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Elsa Hengel

Auf der anderen Seite der Tür

  
   
   „Hier ist noch dein Pausenbrot, Karina“, sagte meine Mutter mit ihrer lieblichen Stimme und drückte mir ein in Aluminium verpacktes Brot in die Hand. Dann ging sie mit kurzen Schritten zur Tür zurück und ich lief los.

   An diesen Tag erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Dabei passierte es, als ich gerade mal fünfzehn war und zum ersten Mal verschlafen hatte. Keuchend erreichte ich die Schule und sah auf die große Uhr im Eingang. Bereits Viertel nach acht. Verdammt.
   Aufmerksam schlich ich durch den Flur, denn ich wollte auf gar keinen Fall mit dem Schuldirektor kollidieren. Er hasste unpünktliche Schüler über alles. Während ich die Treppe zum ersten Stock hochstieg, nahm ich einen stechenden Geruch wahr. Erst dachte ich, er stamme von den Toiletten direkt neben mir, doch ich irrte mich. Angeekelt schmiss ich das mit Käse belegte Brot meiner Mutter in den erstbesten Mülleimer.
   Vor der dritten Tür des Flurs blieb ich stehen. Neben ihr war ein Schild mit der Aufschrift 5eCM1 aufgehängt, darunter unser Klassenfoto. Mein ganzer Körper zitterte, meine Hände schwitzten fürchterlich und mir kam es so vor, als ob mein Herz lauter als alle Alarmanlagen der Welt klopfte.

   „Wieso nur bist du zu spät!“, zischte ich zu mir selbst und versuchte anschließend, mich zu beruhigen. „Jeder ist irgendwann mal zu spät.“ Trotzdem wünschte ich mir, dass ich auf der anderen Seite der Tür etwas Anderes vorfinden würde als einen Klassensaal vollgepackt mit Schülern, die mich wie Autobusse anglotzten. Tief Luft holend  nahm ich die Klinke in die Hand und öffnete die Tür.
   Mit runter geklappter Kinnlade starrte ich in einen Flur aus Metallplatten. Keine Bänke, keine Tafel, keine Schüler, kein Lehrer. Nur Tonnen Metall. Erst wagte ich es nicht, einen Schritt nach vorne zu machen, doch meine Neugier überwand schließlich meine Ängste. Fasziniert genoss ich das Geräusch, das jedes Mal in meine Ohren drang, wenn meine Schuhe auf die Platten aufkamen. Das hier war kein einfacher Flur, es ähnelte eher einer Raumschiffkulisse aus einem Weltraumfilm!
   Der Metall-Weg führte in einen großen Raum, ebenfalls mit solchen Platten gebaut, aber hier gab es auch einige Fenster, durch die man den Weltraum mit seinen funkelnden Sternen sehen konnte. Eine solche Aussicht hatte ich noch nie zuvor genossen können.
   „Soldat Schmidt, da sind Sie ja!“, rief eine männliche Stimme, die ich sofort wiedererkannte: Herr Davidson! Mit ernstem Blick kam mir mein Mathe Lehrer entgegen. Statt Hemd und Jeans trug er jedoch eine camouflierte Uniform, als wäre er Teil einer Armee.
   „Guten Tag, Herr Davidson“, begrüßte ich ihn freundlich.
   „General Davidson, wenn ich bitten darf, junge Soldatin“, korrigierte er. „Und jetzt zieht Eure Uniform an.“ Mit einer schnellen Bewegung drückte er mir die Kleidung in die Hand, drehte sich um und schritt davon.
   „General?“, flüsterte ich verwirrt. „Ich wusste doch, dass der eine Meise hat!“
   Im nächsten Augenblick marschierte eine Truppe von jungen Soldaten an mir vorbei. Ich erkannte sogleich alle Gesichter und identifizierte sie als meine Klassenkameraden, doch trugen sie alle, genau wie Herr Davidson, eine Armeeuniform. Außerdem waren sie mit futuristischen Waffen ausgerüstet, welche ich mir nicht einmal in meinen Träumen hätte vorstellen können.
   Fassungslos betrachtete ich diese seltsame Welt und verstand nun, was das alles war: ich befand mich in einer anderen Dimension, in der sich zwar alle Personen außer meiner eigentlichen Dimension befanden, sie aber komplett verschiedene Rollen hatten und andere Leben führten. Nachdenklich suchte ich eine Kabine, um mich umzuziehen. Danach hielt ich nach General Davidson Ausschau.
   „Hier ist Eure Plasmawaffe, Soldat Schmidt“, erklärte eine liebliche Frauenstimme, drückte mir die Waffe in die Hand und verschwand augenblicklich wieder.
   Verwundert begriff ich, dass mich meine Mutter gerade Soldat genannt und mir eine Waffe überreicht hatte. Was für ein seltsamer Ort!
   Alarm! Alarm!
   Erschrocken wirbelte ich herum.
   Alarm! Alarm!
   „Soldaten! Alle mir nach! Hierhin!“, befahl General Davidson laut rufend.
   „Was ist los?“, fragte ich aufgeregt, als ich mich an seine Seite begeben hatte.
   „Die Bewohner von Yxodo haben unser Raumschiff mit ihrer Flotte umzingelt und werden jeden Augenblick versuchen, es zu stürmen!“, erklärte er. „Los kommt, Soldat Schmidt!“
   Ich folgte dem General durch die metallischen Gänge bis in den riesigen Hangar und staunte einmal mehr über das Raumschiff. Doch gerade in diesem Moment landeten vier futuristische Raumschiffe der Aliens direkt vor dem Trupp Soldaten, der aus meinen Mitschülern bestand. Die grünen Kreaturen mit drei Armen und einer merkwürdigen Kopfform stürzten sich in den Kampf gegen die Soldaten, welche sich tapfer verteidigten. Ohne lange zu überlegen entsicherte ich meine Waffe und rannte zu ihnen, als plötzlich einer der Soldaten getroffen wurde und verletzt zu Boden stürzte.
   Ich entschied mich dafür, ihm beizustehen, und half dem jungen Mann auf die Beine. Da trafen sich unsere Blicke. Bei diesen dunkelbraunen Augen schmolz ich dahin und spürte eine innere Wärme. Ich vergaß alles um mich herum und bemerkte, wie sich unsere Gesichter langsam näherten.
   Doch gerade dann schoss ein Plasmastrahl knapp an meinem Gesicht vorbei und wir beide schreckten hoch. Ein Alien war am Zielen und kurz davor, abzudrücken. Er wollte uns erschießen! Blitzschnell reagierend schoss ich ihm mit meiner eigenen Waffe ein Loch in den Bauch, so dass er tot umfiel. Erst einige Augenblicke später wurde mir bewusst, dass ich eben mein Leben und auch das des schönen Jungen gerettet hatte. Glücklich strahlte ich ihn an und er lächelte dankbar zurück.
   „Wir haben sie zurückgeschlagen, Soldaten. Gute Arbeit“, lobte uns General Davidson und blickte stolz auf seine Armee.
   Ich freute mich für die Besatzung des Raumschiffs, aber dann fiel mir ein, dass es vielleicht besser wäre, wenn ich in meine Dimension zurückkehren würde. Schließlich blieb die Zeit dort nicht stehen. Also trat ich vor meinen Mathe Lehrer und verkündete, dass ich das Raumschiff verlassen würde. Er nickte verständnisvoll.
   Nachdem ich in der Umkleidekabine gewesen war und wieder in meinen normalen Kleidern steckte, erschreckte mich der schöne Junge, in dem er mich am Arm packte. Er musste nicht reden, da seine Augen tausend Worte ausstrahlten. Händchenhaltend schritten wir durch den metallischen Gang bis zur Tür, die zurück in meine Dimension führte. Dort küsste er mich nach einer langen Umarmung auf die Wange, welche anschließend rot wurde. Dann warf ich ihm einen letzten Blick zu, öffnete die geheimnisvolle Tür und betrat das wohlbekannte Schulgebäude.
   „Wieso gibt es alle Astronauten auch in dieser Dimension, aber nicht diesen schönen Jungen?“, fragte ich mich stumm und ließ mich auf einen knacksenden Stuhl nieder. Eine klitzekleine Träne kullerte über meine Wange, auf welche er mich noch vorhin geküsst hatte.
   Da hörte ich jemanden um die Ecke kommen. Neugierig stand ich auf und sah den mir unbekannten Schüler, wie er mitsamt seinen Büchern zu Boden stürzte. Ich half ihm sofort beim Aufstehen, als sich unsere Blicke trafen und ich wieder diese angenehme Wärme spürte. Wir nahmen uns bei den Händen und sahen uns schweigend an. Schließlich küsste er mich liebevoll auf die Wange und ließ sie rot wie eine Tomate werden.




Envoyé: 11:47 Wed, 1 April 2015 par: Elsa Hengel