Retour

Soares Pereira Géraldine

Zuhause



Es musste wohl schon einige Zeit vergangen sein, denn sie konnte nicht einmal mehr sagen wo sie waren. Hinten im Auto saß ihr Bruder, er weinte bitterlich und zog die Nase hoch, immer und immer wieder hörte man ein Schluchzen von hinten. Gerne hätte sie ihn getröstet, doch sie konnte sich wegen den vielen Taschen nicht bewegen und außerdem war sie wahrscheinlich sowieso viel zu wütend, um jetzt jemanden zu trösten. Sie streckte also einfach ihre Hand nach hinten und nach einigen Augenblicken ergriff eine kleine Hand sie. Sie war ganz nass von den Tränen, die er damit weggewischt hatte. Sie traute sich nicht etwas zu sagen, sie starrte also einfach auf die Autobahn und hielt die Hand ihres Bruders.

Sie fand die heruntergekommene Gegend hatte etwas romantisches. Sie war keineswegs ein Stadtkind und würde es auch niemals sein wollen, doch gelegentlich fand sie gefallen an der Stadt. Dann fühlte sie sich wie in einem Film und dachte jeden Moment könnte ihr Hut wegfliegen und die Liebe ihres Lebens würde ihn fangen und so würden sie sich kennenlernen, doch am Ende musste sie sich damit abfinden, dass das auch nur in Filmen funktionierte. Sie war nun mal ein Tagträumer und stellte es sich gerne vor. Doch heute würde selbst der beste Tagtraum sie nicht vergessen lassen was ist. Sie wäre gerne in ihrem Haus geblieben, doch man hatte entschieden, dass sie und ihr kleiner Bruder besser bei anderen Leuten aufgehoben wären. Sie hätten auch bei ihrer großen Schwester leben können, doch sie war nicht auffindbar und um ehrlich zu sein kannte sie ihre Schwester so wenig es machte keinen Unterschied ob sie bei ihr oder einem Fremden leben würde. Viel lieber wäre sie daheim geblieben in ihrem eigenen Zimmer. Dort wo all ihre Kleider waren und all ihre Fotos hingen, dort wo sie, wenn sie wollte, aus dem Fenster aufs Dach klettern konnte. So lange hatten sie es schon dort überlebt was würden ein paar Jahre mehr für einen Unterschied machen, und überhaupt sie fand es gar nicht schlimm zuhause, sie verstand all die Leute nicht die auf einmal sagten dies wäre kein Platz für zwei Kinder. Sie war ja auch kein Kind mehr, jedenfalls sagte man immer sie sei eine junge Dame und eine junge Dame kann kein Kind mehr sein. Und ihr Bruder, auf den hätte sie doch im Ernstfall auch selbst aufpassen können. Vielleicht war sie also doch noch ein Kind, denn sie verstand die plötzliche Entscheidung der Erwachsenen nicht.

Es war schon abends als sie die nächste Stadt erreicht hatten. Sie hatten beide schrecklich Hunger, doch keiner wagte es zu sagen. Vielleicht wäre es nicht so schlimm, wenn sie morgens etwas gegessen hätten, doch das taten sie nie, denn man kann nichts essen, wenn nichts da ist. Als sie parkten drehte sie sich um, ihr Bruder war eingeschlafen. Sie stieg aus dem Auto und drehte sich zum Sonnenaufgang, es war ein besonders schöner, wäre sie jetzt zuhause dann wäre sie aufs Dach geklettert und hätte ihn von dort aus beobachtet. Doch sie durfte nicht nach zuhause und plötzlich war sie schrecklich traurig und wollte weinen, so wie ihr Bruder es vorhin gemacht hatte. 

Sie ging zu seiner Tür und machte sie auf, vorsichtig hob sie ihn aus dem Sitz und presste ihn an sich. Vielleicht verstand sie nicht was passierte und warum und vielleicht war sie jetzt auch unglaublich traurig, dass sie nicht mehr nach Hause durfte, doch sie hatte immer noch ihren Bruder. Und so schwor sie sich dort auf dem Parkplatz, sie würden ihren Bruder niemals, unter keinen Umständen und für nichts auf der Welt verlassen. Denn er war alles was ihr blieb und sie liebte ihn dafür umso mehr. 

 




Envoyé: 18:37 Mon, 29 June 2020 par: Soares Pereira Géraldine