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Roth Kiara

Jana

 
Gefühle kommen und gehen. Das sagt meine Mutter immer, wenn ich Liebeskummer habe. Aber sie hat Unrecht. Es gibt Gefühle, die kommen ungebeten und gehen nicht wieder weg. Sie klammern sich an dir fest und lassen nicht mehr los, nisten sich tief in dir ein wie ein Virus, das darauf lauert auszubrechen. Ehe du dich versiehst, gibt es dich nur noch zusammen mit diesem Gefühl, das schwerer auf dir lastet als alles andere.
In meinem Fall ist es die Schuld, die zu meinem ständigen Begleiter geworden ist. Sie lässt nicht von mir ab, seit ich in Janas Gesicht geblickt habe, wenige Sekunden, bevor es passierte. In ihren nussbraunen Augen habe ich meine Reflektion gesehen, mein eigenes Erschrecken. Ich hätte sie aufhalten können. Doch ich habe mich keinen Meter von der Stelle bewegt.
 
Wenn mich vor einigen Wochen jemand gefragt hätte, wie ich Jana beschreiben würde, hätte ich nichts zu erwidern gewusst. Ihre Haut war so blass, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Braune Haare, farblose Klamotten. Ihr Erscheinungsbild war darauf zugeschnitten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken. Erst hatte sie damit Erfolg. Bis die Jungs aus unserer Klasse herausfanden, dass sie ihre eigene Unsicherheit damit überspielen konnten, auf Schwächeren herumzuhacken. Man sagt, Mädchen seien die Expertinnen, wenn es um psychische Gewalt geht, aber die Jungs aus unserer Klasse machten ihnen Konkurrenz. Ihre Sprüche waren zwar weniger gerissen, dafür aber vulgärer und schonungsloser.
Jana wehrte sich nie. Ihre einzige Reaktion auf die Schikane war ihr durchdringender, kühler Blick, den sie vor dem Spiegel einstudiert haben musste. Er war gut, aber gespielt, das erkannte ich an dem kaum wahrnehmbaren Zucken ihrer Unterlippe, die sie schlechter unter Kontrolle hatte als den Rest ihres Gesichtsausdrucks.
Die anderen sahen immer nur zu. Ich sah immer nur zu. Wir alle wussten, dass es ungerecht war, aber niemand kam auf die Idee, für Gerechtigkeit zu sorgen. Vermutlich wäre es einfach gewesen, wenn mehrere von uns ihre Stimmen erhoben hätten. Doch wir blieben stumm, sogar die Lehrer. Wenn die Klasse zu laut kicherte, bat Herr Müller um Ruhe, aber die Lästerei stoppte er nicht - schließlich war es nicht seine Angelegenheit. Nein, es dauerte noch eine ganze Weile, bis Jana zu irgendjemandes Angelegenheit wurde.
 
Die Schuld ummantelt dich. Eine zähklebrige Masse. Du willst vorankommen, oder zurück. Doch es geht nicht. Mit eisigen Klauen hält sie dich fest.
Was haben wir uns dabei gedacht? Jeder wusste, dass es kindisch war. Aber niemand hat es ausgesprochen. Der fatalste aller Fehler: Jeder Einzelne verweilte in dem Glauben, die anderen seien davon überzeugt, dass die Aktion harmlos ist. Und die anderen haben immer Recht. Oder?
Ich weiß, dass ich tun muss, was getan werden soll, aber ich bin wie gelähmt. Kann nicht klar denken. Will ich auch gar nicht. Ich will nicht verstehen, was ich getan habe, denn sonst könnte ich nicht länger mit mir selbst leben. Es zu verstehen würde es realer machen. Unerträglich real.
Zieh deinen Mantel an! Öffne die Haustür! Mehrmals befiehlt mein Hirn meinem Körper, was zu tun ist, damit er nicht in Starre verharrt. Geh voran. Setz einen Fuß vor den anderen. Los! Mit jedem Schritt wird der Fluchtimpuls drängender. Ich muss immer mehr Kraft aufbringen, um meine Beine zu heben. Doch ich kann nicht mehr zurück.
 
Jana weinte nie. Nicht vor den Augen anderer. Nur ein einziges Mal hörte ich auf dem Mädchenklo ein Schluchzen, das nur von ihr stammen konnte. Leise, mühsam zurückgehaltene Tränen, die nun endlich hinausdurften. Die Jungs hatten ihr während der Deutschstunde besonders viele spöttische Kommentare entgegengeschleudert, aber ich konnte mich nicht an deren Wortlaut erinnern, so sehr war ich bereits daran gewöhnt.
„Jana?"
Zum ersten Mal sprach ich sie direkt an. Wahrscheinlich hätte ich das nicht getan, wären wir nicht allein gewesen.
Das Schluchzen verstummte.
Ich wusste nicht, weshalb ich es tat, aber ich wartete vor dem Waschbecken, bis es zur nächsten Stunde klingelte. Trotz allem tauchte sie immer pünktlich zum Unterrichtsbeginn auf.
Sie zuckte kurz, als sie sah, dass ich noch da war. Das bisschen Wimperntusche, das sie benutzte, war unter ihren geröteten Augen zu grauen Flecken verlaufen.
„Was haben sie getan?“
Sie senkte den Kopf. „Geld.“ Die Tränen erstickten ihre Stimme. „Sie wollen Geld, sonst behalten sie mein Handy. Sie haben vor dem Schultor auf mich gelauert und es mir abgeknöpft.“ Sie wirkte so zerbrechlich, dass ich den Drang verspürte, sie zu umarmen. Doch das konnte ich nicht tun, nicht hier, wo jederzeit jemand uns sehen konnte.
„Wie viel?“
„Hundert. So viel hab ich nicht.“ Als sie mich ansah, schimmerte in ihren Augen etwas wie Hoffnung auf. Kurz durchströmte ein wärmendes Gefühl meine Adern, das ich nicht recht zuordnen konnte, und sagte mir, was ich zu tun hatte.
Ich versicherte mich, dass sich niemand in der Nähe befand. Dann zog ich einen Fünfziger und einen Zwanziger aus meinem Geldbeutel. Für mich spielte Geld keine Rolle, mein Vater schmiss es mir entgegen, wenn ich ihn bloß lieb anlächelte.
Ungläubig starrte sie mich an und machte keine Anstalten, die Scheine entgegen zu nehmen. Ich presste sie ihr in die Hand.
„Kriegst du den Rest zusammen?“
Wortlos nickte sie, ihre Mundwinkel zuckten und formten dann ein schwaches Lächeln. Sie stürmte zur Tür.
„Kein Wort zu niemandem, verstanden?“, rief ich ihr hinterher. „Das hier ist nie passiert.“
Seit diesem Gespräch warf Jana mir ständig dankbare Blicke zu, die mich bald nervten. Eines Nachmittags sprach sie mich nach Schulschluss vor Mara und Zoey an.
„Wo geht ihr hin?“
Mir entging Zoeys skeptischer Blick nicht.
Erstaunlich selbstbewusst reckte Jana das Kinn und sah ihr direkt in die Augen. Normalerweise mied Jana jeden Blickkontakt. „Wollen wir was unternehmen? Ich könnte euch ein Eis spendieren.“
Mara brach in schallendes Gelächter aus, aber Zoey und ich stimmten nicht mit ein. Die Verblüffung war zu groß. Mir fiel auf, dass Jana eine für sie untypische rote Jeans trug, die ihr sogar stand.
„Ein Eis.“ Zoey legte die Stirn in Falten, als müsste sie nachdenken, aber ich wusste, dass ihre Antwort längst feststand. „Sorry, heute haben wir keine Zeit.“ Es klang nicht ganz so abschätzig wie erwartet, dennoch zeugte ihr säuselnder Tonfall davon, dass sie Janas Angebot nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte.
Doch Jana ließ nicht locker. In der Schule suchte sie immer auffälliger unsere Nähe und begann, mich jeden Morgen zu grüßen, nur mich und nur dann, wenn die Jungs es nicht hörten.
Zoey, Mara und ich waren ein eingeschworenes Team, und eigentlich hätte es klar sein sollen, dass in unserem Kreis für eine vierte Person kein Platz war, schon gar nicht für eine, die nicht entscheiden konnte, welche Schuhe am besten zu ihrer Jacke passen. So sahen das jedenfalls Mara und Zoey, die beschlossen, Janas Integrationsversuche auf ihre ganz eigene Art zu würdigen.
Nein, ich tue es schon wieder – ich wälze die Schuld auf die anderen ab. Das ist falsch. Es war unsere gemeinsame Entscheidung. Es war ebenso sehr meine Schuld wie ihre.
 
Es ist verführerisch leicht, den anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ein Schutzmechanismus. Ich weiß nicht, wie ich aufhören soll, es zu leugnen, vor meinen Eltern, vor Janas Familie, vor mir selbst. Wenn die Wahrheit ein so grässliches Gesicht hat, dass du nicht erkennen willst, dass es dein eigenes ist, fällt dir nichts schwerer als der Blick in den Spiegel.
Der Weg zum Polizeipräsidium ist mühselig und kräftezerrend. Am schlimmsten allerdings ist die Tatsache, dass er an Janas Wohnung vorbeiführt. Ich dachte, ich könnte es schaffen. Doch kurz, bevor ich in die Straße einbiege, sacken meine Knie ein und ich entscheide mich dafür, den Umweg über das Schulgelände zu nehmen. Das macht es nicht besser. Überall hat Jana Spuren hinterlassen. Ihr Geruch schwebt in der Luft, als hätte die Ortschaft einen Teil von ihr aufbewahren wollen.
Vor dem schmiedeeisernen Schultor sinke ich zu Boden. Hart schlage ich auf dem Asphalt auf, aber ich spüre keinen Schmerz. Jedenfalls keinen physischen.
 
Im Oktober fragte Jana zum dritten Mal, ob sie etwas mit uns unternehmen dürfe. Sie stand einige Treppenstufen unter uns und sah zu uns hoch wie ein Hund, der um Essensreste bettelte.
Der Blick, der uns als stumme Absprache diente, dauerte keine Sekunde an. Wir waren geübt darin, die Gedanken der anderen zu erraten.
„Natürlich darfst du mit uns abhängen. Doch zuerst musst du beweisen, dass es dir wirklich wichtig ist, Zeit mit uns zu verbringen.“
Wir wollten sehen, wie weit Jana gehen würde. Damals war mir noch nicht bewusst, worum es mir wirklich ging, doch heute ist es mir klar. Ich betrachtete Jana als Experiment.
„Was muss ich tun?“ In Janas Stimme schwang eine naive Neugierde mit. Ihre Augen strahlten vor Freude darüber, diesmal keine Absage bekommen zu haben.
Für sie war es die Hoffnung darauf, dass ihr Leiden ein Ende haben würde. Wer mit uns befreundet war, musste sich vor den Sticheleien pubertärer Jungen nicht fürchten. Für uns hingegen war es nichts weiter als ein Spiel.
Wir brachten Jana dazu, freizügige Fotos zu machen und mit unserem Geschichtslehrer zu flirten. Es konnte nicht so schlimm sein, schließlich entschied Jana sich freiwillig dafür. So dachte ich jedenfalls. Heute drängt sich mir immer öfter die Frage auf, inwieweit man von freiem Willen reden kann, wenn die Betroffene keinen anderen Weg zu ihrem Ziel sieht. Sie machte alles mit. Uns wurde klar, dass wir uns etwas Größeres einfallen lassen mussten, um sie abzuwimmeln. Etwas Abschreckenderes.
 
Immer noch liege ich auf dem Asphalt und wünsche mir, nicht mehr aufstehen zu müssen. Doch eine ältere Dame in einem grauen Regenmantel kommt in schnellen Schritten, die nicht zu ihrem Alter passen wollen, auf mich zu.
„Bei der Kälte holen Sie sich noch den Tod!“
Beim letzten Wort zucke ich zusammen. Hastig rapple ich mich auf, bevor die Frau sich bücken muss, um mir hoch zu helfen. Das flaue Gefühl in meiner Magengrube lässt mich wanken. Brechreiz steigt meine Kehle hoch, ich unterdrücke ein Würgen.
„Ich bin ausgerutscht.“ Die Lügen kommen mir umso natürlicher von den Lippen, je mehr ich mich von mir selbst entfremde.
„Soll ich Sie nach Hause begleiten?“
Ich drehe mich zur Seite, starre den Asphalt an und schüttle den Kopf. Seit dem Vorfall fällt es mir schwer, anderen Menschen in die Augen zu sehen. Ich fühle mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, die sich durch bloße Blicke überträgt.
Nachdem sie etwas Falsches getan haben, behaupten viele, sie seien sich nicht darüber bewusst gewesen, dass sie im Unrecht waren. Das ist eine Lüge. Ich glaube, man kann ganz genau zwischen Richtig und Falsch unterscheiden. Das Bauchgefühl sagt es einem. Manchmal will man bloß nicht darauf hören.
 
Der Masterplan kam von Zoey, und meine Zweifel in dem Augenblick, als sie ihn aussprach. Was würde ich darum geben, behaupten zu können, ich hätte es nicht besser gewusst?
„Denkt ihr wirklich ...“
„Oh, bitte!“ Mit strengem Blick sah Zoey mich an. „Du willst uns doch nicht den Spaß verderben?“
Mit blieb nur eine Antwort übrig. Stumm schüttelte ich den Kopf. Immer musste Zoey ihren Willen durchsetzen, und wenn sie das nicht schaffte, bestrafte sie diejenigen, die sie daran hinderten. Während andere sich mit ihrer Rücksicht selbst Steine in den Weg legten und mühsame Umwege in Kauf nahmen, marschierte Zoey stets schnurstracks auf ihr Ziel zu.
Um nicht bestraft zu werden, durfte auch ich ihre Pläne nicht hinterfragen. Schließlich würde es den Spaß zerstören.
 
Seit dem Vorfall befinde ich mich in einer Blase, die mich von der Außenwelt abschirmt. Geräusche und Gerüche nehme ich nur noch gedämpft wahr, ebenso wie meine Gefühle nicht mehr nach außen dringen. Ich lache nicht mehr, weine nicht mehr. Ich existiere noch, doch ich lebe nicht mehr. Quälend langsam zieht die Welt an mir vorbei, Tag für Tag, und mit jeder Sekunde finde ich meinen Platz darin schlechter wieder.
Das einzige Wesen, das mit mir in der Blase weilt, ist eigentlich viel zu groß, um hineinzupassen. Es ist das Monster in mir, meine dunkle Seite, die droht, die gute zu verdrängen. Das Monster wächst mit meinen Selbstzweifeln und ernährt sich von der Ungewissheit darüber, ob es meine gute Seite je gegeben hat. Die schlechte jedenfalls war schon immer da und hat nur darauf gelauert, zuzuschlagen. Ich häute mich wie eine Schlange und entblöße meine wahre Gestalt.
Ich muss weiter gehen. Nur so besteht noch Hoffnung darauf, den guten Teil in mir wiederzufinden, bevor er sich in dem schwarzen Sumpf aus Schuld verliert, in dem ich zu ersticken drohe. Die Aussicht auf das, was mich erwartet, vermischt sich zusammen mit dem Selbstekel zu einem giftigen Geschmack in meinem Mund, den ich nicht herunterschlucken kann.
 
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages malten einen goldenen Schimmer über die Wiesen. Sanfte Böen wirbelten meine Gedanken durcheinander. Obwohl ich einen dicken Mantel anhatte, fror ich. Selbst die Geräusche des Feierabendverkehrs drangen nur noch dumpf zu uns herüber. Wir befanden uns an einem Ort der Stille, und in diesem Moment auch an einem Ort der Einsamkeit. Nur Zoey, Mara, Jana und ich.
Janas Zittern übertrug sich auf meinen Körper, während wir den staubigen Weg entlanggingen, Zoey an der Spitze, Jana Hand in Hand mit Mara und mir. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich unter dem hohen Gras rostige Schienen herausschälten.
 „Was soll ich hier?“ Sie hielt meinen Blick fest, als könnte er ihr die Sicherheit geben, nach der sie sich sehnte.
„Der nächste Zug kommt in fünf Minuten.“ Als Zoey bemerkte, wie nervös Jana wurde, machte sie eine theatralische Pause, um die Wirkung ihrer Worte auszukosten. „Keine Sorge. Man sieht die Züge schon von Weitem.“
Ich legte Jana die Hand auf die Schulter. „Es geht ganz schnell.“ Ich wartete das zustimmende Nicken meiner Freundinnen ab und wünschte mir, ich hätte ihnen das Reden überlassen. Niemand wollte mir diese Aufgabe wieder abnehmen. „Sobald wir den Zug hören, geht es los. Wir brauchen nur ein Foto – auf den Schienen, mit dir und dem Zug.“
Sie starrte mich an, ungläubig, flehend. Jetzt. Jetzt wäre der Augenblick, in dem sie das Handtuch werfen sollte.
Jana tat nichts dergleichen. „Ich mache es.“
Ungreifbar schwebte ihre Aussage zwischen uns. Dies war einer der Schlüsselmomente, in denen jede Einzelne am liebsten die Notbremse gezogen hätte. Als Gruppe hingegen funktionierten wir anders. Uns leitete nicht die Summe unserer Einzelentscheidungen. Da war mehr als das, eine unsichtbare Macht, die uns den Zwang auferlegte, zu Ende zu bringen, was wir angefangen hatten. Jedem widerstrebte die Vorstellung, das Glied zu sein, an dem die Kette brach.
Es gab so viele Gelegenheiten, es zu verhindern.
Jana hielt den Blick gesenkt und fixierte angestrengt die Schienen. Stumme Blickwechsel. Der Wind wehte stärker, spiegelte unsere Unruhe wider.
Die nächste Minute wurde zu den längsten sechzig Sekunden meines Lebens. Ich zwang mich, tief ein- und auszuatmen. Sie durfte bloß nicht die Nerven verlieren.
Die Schienen vibrierten. Aus der Ferne ertönte das bretternde Geräusch des heranrasenden Zugs. Bevor Jana zu den Schienen lief, fiel ihr Blick in meinen.
 
Wenn ich an jenen Tag zurückdenke, gerät die Erinnerung an dieser Stelle ins Stocken. Dieser eine letzte Blick hätte mir verraten müssen, dass es sich längst nicht mehr um einen albernen Spaß handelte. Jana hatte Angst, aber ihr Wunsch, endlich dazuzugehören, übermalte ihre Furcht. Unser Experiment ist voll und ganz aufgegangen. Die Frage, wie weit sie gehen würde, beantwortete sich in diesen Sekunden: Bis zum bitteren Ende.
Irgendjemand sagte mal, Tapferkeit bestehe nicht darin, keine Angst zu haben, sondern sich seinen Ängsten zu stellen. Jana war die tapferste Person, die ich kennenlernen durfte.
Ich hingegen beschreite diesen Weg nicht, weil ich mutig bin. Im Gegenteil. Ich bin schwach. So schwach, dass ich mit meinen Schuldgefühlen alleine nicht mehr klarkomme. Solange ich die Wahrheit nicht herauslasse, frisst sie mich langsam von innen auf. Sie reißt mich nicht wie ein Raubtier in Fetzen, denn das wäre eine unverdiente Erlösung. Stattdessen nagt sie an meinen Eingeweiden, bis ich aus nichts anderem mehr bestehe als einer leeren Hülle.
Ich muss es tun. Aus purem Egoismus.
Vielleicht ist es Erleichterung, die mich durchströmt, als ich die steinerne Treppe zum Präsidium hochsteige. Ich weiß es nicht genau, denn ich habe vergessen, wie sie sich anfühlt. Bereits vor Tagen habe ich mir die Worte meiner Beichte zurechtgelegt, aber nun ist mein Kopf leer wie eine blankgewischte Schultafel.
 
Und dann ging alles so schnell. Wieder so eine hohle Phrase, die nur dazu dient, die Illusion der eigenen Unschuld aufrechtzuerhalten. Eine feige Entschuldigung dafür, nicht gehandelt zu haben, bis es zu spät war.
Es ging nicht schnell. Ich hätte Jana mindestens drei Mal vom Bahngleis wegziehen können. Ab dem Moment, in dem der Zug in meinem Sichtfeld erschien, dehnten sich die Sekunden zu Minuten aus.
Jana zückte ihr Smartphone. Es fiel zu Boden. Sie bückte sich, stolperte. Zoey kreischte auf. Bremsen quietschten.
Ich wusste, dass dies der Zeitpunkt war, in dem wir weglaufen sollten, aber ich konnte keinen meiner Muskeln bewegen. Irgendjemand drückte mich zu Boden, sodass die Gräser uns vor den Blicken der Passagiere abschirmten und mir die Sicht raubten. Ein Schrei entwich meiner Kehle und vermischte sich zusammen mit dem Krächzen der Bremsen und Janas Brüllen zu purem Schmerz, der sich in mein Gedächtnis einbrannte. In dem Brüllen steckte all die Kraft, die Jana in den letzten Jahren nicht zeigen konnte, die Verzweiflung, die sich angesammelt hatte, die Angst. Todesangst.
Wir wurden nicht erwischt. Die Geschichte des suizidalen Mobbingopfers passte zu gut, um sie zu hinterfragen. Nach diesem Tag sprach in der Schule niemand mehr ein Wort über Jana. Tote totzuschweigen funktioniert am besten, wenn ihr Name jedem, der ihn auszusprechen versucht, im Hals stecken bleibt.
 
Kaffeeduft strömt mir entgegen und ruft den mühsam unterdrückten Brechreiz wieder hervor. Die Wände im Präsidium sind so kahl und leblos, wie ich mich fühle, der Flur endlos lang.
Eins. Zwei. Drei. Ich habe mir angewöhnt, bis zehn zu zählen, wenn ich meine Gedanken nicht aushalte. Vier. Fünf. Sechs. Ich zwinge mich weiter zu atmen. Der simpelste aller menschlichen Reflexe lässt mich im Stich, als ob ein schweres Gewicht meine Lungen zusammenpresst. Sieben. Acht. Neun.
Ich stolpere nach hinten, als eine Tür aufgerissen wird und eine stämmige Kommissarin mich begrüßt. Mein Mund öffnet sich, aber kein Ton weicht von meinen Lippen.
Komm schon! Tu es. Tu es, so wie du es in Gedanken schon so oft getan hast.
„Tut mir leid, ich bin hier wohl falsch.“
Was habe ich hier verloren? Ich kann das nicht. Ich weiß nun, dass ich es nie schaffen werde, mein Geständnis laut auszusprechen.
Also ziehe ich mich in meine Blase zurück und lasse mich von der Schuld verzehren, bis nichts mehr von mir übrigbleibt. Vielleicht ist dies die einzig gerechte Strafe für Feiglinge wie mich.


 



Envoyé: 15:25 Sat, 16 March 2019 par: Roth Kiara