grausame Bilder sahen wir dort, wie die Deutschen ohne jeden Skrupel die unschuldige Bevölkerung unserer Heimat abschlachtete. Nach dessen Eroberung saßen wir lange, zu lange, in Gefangenschaft. Am 17. September 1940 gelang es uns dann auszubrechen. Wir dachten jedoch nicht eine Sekunde daran, dass wir fliehen und uns in Sicherheit bringen könnten, dass unser tollkühner Plan gelingen könnte. Urplötzlich musste ich lachen und schüttelte dann meinen Kopf über unsere waghalsige Aktion.

Danach waren wir zweitausend Kilometer gen Nord-Ost gezogen, in die eisige Sowjetunion, wo wir mit der berühmt berüchtigten und nicht minder legendären Roten Armee Seite an Seite an vorderster Front kämpften. Ich erinnerte mich, wie ich vor kurzem, im Februar dieses Jahres, mit Stalin, Roosevelt und Churchill nach Jalta gereist war und dort mit ihnen an einem Tisch gesessen hatte. Zwei Wochen verbrachte unser Trupp dann auf einem Militärlaster, der uns bis nach Basel brachte, von wo aus wir nun in Richtung Paris marschierten. Dieser Krieg, dieser unerbittliche verdammte Krieg, hatte mir so vieles genommen, jedoch auch einzigartige und fantastische Möglichkeiten offenbart...

Nachdem die Truppen des Führers dann in der Sowjetunion kläglich versagt hatten, zog es uns also über Jalta wieder zurück nach Frankreich, wo...

Himmel, was war denn das? Hinter einem Baum, keine fünfzig Schritt von unserem Rastplatz entfernt, schiensich doch tatsächlich jemand zu verstecken.Meine Gedanken überschlugen sich: Konnte es sich tatsächlich um einen Hinterhalt eines deutschen Trupps handeln? Ein Späher? Oder war es nur ein einzelner Soldat, der von seinem Feldwebel zurückgelassen wurde, weil er ganz einfach zu schwach war? Er schien uns noch nicht bemerkt zu haben, ich musste nun ganz einfach die Ruhe bewahren. Abwarten? Frontalangriff? Da fasste ich spontan einen Entschluss. Zuerst gab ich mit einem flüchtigen Kopfnicken meinen Männern zu verstehen, sich ruhig zu verhalten, ich zeigte mit dem Finger in die Büsche. Dann sprang ich lautlos auf und rannte geduckt auf ihn zu. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass der Soldat eine Uniform der deutschen Schutzstaffel trug. Doch anstatt nun doch etwas vorsichtiger zu sein, schürte dieser Fakt meine Wut nur noch mehr.

Er bemerkte mich erst, als ich unmittelbar vor ihm war, er hatte keine Chance zu entkommen. Ich packte ihn am Kragen, wollte vorerst ruhig bleiben, doch wie aus dem Nichts packte mich die Wut und ich schlug ihm mitten ins Gesicht. Ich brüllte ihn wie von Sinnen an: „Was hast du hier zu suchen, du dreckiges Nazischwein…“ Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, er kam gar nicht dazu, zu antworten und plötzlich ... sackte er zusammen. Er war ohnmächtig geworden.

Da erst bemerkte ich, wie ausgemergelt er aussah, ja fast ausgehungert, von Muskeln kaum zu reden. Er war übersäht mit grässlichen Schnittwunden und tiefblauen Flecken. War er ein Desertierter? Ich zog einen Ausweis aus seiner linken Brusttasche, und stutzte: der Mann in der SS-Uniform war kein deutscher Soldat, sondern laut Ausweis ein Luxemburger. Lange hatte ich diesen Krieg bereits erlebt, doch ein Luxemburger war mir bisher noch nie zu Gesicht gekommen.

Nach einigem Überlegen entschied ich mich, den Verletzten zu unserem Trupp zu bringen und ihn dort etwas aufzupäppeln. Kurze Zeit später kam der Mann wieder zu sich. Er erschrak fürchterlich, als er über sich ein dutzend Soldaten sah. Er wollte schon aufspringen und wegrennen. Dann ging ihm anscheinend auf, dass wir keine deutschen Soldaten waren, und er entspannte sich etwas. Ich fragte ihn, wer er denn sei, ich war mir nicht sicher, ob sein Pass gestohlen war oder nicht. Er antwortete, nannte uns den Namen, der auch auf dem Pass stand. Einer der Soldaten fragte ihn, was er denn hier in einer deutschen Uniform als Luxemburger zu suchen hätte. Sichtlich erschrocken über den Fakt, dass wir bereits etwas über ihn wussten, erzählte er uns stockend seine Geschichte, währenddessen er sich eifrig an unserem Haferbrei genüge tat.

Er war in einem kleinen Dorf namens Kayl, unweit der französischen Grenze, in Luxemburg geboren, ehe sein kleines und friedliches Ländchen dann von der deutschen Wehrmacht überrumpelt worden war. Er selbst war dann jahrelang in einer französisch-luxemburgischen Untergrundorganisation tätig, der L.V.L., Lëtzeburger Volleks Legio’n, ehe er von einem Maulwurf an die Deutschen verraten wurde und auf Umwegen ins Konzentrationslager Natzwiller-Struthof gesteckt wurde. Er erzählte uns von diesen unendlichen Misshandlungen, die ihm seine Peiniger angetan hatten, warnte uns vor diesen unbarmherzigen SS-Soldaten. Im März 1945 wurde dann das ganze Lager evakuiert, aus Angst vor den bereits einmarschierenden Alliierten; man hatte den Befehl jeden nach Dachau zu bringen. Auf der Grenze zu Deutschland sei man dann in einen Hinterhalt der Amerikaner geraten und es sei zu einem wilden Gemetzel gekommen. Inmitten dieses Tumults hatten er und einer seiner engsten Freunde einen deutschen Offizier umgebracht, er hatte sich dessen Uniform übergezogen. Gemeinsam flüchteten die Freunde mit dessen Motorrad. Zunächst raus aus Deutschland, durch Kehl nach Strasbourg, und dann möglichst schnell mithilfe des Roten Kreuzes wieder zurück nach Luxemburg in die Heimat, um dort den Abwehrtruppen zur Seite zu stehen. Das jedenfalls war der Plan. Sein Freund sei, wie er uns erzählte, während der Motorradreise an seinen Verletzungen gestorben, doch er selbst hatte irgendwie überlebt. 

Ich schmunzelte. Irgendwie fand ich Gefallen an diesem kleinen, schmächtigen und doch so gerissenem Luxemburger. Auch meine Soldaten schienen ihm zugetan zu sein. Ich überlegte, erinnerte mich, dass wir noch eine Ersatzuniform im Gepäck hatten. Also nahm ich diese Uniform heraus und hielt sie dem gerissenen, kleinen Luxemburger hin. Er zögerte, schließlich hatte er wie wir auch vor allem etwas im Krieg gelernt: Vertraue niemandem außer dir selbst. Nach ein paar Sekunden, die er zum Nachdenken beanspruchte, griff er sich seine neue Arbeitskleidung.

Ergriffen salutierte er und bedankte sich herzlich bei jedem Soldaten einzeln, ehe wir uns dann alle wieder erhoben und weiterzogen, dahin, wo wir in diesem grauenvollen Krieg noch gebraucht wurden. Einen Krieg, der sich hoffentlich bald dem Ende zuneigen würde.

 

 

 

 

 




Envoyé: 19:49 Sun, 17 March 2019 par: Kohl Joshua