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Rocco Caroline

3. Stock



Wir sitzen wieder an diesem Holztisch. Er sieht zu mir, beugt sich über den Tisch und nimmt meine Hand. Er redet auf mich ein, wie leid ihm alles tut. Er wollte nicht, er konnte doch nicht ahnen. Ich ziehe meine Hand weg. Die Luft ist dick geworden in der kleinen Küche. Seine Stimme klingt rauer, älter, die Worte bilden eine einzig, lange Sinuswelle in meinem Kopf. Zu Beginn noch ein tiefes und dumpfes Brummen, inzwischen wird es immer stärker. Mir ist heiß.

“Machst du bitte das Fenster auf?”

Meine Stimme bleibt im Raum hängen, schneidet die Luft fast unmerklich. Er hält inne, steht auf und öffnet das Fenster zum Balkon hin, die Vorhänge lässt er zu. Das Strassenlaternenlicht färbt das Zimmer einen dünnen Spalt breit orange. Die Hand legt er mir auf die Schulter. Ich muss etwas tun. Stehe auf, beide Arme auf den Holztisch gestützt. Mein Stuhl ächzt und schleift den Holzboden. Der Stuhl auf der anderen Seite ist leer. Wir sind beide blind gewesen.

Die Umarmung kommt plötzlich. Als ich sie das letzte Mal spürte, war ich noch ein kleines Kind. Ich hatte damals einen Tanzauftritt und meine Choreographie war fabelhaft. Ich wusste, dass es ihm wichtig war, dass ich präzise, nahezu perfekt tanzte. Aufgeregt kam er nach dem Auftritt in die Loge, in die eigentlich nur die Tänzer oder Sänger durften.

Er sagt, er braucht mich jetzt.

“Papa, gell, du kommst das nächste Mal wieder?”, fragte ich. Er strahlte mich an und meinte, er würde wieder kommen. Ich lachte und er nahm mich in den Arm.

Die gleiche Umarmung bewegt durch sich abweichende Gründe. Ich frage mich, wo der Unterschied zwischen beiden liegt. Er sagt, er würde, er könne mich nicht allein lassen. Nicht heute Abend. Tränen quellen aus den tiefliegenden Augen. Er schreit. Eine Ohrfeige. Er sinkt auf seinen Stuhl zurück und vergräbt das Gesicht in den Händen. Ich nicke und gehe in den Flur. Meine Nase blutet in letzter Zeit öfters.

Küche, Wohnzimmer, dann Flur, auf der linken Seite zwei Schlafzimmer, auf der rechten das Bad. Ich gehe ins Bad. Das Licht brennt in meinen Augen. Ich weigere mich zu blinzeln, ich möchte nicht mehr wegsehen. Dicke rote Tropfen landen auf den senfgelben Kacheln. Ich halte den Ärmel meines Pullovers ans Gesicht, langsam saugt er die Flüssigkeit auf. Toilettenpapier, natürlich, ich nehme die Rolle und halte sie mir unter die Nase. Ärger und Wut haben längst Platz gemacht für diesen verdammten Klotz im Hals. Ich kann nicht abmessen, wie lange er mir schon die Luft abschnürt. Ich setze mich auf den Badewannenrand.

Ein Krächzen schneidet die Stille. Leise Schritte bahnen sich den Flur entlang. Mein Vater bleibt an der Türschwelle stehen, hilflos sieht er zu mir herüber. Ein, zweimal setzt er an um etwas zu sagen. Nicht nur seine Stimme scheint gealtert zu sein, sein Gesicht ist es auch. Tiefe Falten haben sich hinein geschlichen, unter dem Kinn ein dünner Hautlappen. Seltsam geknickt steht er im Halbschatten des Flurs. Die Leuchtstoffröhre wirft ihr grelles Licht und unsere Schatten an die Flurwand. 


 




Envoyé: 11:31 Fri, 15 March 2019 par: Rocco Caroline