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Gira Tina

Denk zweimal



Es war einmal - Das klingt wie der Beginn eines Märchens. Doch das hier ist kein Märchen. Es ist kein Märchen: Dafür wäre der Charakter der Protagonisten nicht rein genug. Sie könnten nicht wie im Märchen durch ihre reine Unschuld das Mitleid der Leser erregen, wenn ihnen etwas zustieße. Nein, das hier ist kein Märchen. Aber wie auch immer…

Es war einmal ein junger Mann, der in seinem Leben schon so ziemlich alles gemacht hatte, was man nicht tun sollte. Der bei manchen Dingen Glück gehabt hatte, dabei mit dem Leben davon gekommen zu sein. Der gemeinsam mit seinen „Freunden“ auch schon einmal geklaut hatte. Der nie eine Frau ein zweites Mal besuchte. Der Typ Mensch, dem so gut wie niemand von vollem Herzen ein Happy End wünscht. Die komplette Fehlbesetzung für einen Märchenprotagonisten, müsste man ihn doch eigentlich als Bösewicht einordnen.

Doch er bereute es. Er bereute alles, was er gedacht, gesagt und getan hatte. Wenn er noch einmal die Wahl hätte, würde er es nie wieder tun. Aber er schaffte es nicht, damit aufzuhören. Vor fünf Jahren war er an die falschen Menschen geraten, hatte ihnen Sachen verraten, die er normalerweise nie jemandem erzählt hätte. Doch er hatte es getan und nun hatten sie ihn in der Hand. Und nun kam er nicht mehr von ihnen weg, spielte weiter eine Rolle, die er hasste. Und er wusste nicht, ob und wann er je wieder damit aufhören konnte.

Und es war einmal eine ebenso junge Frau, die im Grunde nicht in ein Märchen passte. Für die Rolle der bösen alten Hexe war sie nicht hässlich genug und für die Rolle der Protagonistin… Nun ja… Perfekt geeignet wäre sie als Anführerin der Schulclique in einem typischen High-School-Film. Etwas arrogant, überheblich… Eben der Typ Frau, bei dem man sich freut, wenn sie am Ende des Films den Freund ausgespannt bekommt.

Doch auch sie hatte ihre Geschichte, konnte erzählen, warum sie so geworden war, wie sie heute war. An ihrer alten Schule war sie gemobbt worden, eben weil sie zurückhaltend war und nicht sofort auf jedem herumhackte. Als sie schließlich die Schule wechselte, schwor sie sich, dass das nie wieder passieren durfte. Lieber wollte sie diejenige sein, die mobbte. Und auch wenn ihr jeder leidtat, den sie in ihrer Arroganz beleidigte, nahm sie lieber dieses schlechte Gewissen in Kauf, als noch einmal so etwas durchmachen zu müssen.

Wenn ich jetzt erzählen würde, dass diese beiden Menschen sich fanden, obwohl sie sich nicht gesucht hatten und etwas schafften, was nicht jedem gelang, bis ans Ende ihrer Leben gemeinsam glücklich waren: Was würdet ihr denken? Nun, wo ihr ihre Hintergrundgeschichte kennt, würdet ihr euch für sie freuen. Sie haben es ja schließlich verdient, glücklich zu werden, nach allem, was sie durchgemacht haben.

Aber was würdet ihr denken, wenn ihr ihre Vergangenheit nicht kennen würdet? Würdet ihr darüber nachdenken, dass auch die vermeintlichen Bösewichte ein Recht darauf haben könnten, glücklich zu werden? Oder würdet ihr verärgert die Augen zusammenkneifen und euch fragen, warum den Idioten denn bitte etwas passieren soll, das anderen nicht vergönnt ist?

Doch jeder Mensch hat das Recht auf ein Happy End in seinem Leben. Jeder einzelne Mensch, egal was er vielleicht getan oder nicht getan hat. Wir kennen nicht die Geschichte eines jeden Menschen, wissen nicht, was er vielleicht durchmachen musste, um dahin zu gelangen, wo er heute steht. Wir wissen nicht, ob jemand etwas bereut, jedoch nur nicht genug Mut hat, einzugestehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Jeder hat seine Geschichte. Und es lohnt sich, zweimal nachzudenken, ob man jemanden wirklich im Voraus ohne irgendwelche Hintergrundinformationen verurteilen will oder sich doch lieber erst seine Geschichte anhört.

 




Envoyé: 17:25 Sun, 28 June 2020 par: Gira Tina