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Kurt Alexandra

deutscheflügel



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Die Mutter hatte gerade ihre Spätschicht beendet als ihr einfiel, dass sie noch ein paar Einkäufe erledigen musste. Sie überquerte die Straße und ging in Richtung Diskounter. Viel Geld hatte sie zwar nicht dabei, doch für Würstchen und Fertigkartoffelsalat würde es ausreichen. Ihre Tochter würde heute so gegen Mittag aus Spanien zurückkommen und die Mutter wollte sie mit deutscher Feinkost überraschen. Die Sechzehnjährige war nämlich bei einer Gastfamilie untergebracht und dort gab es eben nur spanische Spezialitäten. „Noch ein Löffel Paella und ich kotz denen uff den Tisch ey!“: so hatte sie ihre Situation beschrieben. Als sie im Diskounter vor der Kühltheke stand, griff die Mutter in ihre Jacke und holte ihre Brieftasche raus. Der Inhalt bestand aus ihrem Ausweis, einer überzogenen Kreditkarte, einigen Schmierzettel die sie wohl an irgendetwas erinnern sollten, einem Foto von ihrer Tochter und einem 10 Euroschein. Zufrieden steckte sie die Brieftasche wieder ein. Für zehn Euro konnte sie ein halbes Kilo Fertigkartoffelsalat, zwei deutsche Geflügelwürstchen (für ihre Tochter) und zwei vegetarische Schnitzel (für sich und ihren Mann) kaufen. Sie griff in die Theke, holte die Sachen raus und ging an die Kasse zum zahlen.

Es war früh am morgen und die Sonne schien. So beschloss die Mutter, bepackt mit Umhängetasche und Einkaufstüte, einen kleinen Umweg durch den Park zu machen. Die Vögel zwitscherten und es lag ein feucht, frischer Geruch in der Luft. Es war Frühling. Sie ging unter den riesigen Kastanienbäumen entlang und schaute hin und wieder in die grünen Baumkronen. Sie fühlte sich gut und voller Leben; ein Gefühl das sie schon länger nicht mehr kannte. Vor einigen Monaten hatte man bei ihr einen Tumor im Rückenmark entdeckt. Anfangs hatte sie nur über Rückenschmerzen geplagt, dachte sie wäre gestresst oder verspannt, doch als sich eine kleine Beule am Rückgrat gebildet hatte wusste sie dass etwas nicht stimmte. Zwar hatte man den Tumor schnell entfernen können und kurze Zeit später fing sie schon wieder an zu arbeiten aber die Angst, dass er doch zurückkommen würde, blieb. Vorsichtshalber hatte der Arzt sie vor einer Woche zur Kontrolle geschickt. Er hatte versprochen sie heute noch anzurufen um sie über die Resultate zu informieren.

Die Mutter versuchte wahrscheinliche Szenarien aus dem Kopf zu schlagen, dachte an ihre Tochter und ihren Mann. Diese beiden Personen waren der Grund, warum sie die Lebenslust während der Krankheit nicht verloren hatte. Zwar war ihre Familie knapp bei Kasse, seitdem die Rechnungen der Behandlung beglichen werden mussten aber sie hielten weiterhin zusammen. So war es auch selbstverständlich dass sie und ihr Mann Überstunden und Nachtschichten machten um ihrer Tochter den Schüleraustausch zu ermöglichen.

Die Mutter war nun fast zuhause. Sie nahm den Aufzug, in dem sie jedes Mal betete dass sie oben heil ankommen würde, und stieg im sechsten Stockwerk raus. Der Geruch von Katzenpisse, angebranntem Essen und Tabak stieg ihr in die Nase. Sie holte ein Taschentuch hervor, hielt sich diesen vor Mund und Nase und ging den endlos langen Flur entlang bis sie bei der Zweizimmerwohnung ankam. Als sie den Fuß in die Wohnung setzte war es genau halb zehn. In einer dreiviertel Stunde würde ihr Mann das letzte Paket ausliefern und nach Hause kommen. Sie würden noch schnell alles sauber machen, den Hund ausführen, dann das Essen warm machen und auf ihre Tochter warten. Die Mutter schob den Hausschlüssel ihres Mannes beiseite und legte die Einkaufstüte auf den klapprigen Campingtisch in der Küche. Sie packte ihre Einkäufe aus und legte diese in den Kühlschrank. Sie verließ die Küche, ging ins Wohnzimmer und riss dort das Fenster auf. Sie lehnte sich raus. Die frische Luft die ihr entgegenkam sog sie in großen Zügen auf so als wäre es das letzte Mal dass sie atmen würde.

Plötzlich spürte sie etwas am Bein. Sie zuckte zusammen und schaute auf dem Boden. Dort saß der Familienhund, klein und ungepflegt. Sie bückte und tätschelte ihm den Kopf. Er winselte kurz und rannte zu seinem leeren Napf. Die Mutter verstand sofort und ging abermals in die Küche. Der Hund war jetzt auch Vegetarier und wenn man ihm ein Stück Fleisch vorsetzte rührte er es nicht mal an. So füllte sie seinen Napf mit Trockenfutter auf Gemüsebasis. Das Haustelefon klingelte. Sie rannte zum Hörer in der Hoffnung es sei ihr Arzt. Sie hob ab; die Stimme ihres Mannes ertönte. Er wollte ihr nur Bescheid sagen, dass er die Wohnung noch schnell gesaugt hatte bevor er zur Arbeit gegangen war und dass es jetzt größtenteils sauber wäre sodass die Mutter das nicht mehr tun musste. Er sagte sie solle nicht am Telefon kleben und sehnsüchtig auf den Arztanruf warten. Stattdessen solle sie sich entspannen und ein Bad nehmen. Dann erwähnte er noch kurz dass er sie liebe und sich auf die Rückkehr seiner Tochter freue. Er legte auf.

Die Mutter war heilfroh darüber dass sie jetzt nicht noch sauber machen musste und beschloss dem Rat ihres Mannes zu befolgen. Sie schlurfte in ihren Pantoffeln ins Badezimmer und ließ sich ein Bad ein. Das Wasser floss langsam in die hellgrüne Porzellanwanne. Die hellgrüne Wanne passte farblich perfekt zu den Fliesen, die vom Boden bis an die Decke reichten. Die Fliesen waren fast alle orange wobei eine Zeile mit einem braun-grünem Muster verziert war. Sie hatte das Bad schon immer gehasst. Die typischen Farben die in den Siebzigern im Baustil verwendet wurden konnte sie nicht mehr sehen. Schon in ihrem Elternhaus waren die in ihren Augen hässlichen Erdtöne vorzufinden und überhaupt erinnerte sie dieses Bad viel zu sehr an ihre Eltern. Aus den jeweiligen Ereignissen die in ihrer Kindheit vorgefallen waren war sie schlau geworden und fest entschlossen bei der Erziehung ihrer eigenen Tochter keine Fehler zu machen, ein gutes Verhältnis zu ihr zu pflegen und das allerwichtigste: sie zu beschützen.

Die Mutter ging ins Schlafzimmer, zog ihre verschwitze Arbeitsuniform aus und holte den frisch gewaschenen Bademantel aus der Altkleidersammlung hinter der Schlafzimmertür hervor. Sie ging ins Wohnzimmer und suchte nach der Fernbedienung. Sie schaute überall nach doch sie fand sie nirgendswo. Dann ging sie zum Fernseher und drückte auf den POWER-Knopf. Jetzt musste sie wohl den Nachrichtensender schauen; eine Schlagersendung wäre ihr jetzt lieber gewesen. Mit Werbungmusik als Geräuschkulisse ging sie ins Bad. Die Wanne war bis zum Rand voll; hastig drehte die Mutter den Wasserhahn zu. Sie schüttete ein bisschen Badesalz hinein und wartete bis sich dieses komplett aufgelöst hatte. Dann stieg sie zaghaft hinein. Das Wasser war nicht zu kalt und nicht zu heiß. Es hatte ungefähr Körpertemperatur. Sie fühlte sich wie ein Embryo im Mutterleib als sie ihre Beine anzog und sich auf die Seite legte. Sie öffnete die Augen. In der Wanne hatte sie eine direkte Sicht auf den Fernseher. Sie mochte es das Radio oder den Fernseher anzulassen wenn sie alleine zuhause war, so fühlte sie sich weniger alleine. Die Mutter löste sich aus ihrer Embryo Position und legte sich vorsichtig und gerade in die Badewanne, sodass ihr Rücken sich an die Gussform anpasste. Angespannt versuchte sie ihren Körper so sachte wie möglich zu bewegen. Sie spürte wie die Wirbel an die glatte Porzellanwand gedrückt wurden. Es schmerzte nichts. Sie atmete aus. Ihren Kopf legte sie in den Nacken und wieder schloss sie die Augen. Sie war entspannt. Sie war sorgenfrei. Sie war glücklich. Sie schlief ein.

Der Vater hatte sein letztes Paket ausgeliefert und saß in dem Firmenwagen auf dem Weg nach Hause. Sein Lieblingslied lief gerade im Radio. Er kurbelte das Fenster runter, ließ eine Hand lässig aus dem Fenster hängen mit der Anderen hielt er das Lenkrad fest. Er hatte gestern Abend seine letzte Zigarette geraucht; jetzt war es halb zehn und er bemerkte schon die ersten Entzugserscheinungen. Hektisch und nervös fuhr er normalerweise nie, ganz im Gegenteil er war ein guter Autofahrer. Vielleicht lag es auch da dran, dass seine Tochter bald im Flugzeug zurück nach Deutschland saß. Ihm war dabei nicht wohl zumute, einerseits weil er selber Flugangst hatte andererseits weil letztens ein Flugzeug über Asien spurlos verschwunden war. Seine Frau hingegen machte sich in der Hinsicht absolut keine Gedanken, sie hatte ihn sogar überredet Überstunden zu machen um ihrer Tochter den Schulausflug zu ermöglichen. Schlussendlich hatte der Vater einfach aufgegeben und sie gehen lassen, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl.

Der Vater fuhr rechts an der Tanke ran, stieg aus und kaufte Zigaretten. Er hatte es noch nie länger als einen halben Tag ohne Kippe ausgehalten und heute war auch nicht der Tag dies zu ändern. Zufrieden lehnte er sich an den Kotflügel des deutschen Autos und zündete sich seelenruhig eine Kippe an. Er inhalierte tief und stieß den Rauch dann genüsslich aus. Er drehte seinen Kopf in Richtung Feuerball und schloss die Augen. Er spürte wie ein Wärmestrahl seinen Körper durchströmte; er bekam Gänsehaut von dem Gefühl. Heute wird ein guter Tag, dachte er sich. Er nahm einen letzten Zug, stieg ins Auto und fuhr nach Hause.

Als er in den Hausflur kam wurde ihm fast übel. Es stank nach Katzenpisse und angebranntem Essen. Er flüchtete schnell zur Haustür. Er tastete seine Jacke nach dem Hausschlüssel ab, aber fand diesen nicht. Er glaubte sich daran zu erinnern ihn auf dem Küchentisch liegengelassen zu haben. Also klingelte er und wartete. Niemand öffnete die Tür. War seine Frau nicht da? Er klingelte nochmal. Wieder nichts. Er hatte sie doch vorhin zuhause erreicht. Wo war sie? Er machte sich langsam Sorgen. Nahm sie doch ein Bad? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und rief auf das Festnetz an. Er ließ es klingeln, schließlich meldete sich der Anrufbeantworter. Er legte auf. Aufgebracht und besorgt überlegte er was er machen sollte. Seine Frau besaß kein Handy, also konnte er sie nicht erreichen wenn sie außer Haus war. Andererseits war sie vorhin noch da gewesen weil er sie auf dem Haustelefon erreicht hatte. Er beschloss bei der Hausverwalterin zu klingeln. Die ältere Dame brauchte ein wenig bis sie die Tür aufgeschlossen hatte. Mit verschlafener Miene schaute sie den besorgten Vater an. Er fragte ob sie vielleicht gesehen hatte als seine Frau die Wohnung verließ, so konnte er sich wenigstens vergewissern dass sie nicht da war. Sie verneinte und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Der Vater verzweifelt. Er musste sich zurückhalten nicht Sturmzuklingeln bei der Nachbarin und drückte nur einmal auf die Klingel. Jetzt war die ältere Dame wesentlich schneller an der Tür. Sie schrie ihn an von wegen sie sei alt, krank und müde und hätte den Hausschlüssel von der Familie gesucht also solle er sich mal zusammenreißen. Sie drückte ihm genervt ein Duplikat des Hausschlüssels in die Hand. Der Vater bedankte sich, ging zu seiner Wohnungstür und schloss diese auf.

Als er reinging, nahm er zuerst Geräusche wahr, die nur vom Fernseher stammen konnten, dann erblickte er den Familienhund, der auf dem Sofa schlummerte. Er ging vorsichtig durch die Wohnung und schaute in jeden Raum. Seine Frau lag noch immer in der Wanne. Er sagte ihren Namen. Sie reagierte nicht. Er ging etwas näher und sagte dabei ihren Namen mehrmals. Als er sich über sie beugte und ihr Gesicht berührte zuckte er zusammen. Sie riss plötzlich ihre Augen auf und sprang aus der Wanne. Das Wasser schwappte über. Der Vater starrte sie entgeistert an. Sie fragte warum er sich so angeschlichen hatte und ob er wolle dass sie einen Herzinfarkt kriege. Er schüttelte den Kopf und entschuldigte sich. Er sagte er habe seinen Hausschlüssel vergessen und geklingelt. Sie fluchte nur und legte sich wieder in die Badewanne.

Der Vater drehte sich um, nahm den Schlüssel vom Küchentisch, die Leine vom Haken und ging mit dem Hund spazieren, bevor seine Tochter nach Hause kommen würde. Er beschloss mit dem Hund durch den Park zu gehen. Die Bäume waren schon grün geworden, die Knospen öffneten sich langsam und der Rasen war frisch gemäht. Hin und wieder joggte jemand vorbei und jedes Mal dachte der Vater an die teuren und unbenutzten Sportschuhe die in seinem Kleiderschrank lagen. Er hatte sich diese zu seinem runden Geburtstag gekauft in der Hoffnung auch noch im Alter etwas sportlich aktiv zu sein. Aber seitdem seine Frau oft im Krankenhaus war und er und seine Tochter sie dann täglich besuchten hatte er keine Zeit gehabt. Er liebte seine Tochter sehr. Sie war der Mittelpunkt seines Lebens. Jetzt wo sie sechzehn war, wusste er nicht so genau was auf ihn zukommen würde. Er hatte etwas Bedenken was die Zukunft bringen mochte, wenn sie Jungs mit nach Hause brachte oder bis früh morgens in Diskos rumhing. All diese Gedanken versuchte er zur Seite zu schieben bevor er sich jetzt den Kopf darüber zerbrach. Er schaute auf die Uhr. Es war Punkt elf Uhr. Der Hund hatte sein Geschäft noch nicht verrichtet, sie wollten noch kochen und in einer Stunde würde seine Tochter heimkommen. Er forderte den Hund auf sich zu beeilen. Als dieser endlich fertig war, machten der Vater und der Familienhund sich auf den Rückweg.

Der Vater öffnete die Wohnungstür und ging hinein. Ohne sich zu umschauen steuerte er in Richtung Bad, da er seiner Frau Bescheid sagen wollte, dass er jetzt das Mittagessen zubereiten würde. In der Badezimmertür blieb er regungslos stehen. Die Mutter lag nackt und zusammengekauert auf den Fliesen und wimmerte. Der Vater streichelte sie. Er entschuldigte sich abermals dass er sie vorhin so erschreckt hatte und versprach, dass es nicht mehr vorkommen würde. Er setzte sich nun im Schneidersitz vor seine Frau und hob sie hoch. Er nahm sie in ihre Arme und schunkelte sie wie ein kleines Kind. Als er ihren Kopf auf seine Schulter legte zitterte sie zuerst, fing dann aber lautstark an zu weinen. Sie weinte und schluchzte so laut, dass der Hund sich unter dem Sofa verkroch.

Der Vater spürte dass seine Frau nicht wegen ihm so aufgebracht war. Hatte der Arzt angerufen und ihr eine schlechte Nachricht übermittelt? Was konnte geschehen sein dass seine Frau innerhalb zwanzig Minuten seiner Abwesenheit nicht mehr ansprechbar war? Er hielt seine Frau noch immer in den Armen und schunkelte sie. Er fühlte sich hilflos und verloren und wusste nicht was er mit der gebrochenen Frau in seinen Armen anfangen sollte. Wie oft fragte er sie was los sei oder forderte sie auf aufzustehen und sich ins Bett zu legen, weil auf dem Boden sitzen ganz und gar nicht gut für ihre Wirbelsäule war. Nach einer Weile sagte er zu seiner Frau „Was auch immer es ist, wir stehen das schon durch. Sag mir nur was los ist. Sag es mir. Ich halte es nicht mehr aus“, dann fing auch er an zu weinen. Die Mutter schnappte mehrmals nach Luft bis sie sagte „Dreh dich um“. Der Vater dreht sich um so gut der konnte. Sein Blick fiel aus dem Badezimmer direkt auf den Fernseher. Es dauerte einige Sekunden bis er verstand was er da sah.

Die gebrochenen Eltern lagen nun Arm in Arm auf dem kalten Fliesen Boden. Sie zitterten und weinten um ihr Leben. In den letzten Minuten waren beide hunderte Male innerlich gestorben; wieder und immer wieder.

An dem Tag schauten die Eltern nicht mehr auf den Bildschirm des Fernsehers, sie hörten nicht auf die Verschwörungstheorien der Reporter vor Ort, sie kochten keine Würstchen mit Kartoffelsalat und ließen das Telefon klingeln als der Arzt anrief. Jetzt war sowieso alles egal. Jetzt war sowieso alles vorbei.

Offiziell waren 150 Menschen tot.

Doch die Zahl war gerade auf 152 gestiegen.
 

 




Envoyé: 19:44 Sun, 26 March 2017 par: Kurt Alexandra