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Blum Lia

Myrna




Die Stadt lag im Dunkeln. Lediglich vereinzelte Fackeln und der halb volle Mond spendeten Licht. Das Poltern und Hufgetrappel einer Pferdekutsche hallte von den Fassaden wider.

Im Inneren der Kutsche wurden die Insassen hin und her geworfen.

Dennoch war es das Vornehmste, das Myrna je erlebt hatte. Sie war ein einfaches Dienstmädchen, angestellt in einer Familie ohne großen Rang mit einem überschaubaren Vermögen. Nie hatte Myrna geträumt einmal einen solchen Luxus zu genießen. Normalerweise schlief sie auf dem Fußboden in einem Zimmer, so groß wie eine Besenkammer. Ihren Tag verbrachte sie damit die Böden zu schrubben und Essen zu kochen.

Von draußen ertönte ein Peitschenschlag, die Kutsche bog um eine Ecke.

Erneut fragte sich Myrna, wo man sie hinbringen würde. Die Männer, die sie mitgenommen hatten, waren sehr wortkarg. Mehrmals hatte sie versucht Informationen aus ihnen herauszukriegen, doch ohne Erfolg. Ihre Fragerei brachte ihr nur böse Blicke ein. So versuchte sie es mit einer anderen Taktik.

„AAAHHH! Lasst mich frei! Hilfe!“, sie fing an mit den Armen um sich zu rudern, „das wird noch schwere Folgen mit sich ziehen.“

Doch sie verstummte schnell wieder als der Herr ihr gegenüber einen Dolch unter seinem Umhang hervorzog. Wenigstens schien der moppelige Mann neben ihr ein wenig verunsichert. Glänzende Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

Myrna gab es auf, irgendetwas von ihnen in Erfahrung zu bringen, und schwieg nun ebenfalls für den Rest des Weges. Sie begnügte sich damit den Mann neben ihr anzusehen. Bei dem der ihr gegenüber saß traute sie es sich nicht, der flößte ihr doch ein wenig Angst ein.

Moppelchen hatte einen eulenförmigen Kopf und keine Gesichtsbehaarung, noch nicht einmal Augenbrauen. Mit der Zungenspitze befeuchtete er jede gefühlte Minute die schmalen Lippen. Seine Glubschaugen schauten auf seine Knie, nachdem er bemerkt hatte, dass sie ihn anstarrte. Das konnte ihr sein Unbehagen jedoch nicht verbergen.

Endlich kam die Kutsche zum Stehen. Moppelchen stieg als erster aus, Myrna wollte ihm folgen, da packte der andere sie fest an den Schultern und zerrte sie heraus. Arschloch!

Sie befanden sich in einer schmalen Seitengasse, der Gestank nach Exkrementen war erdrückend. Vor ihnen ragte ein altes Gemäuer auf, die Tür wurde von einem Mann aufgehalten der in das gleiche Gewand gekleidet war, wie Myrnas Begleiter. „Emgar. Da seid ihr endlich“, rief er, seine Stimme hatte etwas orientalisches an sich. Der Dünnere antwortete: „Wir hatten so unsere Schwierigkeiten sie verschwinden zu lassen ohne Aufsehen zu erregen. Das weißt du doch, Samir.“ Erstmals schaute der Türsteher Myrna an, sein Blick war argwöhnisch. Nervös strich sie ihr Kleid glatt, es war schlechtgewebte Baumwolle. Mehr konnte sich ein Dienstmädchen nicht leisten.

Emgar und Moppelchen hakten sich links und rechts bei Myrna unter und schoben sie in das Gebäude. Samir nahm eine Laterne von einem Haken und führte sie eine schmale Treppe hinunter. Schließlich blieben sie vor einer verzierten Holztür stehen: „Hoffentlich habt ihr mit dem Mädchen mehr Glück“, sagte er, klopfte dreimal und ließ die drei in völliger Dunkelheit zurück. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür mit lautem Knarren und gewährte Einblick in einen großen Saal mit Vorhängen an den Wänden. Auf dem Boden waren hunderte Kerzen, in einem geheimnisvollen Muster, aufgestellt. In der Mitte des Pentagramms stand ein Altar auf dem sich ein versiegeltes Buch befand.

Drei Männer lösten sich aus dem Schatten und traten an die Ankömmlinge heran. Auch sie waren in lange dunkele Roben gehüllt. Der älteste von ihnen sprach als erster, seine Stimme war rau aber fest:„ Das ist sie also? Wie heißt du, Mädchen?“

Oh nein! Das konnten sie vergessen! Sie würde nicht antworten. Sie sagten ihr schließlich auch nicht wieso man sie hergebracht hatte. Stur reckte sie den Kopf und blickte ihn stumm an. Doch Emgar verstärkte seinen Griff und raunte:„ Er hat dich etwas gefragt.“

„Myrna, Herr“, sagte sie nachdem sie in Emgars kalten Augen gesehen hatte und deutete einen Knicks an. In ihren Blick setzte sie jedoch alle Verachtung die sie hatte. „Wieso bin ich hier?“

„Hahaha“, der Mann brach in Gelächter aus. „Eigensinnig ist sie. Das muss man ihr lassen.“

„Eigensinnig? Ich würde das eher anmaßend nennen, “ sagte ein Mann mit spitzen Gesichtszügen und krummer Nase, „ich halte es für keine gute Idee sie hergebracht zu haben.“

„Sie hat die Fähigkeiten, sie ist die Richtige“, beharrte der Älteste.

Nun meldete sich auch der letzte der Männer: „Woher wisst ihr überhaupt so sicher, dass ihr euch nicht versehen habt?"

Wieder einmal verfluchte Myrna es, so unvorsichtig gewesen zu sein. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihre Gabe - oder ihren Fluch, wie ihre Mutter es bezeichnete - verbergen können. Nie hatte sie sich etwas anmerken lassen, zu groß war ihre Angst, entdeckt und als Hexe verbrannt zu werden. Doch an jenem Abend war sie unvorsichtig gewesen. Man hatte sie entdeckt, doch zu ihrer Verwunderung hatte man sie nicht gefoltert, jedenfalls nicht viel, und auch nicht getötet. Stattdessen hatte man sie gezwungen, noch mehr von ihrem außergewöhnlichen Können vorzuführen. Das war ihr gar nicht leicht gefallen, wo sie doch niemals gelernt hatte ihre Gabe richtig anzuwenden. Und nun war sie hier. Sie hatte keine Ahnung wieso oder wer diese Männer waren.

„Sie ist mächtiger als alle anderen“, sagte Moppelchen. „Ich habe es mit eignen Augen gesehen. Sie muss es sein.“

„Aber, wenn sie es nicht ist. Sie darf das Buch nicht in die Hände bekommen. Noch nie war eine Frau...“ setzte die Krummnase an.

„Schweig!“, der Älteste war leicht erzürnt. „Lasst uns sehen ob sie es wirklich ist. Falls nicht, wird das Buch uns das schon zeigen. So wie bei den Jungen vor ihr.“

Die Krummnase gab nach, auch wenn man ihm seinen Zorn ansah. „Nun gut“, sagte er und stellte sich links, außerhalb des Pentagramms, auf.

Moppelchen und Emgar führten Myrna vor den Altar. „Sobald wir das letzte Wort gesagt haben öffnest du das Buch“, sagte Emgar. Moppelchen drückte ihre Schulter und sah sie mitleidig an. Dann nahm jeder seinen Platz rund um das Pentagramm ein.

Was geht hier vor? Myrna war verwirrt. Was hatte es mit diesem Buch auf sich? Ob sie den Männern gestehen sollte, dass sie nicht lesen konnte? Doch sie fand dazu war jetzt kein guter Augenblick, die Männer fingen an einen Text zu rezitieren. Die Worte klangen fremd in ihren Ohren, sie kannte diese Sprache nicht. Doch die Laute versetzten sie in einen hypnotisierten Zustand, sie erkannte einen Rhythmus und fühlte sich fast wohl. Sie wusste genau, wann das Ende kam. In einem Rausch von erregten Gefühlen schlug sie das Buch auf.

Für einen kleinen Moment war, als würde die Welt anhalten. Dann breitete sich in ihr ein so großer Schmerz aus, dass sie befürchtete sie würde sterben, so wie die armen Jungen, die vor ihr das Buch berührt hatten. Myrna wurde in die Luft gehoben und von einem grellen Licht eingehüllt, es ging so viel Kraft von ihr, oder von dem Buch - sie vermochte es nicht zu sagen - aus, dass sie für kurze Zeit die Besinnung verlor.

Als sie zu sich kam, stand sie wieder vor dem Altar, das Buch in den Händen. Die Kerzen waren erloschen und die Männer lagen leblos auf dem Boden. Myrna spürte, dass sie nicht tot waren, sie konnte ihren Herzschlag spüren. Sie war sich jeden Details in diesem Raum bewusst, ihr Geist reichte sogar bis etwas außerhalb der Gemäuer. Myrna blickte auf das Buch und spürte eine tiefe Verbindung. Obwohl, sie nie irgendeine Form von Schrift gelernt hatte, konnte sie die leuchtenden Zeichen verstehen.

Sie wusste nun, was ihre Aufgabe war.




Envoyé: 13:25 Mon, 30 March 2015 par: Blum Lia